Die jüdische Souffleuse (eBook)
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31868-5 (ISBN)
Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, lebte ab 1964 in Italien, später in Deutschland. Sie studierte Schauspiel in Berlin und New York, spielte in Film- und Fernsehproduktionen und inszeniert seit den Neunzigerjahren an Schauspiel- und Opernhäusern. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Bundesfilmpreis, den Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, den Silbernen Bären für schauspielerische Leistungen und den Deutschen Hörbuchpreis. 2012 erschien ihr Bestseller »Titos Brille«, 2014 folgte »Doitscha - Eine jüdische Mutter packt aus«, 2017 »Das Meer und ich waren im besten Alter«, 2018 »Die jüdische Souffleuse« und 2023 »Besser allein als in schlechter Gesellschaft«. Adriana Altaras lebt in Berlin.
Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, lebte ab 1964 in Italien, später in Deutschland. Sie studierte Schauspiel in Berlin und New York, spielte in Film- und Fernsehproduktionen und inszeniert seit den Neunzigerjahren an Schauspiel- und Opernhäusern. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Bundesfilmpreis, den Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, den Silbernen Bären für schauspielerische Leistungen und den Deutschen Hörbuchpreis. 2012 erschien ihr Bestseller »Titos Brille«, 2014 folgte »Doitscha – Eine jüdische Mutter packt aus«, 2017 »Das Meer und ich waren im besten Alter«, 2018 »Die jüdische Souffleuse« und 2023 »Besser allein als in schlechter Gesellschaft«. Adriana Altaras lebt in Berlin.
*
Ich habe schlecht geschlafen. Zwar war das Fenster die ganze Nacht offen, aber es bleibt stickig und schwül. Abends habe ich es mir notdürftig gemütlich gemacht, Musik und Kerzen, nur noch sechs Wochen, nur noch sechs Wochen, dann darfst du wieder nach Hause, habe ich als Mantra vor mich hin gemurmelt und dabei aus dem Fenster auf die Kfz-Werkstatt und den Aldi-Parkplatz geschaut.
Ich liebe meinen Beruf. Angefangen habe ich als Schauspielerin, dann wurde ich Theaterregisseurin, später kam die Oper dazu. Mein Vater sagte immer: »Alle guten Nutten werden irgendwann einmal Puffmütter.« Nun ja, sein spezieller Humor … Heute würde ihn dafür die Frauenbeauftragte zum Frühstück verspeisen.
Ich liebe es, Opern zu inszenieren. Es gibt nichts Schöneres als Musik. Die Oper ist das opulenteste Fach im Theater, eine Art Königsklasse. Aber es ist schon eine echte Prüfung, sonntagabends in einer mittelgroßen deutschen Stadt vor Anker gehen zu müssen. Leere. Einöde. Die Innenstadt: ein Konzentrat des Nachkriegsdeutschlands. Nur ein paar Heimatlose wie ich irren vom Bahnhof in die Fußgängerzone. Wenn man Glück hat, hat der Chinese geöffnet, und man kann sein Heimweh in Süß-Sauer-Soße ertränken.
Ich verstehe nicht, dass den Theatern Folgendes nicht klar ist: Wenn sie ihre Gastregisseure angenehm unterbrächten, wären diese glücklicher, würden bessere Leistungen vollbringen, die Produktionen bekämen durchschlagendes Format, das Publikum wäre begeistert, alle Vorstellungen wären ausverkauft, die Theater hätten mehr Einnahmen, ihre Bilanzen würden auch die kulturfeindlichsten Senatoren überzeugen, die viel beschworene Theaterkrise wäre ein für alle Mal vom Tisch. Stattdessen stellen sie einem die trostlosesten Unterkünfte zur Verfügung. Man sei doch sowieso die meiste Zeit im Theater.
Mein Buddha steht neben meiner Zahnbürste, er wird es schon richten, keine Zeit mehr für Larmoyanz. Theater ist zu vierzig Prozent Talent, der Rest sind Disziplin, Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen – die drei großen »Ds« des deutschen Theaters.
Diesmal hat man mich für Die Entführung aus dem Serail engagiert. Alle, denen ich in den letzten Wochen davon erzählt habe, haben verzückt gelächelt. Ach! Mozart! Ach! Die Entführung! Das Schönste auf Erden. Es ist mein erster Mozart, und noch hat keine Ekstase von mir Besitz ergriffen.
Die Handlung geht ungefähr so: Wir befinden uns mitten im 16. Jahrhundert. Die Spanierin Konstanze wird mitsamt ihrer englischen Zofe Blondchen und deren Freund, dem Diener Pedrillo, von Seeräubern entführt, von ihrem Verlobten, dem Edelmann Belmonte, getrennt und auf dem Sklavenmarkt verkauft. Zum Glück kauft sie der orientalische Herrscher Bassa Selim, ein gebürtiger Spanier und Christ, jetzt Muslim, und bringt sie in sein Serail, in dem er einen Harem hält. Das nenne ich mal ein konsequent globalisiertes Personal!
Dort werden sie vom perfiden Osmin bewacht – einem Diener Bassa Selims. Osmin verliebt sich in die Zofe Blondchen und Bassa Selim verliebt sich in Konstanze. Als gäbe es vor Ort, in ihrem Harem, keine anderen Frauen.
Endlich erfährt Belmonte durch einen Brief seines Dieners Pedrillo, wo die Entführten stecken, kommt angesegelt und ist fest entschlossen, sie zu befreien.
Zehn Uhr, Konzeptionsprobe im Probensaal A, drei Stockwerke unter Tage. Draußen sind es mittlerweile 27, im Keller 8 Grad, die Klimaanlage lässt sich nicht regulieren. Ich stelle mein Konzept in Schal und Mütze vor. Siebzig Augenpaare schauen mich an: Sänger und Sängerinnen, Dramaturgie, Regieassistenz, Schneiderei, Beleuchtung, Bühnentechnik, Requisite, Souffleuse, Ankleiderinnen. Ich hoffe, keinen Rest Joghurt an der Lippe zu haben.
Die Gewerke wirken müde, hängen schlaff auf ihren Stühlen, die Zeichnungen mit den Figurinen der einzelnen Rollen schief an der Wand. Ich rede um mein Leben. Vom Chor kein Lächeln, keine Reaktion, kein Lebenszeichen – ich finde, es ist eine beachtliche Leistung, so lange auszuhalten, ohne zu atmen.
Ich habe gelernt, mich davon nicht verunsichern zu lassen, atme und lächele für sie alle mit, frage mich gleichzeitig, warum ich noch gleich diesen Beruf ausüben wollte?
Die Solisten in der ersten Reihe nicken immerhin.
Meistens ist es so: Die große Blondine ist der Sopran, die rassige Dunkle der Mezzo, die Koreanerin hat die Hosenrolle, der kleine Koreaner ist Tenor, der Kräftige, Schläfrige der Bass, und der Einzige, der flirtet, ist der Bariton.
In der Entführung aus dem Serail gibt es keine Hosenrolle, keinen Mezzo und auch keinen Bariton, aber alle nicken sie brav. Erst im Laufe der nächsten Tage werde ich erfahren, ob irgendwer meinen Ausführungen annähernd folgen konnte.
Gott sei Dank bin ich nicht ganz alleine in der Fremde. Bühne und Kostüme sind die Gewerke, die ich selbst auswählen und mitbringen durfte. Darum sind Nora und Elio dabei. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft, gehen gemeinsam unter oder steigen in den kreativen Götterhimmel auf. Über die Jahre sind wir schon in vielen Opernhäusern zusammengekommen, wir haben uns im Schlafanzug gesehen, betrunken oder verweint.
Elio ist aus Bordeaux, feinsinnig, ein begnadeter Bühnenbildner und daher sehr gefragt. Nora, Russin, geistreich, ebenfalls schwer begabt, eher der Typ Zarentochter. Die Kostümabteilung stöhnt unter ihren Ansprüchen.
Nach meinen Ausführungen haben Nora und Elio das Wort. Sie erklären, warum wir uns die Bühne und Kostüme so und nicht anders vorstellen. Die Solisten aber wollen gut aussehen, und die Bühne soll sich bitte sehr leise drehen. Wir nicken. Natürlich, natürlich …
In der Pause bleibe ich stoisch im Probenraum, obwohl ich meinen deutschen Pass für einen Espresso hergäbe, und plaudere mit den Damen und Herren des Chores. Mein Namensgedächtnis ist eine Katastrophe, aber ich lege mich ins Zeug, dem besten Tipp folgend, den mein Freund Uwe, seines Zeichens erfolgreicher Opernregisseur, mir je gegeben hat: Lern die Namen der Chormitglieder als Erstes!
Also frage ich Vessela und Borjana, Wilislawa, Nasko, Vesko und Jurij, was sie von Mozart halten und woher sie kommen. An diesem Haus stammen die meisten aus Moldawien, Mazedonien oder Albanien, Länder, die noch bis vor wenigen Jahren keine Autonomie besaßen und auf den Namen »Balkan« hören. Also spreche ich beherzt Serbokroatisch, wenn sie mein Deutsch nicht verstehen. Das Serbokroatische hat mit dem Rumänischen, also Moldawischen, genauso wenig zu tun wie das Deutsche, aber ich will ihnen zeigen, dass auch ich von »woanders« komme und »Marschall Tito« praktisch unser aller Patenonkel war. Vielleicht bleiben Dubrovka, Almerija, Ninoslava, Jossip, Ivica und Pjotr mir gegenüber deshalb so höflich. Ich habe den »Ostblock-Bonus«.
Nach der Pause weiß ich bereits, wer aus welchem Dorf kommt, wer Würste einmacht oder im Keller Sliwowitz brennt. »In meinem letzten Opernhaus kam der Chor größtenteils aus der Ukraine«, sage ich, »hier also aus Bulgarien. Hat einer von euch das restliche Dorf nachgeholt?« Mein Scherz kommt mäßig an, also wende ich mich den Koreanern zu.
Es gibt an jedem Opernhaus eine mehr oder weniger große Gruppe von Koreanern. Ich werde nie begreifen, wieso diese Menschen, auf der anderen Seite der Erde sozialisiert, meinen Humor verstehen. Ich mache einen Witz, in ihren Gesichtern keine Regung. Später bei den Proben jedoch werden sie jede Pointe, die ich ihnen erklärt habe, jede auch nur mögliche komische Wendung punktgenau erwischen. Korea – Land der getarnten Witzbolde!
Die Pause ist fast zu Ende, als eine Frau auf mich zukommt. »Ich bin die Souffleuse«, sagt sie leise nuschelnd, »ich heiße Susanne.« Wie kann ein Mensch mit einer kaum verständlichen Aussprache Souffleuse sein?, denke ich.
Sie muss um die sechzig sein – ihre blonden Locken gehen stellenweise in Grau über. Sie ist sehr gepflegt, auf ihrer hellen Haut tanzen Sommersprossen, ihre blassen grauen Augen schauen mich forschend an, sie war mal schön, denke ich, jetzt ist sie zu mager, jedenfalls für meinen Geschmack. Sie spürt meinen Blick, also sage ich schnell: »Freut mich, Susanne!« Sie sagt: »Mich auch!« Und dann lächelt sie gewinnend, um im nächsten Moment die Lippen aufeinanderzupressen und meine Hand mit erstaunlicher Kraft festzuhalten. »Ich müsste dann jetzt weitermachen.« Sie flüstert: »Natürlich«, lässt aber meine Hand nicht los. »Gleich ist der Chor zurück, und ich würde gerne eine kleine Szene anlegen, jetzt wo schon mal alle da sind, lernen wir uns direkt ein bisschen kennen.« – »Gute Idee!«, sagt sie und lässt meine Hand noch immer nicht los, schaut mich irgendwie traurig an. Ich sage: »Die Hand, Susanne, die Hand, die bräuchte ich dann jetzt …« – »Entschuldigung, Entschuldigung!«, murmelt sie, wird rot und lässt endlich los.
»Es ist doch erstaunlich, welche Leute im Theater Unterschlupf finden«, flüstert mir Nora zu. Ich strecke den Rücken durch und wende mich lächelnd wieder der Probe zu.
Der Chor hat sich derweil auf der gesamten Probebühne verteilt und gemütlich niedergelassen. Ich bitte alle aufzustehen, was sie sehr ungern tun, aber genau darum geht es: Ich muss meine Autorität gleich zu Beginn beweisen, sonst kann ich die nächsten Wochen komplett vergessen.
Sie alle haben Carmen, Maskenball und Barbier schon mindestens vier Mal gesungen, von der Entführung ganz zu schweigen. Sie kennen das Repertoire...
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2018 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Adriana Altaras • Doitscha • Familie • Humor • Judentum • Schauspielerin • Shoah • Spurensuche • Theater • Titos Brille • un-orthodox |
ISBN-10 | 3-462-31868-3 / 3462318683 |
ISBN-13 | 978-3-462-31868-5 / 9783462318685 |
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