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Das namenlose Mädchen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
416 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1593-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das namenlose Mädchen - Jacqueline Sheehan
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Was hast du gesehen?

An einer abgelegenen Straße in Maine wird ein fünfjähriges Mädchen gefunden. Ihre Kleidung ist mit Blut bespritzt, das nicht von ihr stammt, und niemand weiß, zu wem sie gehört. Als in einem Haus in der Nähe drei Leichen gefunden werden, vermuten die Ermittler darunter auch die Mutter - doch keiner der Toten war mit dem Kind verwandt. Dalia Lamont, die in einer Einrichtung für Pflegekinder arbeitet, nimmt sich des Mädchens an. Was hat es beobachtet, worüber es nicht sprechen kann?

Spannend und hochemotional - die verzweifelte Suche nach einer Mutter.



Jacqueline Sheehan ist Autorin zahlreicher New-York-Times-Bestseller. Außerdem arbeitet sie als Psychologin und leitet Schreibseminare. Sie lebt in der Nähe von Northampton in Massachusetts. Mehr zur Autorin unter www.jacquelinesheehan.com

3. Kapitel


Auf dem Parkplatz vor der Vermittlungsstelle für Pflegekinder fiel Delia wieder ein, dass sie ihre aktuellen Fälle nicht sorgfältig dokumentiert hatte und zum ersten Mal in ihrer beruflichen Laufbahn nicht so gut organisiert war wie gewohnt. Sie zog deshalb ihren Laptop heraus und tippte vor ihrem Treffen mit Ira wie wild darauf herum.

Sie hatte auch zu ihrem letzten Fall noch keine Notizen gemacht. Sie gab den einzelnen Fällen insgeheim Titel, über die Ira nur missbilligend die Stirn gerunzelt hätte, weil sie möglicherweise der Tragödie eines Kindes nicht gerecht wurden oder das Drama der Eltern verharmloste, die wegen Alkohol, Drogen, psychischer Erkrankungen oder einfach schlechten Charakters aus der Bahn geraten waren.

Sie gab die Titel ihrer Fälle niemals preis, behielt sie aber im Kopf. Manchmal fassten sie ein ganzes Leben zusammen, andere bezogen sich nur auf eine Befragung. »Transformator Joe« hatte sie den Fall eines Jungen genannt, der sich innerhalb von Sekunden von einem süßen Kerl zu einem Tyrannen wandeln konnte. »Lass mir die Decke« war der Titel für einen Fall, in dem ein Kind furchtbare Zeiten mit Hilfe einer zerschlissenen blauen Decke überstanden hatte, von der inzwischen nur noch ein Stück, nicht größer als ein Taschenbuch, übrig war. »Wir sind Atome, die sich immer wieder neu verbinden« war die Überschrift für den Fall einer Familie mit vier Kindern, die über drei Pflegefamilien verteilt waren, bis Delia sich dafür einsetzte, dass eine Familie alle vier bei sich aufnahm.

Diese Titel halfen ihr dabei, sich die wichtigsten Einzelheiten im Leben eines Menschen zu merken, genau wie bei Fotos in einem Album, die man mit einer Überschrift versah. Nur wenige Menschen besaßen heutzutage noch Fotoalben. Sie speicherten die Fotos auf ihren Smartphones oder in ihrer Cloud. Delia wusste nicht genau, was eine Cloud war, und es war ihr peinlich, danach zu fragen. Wenn man ein Foto oder den Unterbringungsort eines Kindes in die Cloud gab, konnte man es dann jemals wieder daraus löschen? Sie würde einen Praktikanten fragen.

Ihr letzter Praktikant hatte zu ihr gesagt: »Wie alt bist du? Du wirkst viel älter, als du aussiehst.« Der Kommentar bezog sich wohl auf ihre Wissenslücken hinsichtlich der Cloud-Technologie. Sie war zweiunddreißig und hoffte, dass es nicht an ihrem Aussehen lag, auch wenn sie sich manchmal um Jahrzehnte älter fühlte.

Als Delia ihrem Chef Ira verkündet hatte, dass sie kündigen würde, hatte er das nicht gut aufgenommen. »Es ist wegen Juniper, oder? Du kannst dich nicht immer um sie kümmern.«

Doch in Wirklichkeit ging es bei der Kündigung um Delia selbst und darum, dass sie in ein neues Leben ohne Sozialdienst starten wollte.

Ira leitete die Einrichtung für die Vermittlung von Pflegekindern im südlichen Maine.

Und er hatte sich hochgearbeitet. Er war selbst ein Pflegekind gewesen, das man mit acht Jahren mit Verbrennungen aus dem Shriners Hospital in Boston entlassen hatte. Delia hatte ihn nie zu den Misshandlungen befragt, die ihm zugefügt worden waren; die Brandnarben an seinen Armen verrieten genug über das furchtbare Trauma, das er erlebt haben musste. Er war einer der Überlebenden dieses Systems und hatte nur zwei Pflegefamilien durchlaufen müssen, bevor er zu der Familie kam, die ihn adoptierte. Seine leibliche Mutter war an einer Überdosis Drogen gestorben, sein leiblicher Vater saß im Gefängnis und hatte die beste Entscheidung für seinen Sohn getroffen, indem er auf sämtliche Elternrechte verzichtet hatte. Ira war zu jemandem geworden, dem nichts entging, der jedes Zucken bemerkte, denn als Kind hatte er gelernt, wachsam zu sein und auf die Stimmungsschwankungen seiner Eltern zu achten, herauszufinden, ob deren Laune kippte.

»Es wird mir einfach zu viel«, hatte Delia zu ihm gesagt und seinen Kommentar über Juniper ignoriert.

Sie schrieb ihre Notizen fertig und speicherte sie ab, dann klappte sie ihren Laptop zu und betrat das Gebäude. Selbst jetzt, als sie alleine durch den Flur lief, spürte sie die Angst und die Wut der Kinder, die durch das System der Pflegefamilienzuweisung geschleust wurden. Es waren die Gefühle von Kindern, die von jenen Menschen misshandelt wurden, die sie liebten.

Delia befolgte alles, was sie im Laufe der Jahre bei Weiterbildungskursen gelernt hatte. Ihr letzter Workshop hatte das Thema »Klare Grenzen setzen« gehabt. Sie hatte Schlüsselworte gelernt, die man benutzte, damit einen das Leid der jungen Klienten nicht traumatisierte, und Informationen zum Thema Zuschauer-Trauma erhalten.

Sie betrieb Sport, hatte Freunde, nahm sich Auszeiten, wo es ging, machte Urlaub und hörte auf ihren Fahrten von der und zur Arbeit Musik statt Nachrichten. Trotzdem grub sich jedes neue Kind in Delias Innerstes, so wie Rost Autolack zerfraß. Das alles zusammen brachte sie irgendwann an ihre persönliche Schmerzgrenze.

Delia sah Kollegen, die diese Grenze überschritten hatten. Und sie wollte nicht zu dem verbitterten, fatalistischen Griesgram werden, in den sich andere verwandelt hatten.

Ab heute waren es noch dreißig Tage. Genügend Zeit, um ihre Projekte vernünftig abzuschließen, sie zu übergeben und sich aus den schweren Kämpfen zurückzuziehen. Doch nach Iras Anruf war Delia misstrauisch, was sie erwartete. Ihr Kinn fing zu kribbeln an, wie immer, wenn ein Fall besonders schwerwiegend war, wenn es um Kindesverwahrlosung ging. Oder noch schlimmer. Es war einfach da, und sie hatte gelernt, darauf zu hören. Es fühlte sich an, als krabbelten kleine Kreaturen ihren Kiefer entlang.

Sie rieb sich das Kinn und versuchte, dieses ihr vertraute Kribbeln zu verdrängen. Sie blieb lange vor ihrem Schreibtisch stehen, auf dem schon die neue Akte auf sie wartete. Ira hatte sie dort abgelegt und bereits ihren Namen vorne draufgeschrieben: Delia Lamont.

Nachdem sie die Akte gelesen hatte, schloss sie sie wieder. Das Kind war fünf Jahre alt und aus dem Krankenhaus entlassen worden. Man hatte Spuren von Blut an ihm gefunden, das aber nicht sein eigenes war. Der Kinderarzt hatte eine leichte Unterernährung attestiert, Schmutz unter den Fingernägeln und infizierte Mückenstiche entdeckt.

Es bestand Grund zu der Annahme, dass das Mädchen in einem Haus in der Bakersfield Road wohnte, das zu einem Tatort erklärt worden war. Der diensthabende Sozialarbeiter hatte es nicht betreten und nachsehen dürfen, ob dort irgendwas zu finden war, das eine Bedeutung für das Mädchen haben könnte, eine Decke oder ein Kuscheltier vielleicht.

Im Haus waren drei Personen gefunden worden, die man aus nächster Nähe erschossen hatte. Eine Frau und zwei Männer. Die Frau konnte anhand ihres Führerscheins als die sechsundzwanzigjährige Emma Gilbert aus Florida identifiziert werden. Die beiden Männer trugen keine Ausweise bei sich, als hätte man sie ihnen abgenommen oder als hätten sie erst gar keine gehabt. Für das Haus waren eine Kaution und die Miete in Höhe von 4600 Dollar für August und September einen Monat im Voraus an eine örtliche Agentur überwiesen worden. Auf dem Mietvertrag stand der Name Russ Tiggs. Nach Angaben der Polizei musste es sich um einen falschen Namen handeln, denn es gab niemanden mit dem Namen Russ Tiggs. Und über das Kind lagen auch keine Informationen vor.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Kind ohne persönliche Akte zur Vermittlungsstelle für Pflegekinder kam. Manchmal rutschten Kinder jahrelang durch die behördliche Überwachung, wurden nie zum Arzt oder Zahnarzt gebracht und besuchten weder Kinderkrippe noch Kindergarten.

Ein Paar mittleren Alters hatte das Mädchen gefunden und war bei ihm geblieben, bis die Polizei kam. Es hatte darum gebeten, über den Zustand des Kindes informiert zu werden. Der erste Polizist vor Ort hatte das Mädchen nach seinem Namen gefragt, woraufhin es, ohne zu zögern, geantwortet hatte: »Hayley.« Doch als man es nach seinem Nachnamen fragte, zuckte es nur mit den Schultern.

***

Delia war froh, dass es Iras und nicht ihre Aufgabe war, die Eltern des Kindes ausfindig zu machen. Obwohl die Medien die Einrichtungen zur Vermittlung von Pflegekindern in der Regel sehr negativ darstellten, durften sie erst dann aktiv werden, wenn Kinder in einem Umfeld lebten, das einem regelrechten Kriegsgebiet gleichkam. Und manchmal waren Kinder auch völlig sich selbst überlassen.

Niemand wollte das Kind sein, das man in eine Pflegefamilie geschickt hatte, denn das hieß, dass irgendwas Schreckliches passiert war, dass sich die Eltern nicht genug gekümmert hatten, oft nicht einmal um sich selbst. Wenn die Kinder in der Schule mitbekamen, dass man in einer Pflegefamilie lebte, war man gebrandmarkt, als wäre völlig klar, dass man keine Liebe verdiente.

Delia blieb vor Iras Tür stehen, atmete ein paarmal tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Doch das funktionierte nicht. Im Büro schob sie Ira die Akte über den Schreibtisch zu und sagte dann: »Gab es wirklich keine Familienangehörigen, bei denen man das Kind hätte unterbringen können?« Sie warf einen Blick auf die Akte, auf deren Deckblatt ein Name stand. Hayley.

»Was geht hier vor, warum hast du ausgerechnet mich angerufen? Das Mädchen braucht vermutlich jemanden, der sie über eine längere Zeit aufnimmt.«

»Weil du die Beste bist. Glaubst du nicht, dass wir diesem Mädchen nicht weniger als das geben sollten?«

Sie konnte Ira nie etwas ausschlagen. An gewisse Umstände in ihrem Job würde Delia sich nie gewöhnen. Da war zum einen dieser Geruch der...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2019
Übersetzer Christiane Winkler
Sprache deutsch
Original-Titel The Tiger In The House
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beim Leben meiner Tochter • big little lies • Bussi • Charlotte Link • Das andere Kind • Das Mädchen mit den blauen Augen • Das verlorene Kind • Die Betrogene • Die Entscheidung • Elin Hilderbrand • Familiendrama • Fremde Tochter • Liane Moriarty • Link • Michel Bussi • Spannung • Tausend kleine Lügen
ISBN-10 3-8412-1593-9 / 3841215939
ISBN-13 978-3-8412-1593-2 / 9783841215932
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