Barbarentage (eBook)
566 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75741-3 (ISBN)
Vor fünfzig Jahren verfällt William Finnegan dem Surfen. Damals verschafft es ihm Respekt, dann jagt es ihn raus in die Welt - Samoa, Indonesien, Australien, Südafrika -, als Familienvater mit Job beim New Yorker dient es der Flucht vor dem Alltag ... Barbarentage erzählt die Geschichte dieser lebenslangen Leidenschaft, sie handelt vom Fernweh, von wahren Abenteuern und den Versuchen, trotz allem ein Träumer zu bleiben. Ein Buch wie das Meer, atemberaubend schön.
<p>William Finnegan, geboren 1952, arbeitet seit 1987 als Journalist für den New Yorker. Er schrieb vielbeachtete Reportagen über den Bürgerkrieg im Sudan, das Apartheidsregime in Südafrika und Neonazis in Kalifornien und arbeitete als Kriegsreporter. Finnegan surft seit seinem elften Lebensjahr, mit <em>Barbarentage</em> gewann er 2016 den Pulitzer-Preis in der Kategorie »Autobiografie«.</p>
William Finnegan, geboren 1952, arbeitet seit 1987 als Journalist für den New Yorker. Er schrieb vielbeachtete Reportagen über den Bürgerkrieg im Sudan, das Apartheidsregime in Südafrika und Neonazis in Kalifornien und arbeitete als Kriegsreporter. Finnegan surft seit seinem elften Lebensjahr, mit Barbarentage gewann er 2016 den Pulitzer-Preis in der Kategorie »Autobiografie«. Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, studierte Anglistik, Komparatistik und Theaterwissenschaft in Aachen, Köln und Birmingham (England) sowie Literarisches Übersetzen aus dem Englischen in München. Sie arbeitete zunächst als Lektorin und Projektmanagerin, seit 2003 ist sie freie Übersetzerin und Lehrbeauftragte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
1
AM DIAMOND HEAD
Honolulu, 1966-1967
Eigentlich hatte ich mich nie für ein behütetes Kind gehalten. Aber die Kaimuki Intermediate School war ein Schock für mich. Wir waren gerade erst nach Honolulu gezogen, ich ging in die achte Klasse, und meine neuen Schulkameraden waren größtenteils »Junkies, Klebstoffschnüffler und Gangster« – so schrieb ich das zumindest einem Freund in Los Angeles. Es stimmte natürlich nicht. Es stimmte aber durchaus, dass die haole (die Weißen, zu denen ich gehörte) an der Kaimuki eine kleine, unbeliebte Minderheit bildeten. Vor allem die »Eingeborenen«, wie ich sie nannte, konnten uns anscheinend überhaupt nicht leiden. Das war fatal, denn viele Hawaiianer waren erschreckend groß und schwer für ihr Alter, und es hieß, dass sie keine Prügelei ausließen. Die größte ethnische Gruppe an der Schule stellten die »Asiaten« – auch dieser Ausdruck stammte von mir. In den ersten paar Wochen konnte ich nicht zwischen Japanern, Chinesen und Koreanern unterscheiden – für mich waren das alles Asiaten. Die anderen wichtigen Volksgruppen, die Filipinos, die Samoaner oder die Portugiesen (die nicht als haole galten), fielen mir gar nicht erst auf, ganz zu schweigen von den vielen Schülern ethnisch gemischter Herkunft. Wahrscheinlich hielt ich sogar den Riesenkerl für einen Hawaiianer, mit dem ich Werken hatte und der vom ersten Moment an ein sadistisches Interesse an mir entwickelte.
Er hatte immer glänzende schwarze Schuhe mit langen, scharfen Spitzen an, enge Hosen und kunterbunte Blumenhemden. Das krause Haar trug er in einer Schmalztolle, und er sah aus, als würde er sich schon von Geburt an rasieren. Er sprach so gut wie nie, und wenn doch, dann irgendein Pidgin, das ich nicht verstand. Ein jugendlicher Ganove, der offenbar mehrfach sitzengeblieben war und sich nur noch die Zeit vertrieb, bis er endlich von der Schule abgehen konnte. Er hieß Freitas – einen Vornamen bekam ich nie zu hören –, schien aber mit dem Freitas-Clan, einer Großfamilie, die die Kaimuki Intermediate mit zahlreichen ungestümen Söhnen versorgte, nichts weiter zu tun zu haben. Dieser spitz beschuhte Freitas musterte mich ein paar Tage lang unverhohlen, was mich zunehmend verunsicherte, dann fing er an, mit kleineren Attacken meine Selbstbeherrschung ins Wanken zu bringen, stieß mich beispielsweise leicht am Ellbogen, während ich gerade konzentriert ein Brett für meine halbfertige Schuhputzkiste zusägte.
Ich war zu verängstigt, um etwas zu sagen, und er sagte nie ein Wort zu mir. Das gehörte wohl zum Spaß dazu. Schließlich verfiel er auf einen primitiven, aber durchaus genialen Zeitvertreib für die Phasen, die wir im Klassenzimmer der Werkstatt auf unseren Plätzen verbrachten. Er setzte sich dann hinter mich, und jedes Mal, wenn der Lehrer uns den Rücken zudrehte, schlug er mir mit einem Kantholz auf den Kopf. Donk … donk … donk – ein hübscher, regelmäßiger Rhythmus, mit Pausen zwischen den Schlägen, die immer genau so lang bemessen waren, dass ich kurz Hoffnung schöpfte, es würde kein weiterer folgen. Ich konnte nicht begreifen, warum der Lehrer dieses ständige, unerlaubte, durchdringende Klopfen nicht hörte. Es war schließlich laut genug, um die Aufmerksamkeit unserer Klassenkameraden zu erregen, die dieses kleine Freitas-Ritual offenbar faszinierend fanden. In meinem Kopf dröhnte jeder Schlag als markerschütternder Knall. Freitas verwendete ein ziemlich langes Kantholz, mindestens anderthalb Meter, und er schlug nie zu fest damit, so dass er nach Herzenslust auf mir herumtrommeln konnte, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, und das aus einer gewissermaßen vergeistigten, fast schon meditativen Distanz, von der ich vermute, dass sie die ganze Darbietung noch sehr viel fesselnder machte.
Ob ich wohl auch so passiv geblieben wäre wie meine Klassenkameraden, wenn ein anderer Junge die Zielscheibe gewesen wäre? Wahrscheinlich. Der Lehrer war ganz in seiner eigenen Welt und interessierte sich nur für seine Tischkreissägen. Ich unternahm nichts zu meiner Verteidigung. Obwohl ich irgendwann begriffen hatte, dass Freitas kein Hawaiianer war, glaubte ich wohl, ich müsse diese Misshandlungen über mich ergehen lassen. Schließlich war ich nur ein magerer haole und hatte keine Freunde.
Später kam ich zu dem Schluss, dass meine Eltern mich aufgrund einer Fehleinschätzung auf die Kaimuki Intermediate geschickt haben mussten. Wir schrieben das Jahr 1966, und das staatliche Schulsystem von Kalifornien zählte zu den besten im ganzen Land, vor allem in Mittelschichts-Vororten wie dem, in dem wir gewohnt hatten. Die Eltern, die wir kannten, wären gar nicht auf die Idee gekommen, ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken. Mit den staatlichen Schulen auf Hawaii sah es anders aus: Sie waren verarmt, steckten tief im Sumpf der Traditionen aus Kolonialherrschafts-, Plantagenbesitzer- und Missionarszeiten und lagen vom Niveau her meilenweit unter dem amerikanischen Durchschnitt.
An der Grundschule, auf die meine jüngeren Geschwister gingen, merkte man davon allerdings nichts. (Kevin war neun, Colleen sieben, der dreijährige Michael blieb in diesen Vor-Vorschultagen noch vom Bildungssystem verschont.) Wir hatten ein Haus am Rand des vermögenden Viertels Kahala angemietet, und die Kahala Elementary School war eine gut subventionierte Oase fortschrittlicher Pädagogik. Wenn man davon absah, dass die Kinder barfuß in die Schule kommen durften – ein erstaunliches Beispiel tropischer Toleranz, wie wir fanden –, hätte die Kahala Elementary jederzeit auch in einem vornehmen Bezirk von Santa Monica liegen können. Bezeichnenderweise gab es in Kahala aber keine Junior Highschool. Alle Eltern aus der Gegend, die es sich nur irgendwie leisten konnten, schickten ihre Kinder auf die weiterführenden Privatschulen, die bereits für die Bildung ganzer Generationen der mittelständischen und reichen Einwohner von Honolulu (sowie großer Teile des restlichen Hawaii) gesorgt hatten.
Von alldem wussten meine Eltern nichts, und so schickten sie mich auf die nächstgelegene Junior Highschool im Arbeiterviertel Kaimuki, gleich hinter dem Krater des Diamond Head, wo sie mich ganz mit meinen Achtklässlerpflichten beschäftigt wähnten, während ich mich praktisch ununterbrochen von Schultyrannen, Einsamkeit und Prügeleien drangsaliert sah und große Mühe hatte, mich nach einem abgeschotteten, kalifornischen Vorortleben unreflektierten Weißseins plötzlich in einer von Rassenproblemen geprägten Welt zurechtzufinden. Selbst die einzelnen Schulfächer schienen mir nach Rassen geordnet. Immerhin wurden die Schüler für die theoretischen Fächer aufgrund ihrer Testergebnisse in Gruppen eingeteilt, die gemeinsam von Lehrer zu Lehrer wechselten. Ich kam in eine der besten Gruppen, in der außer mir fast nur japanische Mädchen waren. Es gab dort keine Hawaiianer, keine Samoaner, keine Filipinos, und der eigentliche Unterricht, anspruchslos und sehr korrekt, langweilte mich auf eine Weise, wie ich es in der Schule bis dahin noch nicht erlebt hatte. Es half auch nicht, dass ich für meine Klassenkameradinnen außerhalb des Unterrichts praktisch nicht existierte. Und so verbrachte ich meine Schulstunden hingefläzt in der letzten Bank, behielt die Bäume draußen im Blick, um Windrichtung und Windstärke zu bestimmen, und malte Seite um Seite mit Surfbrettern und Wellen voll.
Ich surfte schon seit drei Jahren, als mein Vater die Stelle bekam, die uns nach Hawaii führte. Bisher hatte er bei verschiedenen Fernsehserien mitgearbeitet, meistens als Regieassistent: Dr. Kildare, Solo für O.N.C.E.L. Jetzt war er der ausführende Produzent einer neuen Reihe halbstündiger Unterhaltungsshows mit Musik, die auf der örtlichen Radiosendung Hawaii Calls basierten. Das Konzept sah vor, den Sänger Don Ho auf einem Boot mit Glasboden zu filmen, eine Calypso-Band vor einem Wasserfall oder tanzende Hula-Mädchen vor einem spuckenden Vulkan und das Ganze dann »Show« zu nennen. »Es wird nicht gerade hawaiianisches Laientheater«, meinte mein Vater. »Aber nah dran.«
»Wenn es richtig schlecht ist, tun wir einfach so, als ob wir dich nicht kennen«, sagte meine Mutter. »Bill Finnegan? Nie gehört.«
Das Budget für den Umzug nach Honolulu mit der ganzen Familie war knapp bemessen, man...
Erscheint lt. Verlag | 7.5.2018 |
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Übersetzer | Tanja Handels |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Barbarian Days. A Surfing Life |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Abenteuer • Abenteuergeschichte • Autobiografie • Autobiographie • Barbarian Days. A Surfing Life deutsch • Best Book of the Year • Bestseller • bücher bestseller 2018 • Bücher Bestseller 2018 Taschenbuch • Burroughs • Familie • Fernweh • Freiheit • Freundschaft • Hawaii • Hemingway • Into the wild • Journalismus • Journalist • Lebensgeschichte • Leidenschaft • Liebe • New York Times • Pulitzer • Pulitzerpreis • Pulitzer-Preis • Pulitzer Preis 2016 • Reisen • Schreiben • ST 4960 • ST4960 • suhrkamp taschenbuch 4960 • Surfen • Surfing • Updike • Vereinigte Staaten von Amerika USA • Wasser • Wellen |
ISBN-10 | 3-518-75741-5 / 3518757415 |
ISBN-13 | 978-3-518-75741-3 / 9783518757413 |
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