Sechs Koffer (eBook)
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31909-5 (ISBN)
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«
1. Vor der Flucht
An einem heißen, viel zu heißen Tag im Mai 1965 stand mein Vater noch früher auf als sonst. Er hatte bis nachts um vier gearbeitet – Schwejk, jetzt schon der letzte Teil, der ihm nicht mehr so gut gefiel wie die ersten drei –, dann hatte er zwei Acylpyrin genommen und sich mit schrecklichen Kopfschmerzen auf die schöne neue West-Couch im Arbeitszimmer gelegt, um uns drei im anderen Zimmer nicht zu wecken. Als er zwei Stunden später aufwachte, dachte er, er hätte nur für ein paar Sekunden die Augen zugemacht. Das Licht draußen war anders als sonst, gelb, fast orange. Es hatte für ein paar Minuten kurz und heftig geregnet, aber der Himmel wurde trotzdem nicht dunkel, und hinterher leuchtete die sonderbare Morgensonne fast rot ins Zimmer hinein und überzog den Schreibtisch und die Schreibmaschine, die Manuskriptblätter und die beiden aufgeschlagenen Bände seines tschechisch-russischen Wörterbuchs mit einem zarten, blutigen Schimmer.
Während mein Vater überlegte, ob er noch schnell den Rest des Kapitels zu Ende übersetzen sollte, bevor meine Mutter, meine Schwester und ich aufstehen würden, fuhr er mit den Fingerspitzen zufrieden über den rauen und leicht kratzenden dänischen Stoff, mit dem die teure, neue Couch bezogen war. Er und meine Mutter liebten diese Couch. Sie hatten sie bei Tuzex in der Ondříčkova von dem Vorschuss bezahlt, den er vom Verlag für die Schwejk-Übersetzung bekommen hatte, und mit dem Rest des Geldes hatte er für Onkel Dima in der Kleiderabteilung zwei Anzüge, Hemden, einen Trenchcoat, ein paar hellbraune Budapester-Schuhe und einen kleinen, schwarz-weiß karierten Fedora-Hut gekauft. Meine Mutter war dagegen gewesen, aber sie hatte wie so oft auf ihre vornehme, arrogante Art geschwiegen. Darum hatte mein Vater schließlich leise zu ihr gesagt: »Fünf Jahre Pankrác, Rada, verstehst du, was das heißt? Er wird sich über die neuen Sachen freuen …« Und dann hatte er plötzlich gebrüllt: »Ja, Scheiße, natürlich soll er sich über sie freuen! Die Mode ändert sich, überall, sogar in unserem beschissenen kommunistischen Land!« Aber sie hatte immer noch nichts gesagt, und er wusste genau, was sie dachte – dass Onkel Dima selbst daran schuld war, wenn er ins Gefängnis musste, und dass fünf Jahre nicht genug waren für das, was er vielleicht wirklich getan hatte.
Erst als mein Vater – von seinem kurzen Schlaf noch völlig benommen – sich wieder an den Schreibtisch setzte, merkte er, dass die Kopfschmerzen nicht weg waren. Er tippte einen Satz, dann noch einen, dann zog er das Blatt aus der Schreibmaschine, warf es in den Papierkorb und spannte langsam ein neues ein. Er kriegte fast immer Kopfschmerzen, wenn er zu viel arbeitete, aber diesmal hatten sie bestimmt auch mit dem armenischen Cognac zu tun, den er gestern Abend mit Natalia Gelernter im Café Slavia getrunken hatte. Er trank eigentlich nie, doch sie hatte ihn überredet, und jedes Mal, wenn sie anstießen, hatte Natalia nicht »Zum Wohl!« oder »Le chajim!« ausgerufen, sondern: »Auf den dummen, lieben Dima, dem wir beide alles verzeihen!« Dabei füllten sich ihre großen schwarzen Augen mit einem kalten, grauen Gift – so kamen meinem Vater jedenfalls ihre schnellen Tränen vor, aber vielleicht täuschte er sich auch.
Als er dann um Mitternacht nach Hause gekommen war, hatten wir alle zum Glück schon geschlafen, und er konnte gleich wieder im Arbeitszimmer verschwinden. Meine Schwester und ich lagen in unserem Bett Kopf an Fuß, Fuß an Kopf wie Dame und Bube auf einer Spielkarte, und wir atmeten noch leiser als meine Mutter, die schräg auf der für die Nacht ausgeklappten Wohnzimmercouch mit offenen Augen lag, aber auch fest schlief.
Die roten Morgenstrahlen krochen jetzt immer schneller über den Schreibtisch und das kaputte, unebene Vorkriegsparkett, und nachdem mein Vater ihnen eine Weile hinterhergeschaut hatte, versuchte er wieder ein paar Sätze zu schreiben, aber er kam wieder nicht weiter. Wie sagte man auf Russisch »fauliger Geruch« – aber so, dass es komisch klang? Der »faulige Geruch«, über den sich Schwejk lustig machte, stammte von einem Massengrab, in dem ein paar Dutzend gefallene österreichische Soldaten lagen, und weil die anderen Soldaten, die überlebt hatten, keine Kraft hatten, das große Erdloch anständig mit Erde zuzuschütten, guckten sogar ein paar Arme und Beine heraus. Wie konnte man über so etwas lachen? Oder sollte man es gerade tun? So grausam konnten nur diese verdammten Tschechen sein. Sollte vielleicht Dima über seine fünf Jahre in Pankrác lachen? Sollten sie beide über den Tod ihres armen Vaters lachen, ihres geliebten, strengen und meistens viel zu großzügigen Taten?
»Papa, bringst du mich heute in die Schule? Oder Jelena? Ich will nicht, dass sie mich bringt. Ich muss immer ihre Hand nehmen. Als wäre ich noch ganz klein.«
Er drehte sich um, und hinter ihm, in der nur einen Spalt weit geöffneten Tür, stand ich in meinem neuen, noch viel zu großen, blau gestreiften Pyjama, den mir Onkel Wladimir aus Brasilien geschickt hatte. Ich sah für meine sechs Jahre oft viel zu erwachsen aus, so wie jetzt auch. Ich hatte dieses ernste, dunkle, fast orientalische Gesicht, das sie alle in der Familie hatten – sein Vater, den sie immer auf Jiddisch Tate genannt hatten, aber auch er selbst und seine drei Brüder Dima, Wladimir und Lev. Die Kinder im Riegerpark und auf der Straße sagten oft zu mir, ich sei ein Zigeunerkind, und das erzählte ich immer sehr ernst zu Hause weiter, und angeblich machte es mir nichts aus, aber keiner glaubte mir.
»Ich weiß nicht, ob ich es heute schaffe, dich in die Vlkova zu fahren«, sagte mein Vater. »Ich muss noch ein ganzes Kapitel zu Ende übersetzen, und dann muss ich zum Verlag und alles abgeben. Und später muss ich noch Onkel Dima abholen.«
»Jelena sagt, Onkel Dima hat den Taten umgebracht«, sagte ich. »Stimmt das?«
Er schwieg. Dann sagte er: »Natürlich nicht. Hat sie das wirklich gesagt?«
»Nein«, sagte ich. »Das habe ich erfunden.«
»Warum hast du das erfunden?«
»Weil ich das glaube.«
»Und wieso glaubst du das?«
»Weil Onkel Dima im Gefängnis sitzt. Und weil ich sonst kein Kind kenne, dessen Onkel im Gefängnis sitzt. Und weil man doch immer nur ins Gefängnis kommt, wenn man jemanden tot gemacht hat. Oder nicht?«
Mein Vater schwieg und dachte darüber nach, was ich gerade gesagt hatte. Was, fragte er sich, soll aus diesem Kind werden, wenn es erwachsen ist? Warum stellt sich der Junge die Welt immer so dunkel und hässlich vor?
»Holst du Onkel Dima im Gefängnis ab?«, sagte ich. »Was macht ihr zusammen? Müsst ihr arbeiten? Oder geht ihr in der Stromovka spazieren? Papa …«
»Ja?«
»Können wir ihn dann auch sehen – oder muss er wieder ins Gefängnis zurück?«
»Weißt du was, du kleiner Chochem? Wenn du mich jetzt noch ein bisschen arbeiten lässt, schaffe ich es vielleicht, dich in die Schule zu fahren. In Ordnung?«
»Hast du schon mal jemanden umgebracht, Papa? Onkel Lev und Onkel Wladimir haben bestimmt jemanden umgebracht, sie waren doch in der Roten Armee.«
»So, genug, es reicht«, sagte mein Vater. »Geh sofort wieder ins Bett zurück. Ich will in den nächsten zwei Stunden nichts mehr von dir hören.« Er beugte sich müde über das Manuskript und begann noch einmal über die Sache mit dem »fauligen Geruch« nachzudenken, und als er sich kurz wieder umdrehte und ich immer noch hinter ihm in der Tür stand, schrie er plötzlich wie von Sinnen: »Raus! Raus!«, und ich verschwand endlich.
Dima hatte über Čedok einen Urlaub in Albanien gebucht, aber er wollte bei der Zwischenlandung in Belgrad die Reisegruppe heimlich verlassen und, statt nach Tirana, illegal nach Westberlin weiterfliegen, wo ihr gemeinsamer Bruder Lev seit Jahren lebte. Das wusste aber leider nicht nur Dima, das wusste von ihm selbst halb Prag, weil er schon Monate vorher anfing, seinen Freunden und Bekannten alles zu verkaufen, was er nicht mitnehmen konnte: seine russische Bibliothek, die ihm der Tate – genauso wie meinem Vater – jahrelang Buch für Buch mit der Post aus Moskau geschickt hatte, Möbel, Teppiche und sogar die Apparate aus seinem kleinen, privaten chemischen Labor, in dem er noch einmal die Erfindungen aus dem Metallurgischen Institut testete, die er später mit Levs Hilfe im Westen verkaufen wollte. Irgendwann wussten dann auch die Leute vom Innenministerium über Dimas Pläne Bescheid, und die Einzigen, die wahrscheinlich keine Ahnung gehabt hatten, waren mein Vater und Natalia Gelernter, seine eigene Frau. Natalia war deshalb natürlich sehr böse auf ihn. Als sie und mein Vater Dima nach seiner Verhaftung am Flughafen von Ruzyně das erste Mal im Gefängnis besuchen durften, sagte sie, ohne ihn zu begrüßen oder zu umarmen, leise: »Wolltest du wirklich ohne mich gehen, Dima? Ich dachte, wir wären eine Familie.« Und während er sich noch mit diesem traurigen, leicht beschränkten Dima-Gesichtsausdruck eine Antwort zurechtlegte, sagte sie laut: »Du Idiot hast neulich in Bratislava nicht aufgepasst, wir werden bald zu dritt sein.« Dann gab sie ihm eine Ohrfeige, und die beiden kleinen, blonden Aufseher, zwischen denen er stand, lachten gelangweilt und führten Dima gleich wieder ab.
Draußen fing es plötzlich wieder an zu regnen. Es wurde innerhalb weniger Augenblicke dunkel, das verrückte rote Licht verschwand aus dem Zimmer und aus den Winkeln der riesigen, alten Kastenfenster, und die Fassaden der...
Erscheint lt. Verlag | 8.8.2018 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 60er/70er Jahre • 60er Jahre • 70er Jahre • Bernsteintage • Bestseller-Autor • Deutscher Buchpreis 2018 • Exil • Jüdische Familiengeschichte • Literatur-Neuerscheinungen 2018 • maxim biller • Osteuropa • Prag • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-462-31909-4 / 3462319094 |
ISBN-13 | 978-3-462-31909-5 / 9783462319095 |
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