Nach Millionen Jahren, in denen die KI Überseele das Geschick der Menschen auf dem Planeten Harmonie überwacht, muss sie jetzt zur Erde zurückkehren, denn ihre Systeme versagen. Sie hat eine Familie und den jungen Nafai ausgewählt, ihr zu helfen, doch zwischen Nafai und seinem Bruder Elemak herrscht von Anfang an Zwietracht. Dennoch haben die Auserwählten es geschafft, eines der alten Raumschiffe wieder flott zu machen, und sind zu ihrem fernen Ziel aufgebrochen. Beide Fraktionen planen, sich der anderen gegenüber einen Vorteil zu verschaffen: Jede will dafür sorgen, dass sie als erste aus dem Tiefschlaf erwacht, um so Einfluss auf die nächste Generation ausüben zu können. Doch als das Schiff die Erde erreicht, müssen die Auserwählten feststellen, dass die Heimatwelt der Menschen nicht unbewohnt ist: Auf dem einst zerstörten Planeten hat sich neues Leben entwickelt - seltsames und gefährliches Leben ...
Orson Scott Card, 1951 in Richland, Washington geboren, studierte englische Literatur und arbeitete als Theaterautor, bevor er sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit 'Enders Spiel' gelang ihm auf Anhieb ein internationaler Bestseller, der mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Auch die Fortsetzung 'Sprecher für die Toten' gewann diese beiden prestigeträchtigen Auszeichnungen, somit ist Orson Scott Card der bislang einzige SF-Schriftsteller, dem es gelang, beide Preise in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu gewinnen. Orson Scott Card kehrte immer wieder in Enders Welt zurück und schrieb mehrere Fortsetzungen. Mit 'Enders Schatten' erschuf er einen zweiten Helden, dessen Geschichte parallel zu 'Enders Krieg' erzählt wird. 'Enders Game' wurde 2013 mit Asa Butterfield und Harrison Ford in den Hauptrollen verfilmt. Card lebt mit seiner Familie in Greensboro, North Carolina.
1
Streit mit Gott
Vusadka: der Ort, an dem Menschen zum ersten Mal einen Fuß auf den Planeten Harmonie setzten, nachdem ihre Raumschiffe sie hierher gebracht hatten. Die Schiffe landeten dort; die ersten Kolonisten gingen von Bord und pflanzten Getreide im üppigen Boden südlich der Landefläche an. Schließlich verließen alle Kolonisten die Schiffe und zogen weiter; die Schiffe blieben zurück.
Sich selbst überlassen, wären die Schiffe schließlich verrostet, verrottet, verwittert. Doch die Menschen, die zu diesem Planeten kamen, hatten einen Blick für die Zukunft. Eines Tages werden unsere Nachkommen diese Schiffe vielleicht benötigen, sagten sie. Also umschlossen sie die Landestelle mit einem Stasisfeld. Kein vom Wind getriebener Staub, kein Regen oder andere Niederschläge, kein direktes Sonnenlicht oder ultraviolette Strahlung konnten diese Schiffe beeinträchtigen. Sauerstoff, das korrosivste aller Gifte, wurde aus der Atmosphäre innerhalb der Kuppel entfernt. Der Hauptcomputer des Planeten Harmonie – von den Nachkommen dieser ersten Kolonisten »Überseele« genannt – hielt alle Menschen von der großen Insel fern, auf der die Schiffe abgestellt waren. Innerhalb dieser schützenden Blase warteten die Raumschiffe vierzig Millionen Jahre lang.
Doch nun war die Blase verschwunden. Die Luft war atembar. Auf dem Landefeld erklangen wieder Stimmen menschlicher Wesen. Und nicht nur die der ernsten Erwachsenen, die dieses Gelände zuerst betreten hatten – viele derjenigen, die von einem Schiff zum anderen oder von einem Gebäude zum anderen eilten, waren Kinder. Sie alle arbeiteten hart und bauten aus den Schiffen funktionsfähige Teile aus, um eins davon in ein funktionierendes Raumschiff zu verwandeln. Und wenn das Schiff, das sie Basilika nannten, bereit war, voll ausgerüstet und beladen, würden sie zum letzten Mal hineinsteigen und diese Welt verlassen, auf der über eine Million Generationen ihrer Vorfahren gelebt hatten, um zur Erde zurückzukehren, dem Planeten, auf dem die menschliche Zivilisation entstanden war – aber nicht einmal zehntausend Jahre überdauert hatte.
Was ist die Erde für uns?, fragte Huschidh sich, als sie die Kinder und Erwachsenen bei der Arbeit beobachtete. Warum nehmen wir solche Mühen auf uns, um dorthin zurückzukehren, obwohl Harmonie unsere Heimat ist? Die Bande, die wir vielleicht einmal mit dieser Welt gehabt haben, sind in all den dazwischenliegenden Jahren doch gewiss durchtrennt worden.
Und dennoch würden sie aufbrechen, weil die Überseele sie dazu auserwählt hatte. Weil sie all ihre Leben beeinflusst und manipuliert hatte, um sie zu dieser Zeit an diesem Ort zusammenzubringen. Oftmals war Huschidh froh, dass die Überseele sie mit solcher Aufmerksamkeit bedacht hatte, während sie es zu anderen Gelegenheiten verabscheute. Denn Huschidh war nie in Ruhe gelassen worden und hatte nie die Gelegenheit bekommen, selbst zu bestimmen, welchen Verlauf ihr Leben nehmen sollte.
Doch wenn wir keine Verbindungen zur Erde haben, haben wir zu Harmonie kaum eine stärkere, ging es ihr durch den Kopf. Und von allen Menschen hier erkannte sie allein, dass diese Beobachtung nicht nur bildlich, sondern wortwörtlich zutraf. Sämtliche Menschen hier waren auserwählt worden, weil sie für die geistigen Mitteilungen der Überseele besonders empfänglich waren. Bei Huschidh nahm diese Empfänglichkeit sogar eine seltsame Form an. Sie konnte Personen ansehen und erkannte sofort die Stärke der Beziehungen, die sie mit allen anderen Menschen in ihrem Leben verband. Für Huschidh war es wie eine Vision in wachem Zustand: Sie sah die Beziehungen wie Lichtschnüre, die eine Person an andere fesselte.
Zum Beispiel Luet, ihre jüngere Schwester, die einzige Blutsverwandte, die Huschidh während der Jahre ihres Heranwachsens gekannt hatte. Als Huschidh sich im Schatten ausruhte, ging Luet vorbei, ihre Tochter Chveja direkt hinter ihr, um denen das Mittagessen zu bringen, die im Raumschiff an den Computern arbeiteten. Stets hatte Huschidh ihre Verbindung mit Lutja als die eine große Sicherheit in ihrem Leben betrachtet. Sie waren aufgewachsen, ohne zu wissen, wer ihre Eltern waren, praktisch als Fürsorgefälle in Rasas großer Schule in der Stadt Basilika. Doch alle Ängste, alle Geringschätzungen, alle Ungewissheiten waren zu ertragen, weil es Lutja gab, die mit Huschidh durch Stricke verbunden war, die nicht deshalb schwächer waren, weil sie außer Huschidh niemand sehen konnte.
Es gab natürlich auch andere Verbindungen. Huschidh erinnerte sich gut daran, wie schmerzlich es gewesen war, das Band zu beobachten, das sich zwischen Luet und ihrem Gatten Nafai entwickelte, einem lästigen jungen Mann, der manchmal mehr Begeisterung als Verstand an den Tag legte. Zu ihrem Erstaunen schwächte Lutjas neue Verbindung mit ihrem Gatten das Band mit Huschidh aber nicht; und als Huschidh ihrerseits Nafais Vollbruder Issib heiratete, wurde das Band zwischen ihr und Luet noch stärker, als es in ihrer Kindheit gewesen war – was Huschidh nie für möglich gehalten hätte.
Als Luet und Chveja nun an ihr vorbeigingen, sah Huschidh sie also nicht nur als Mutter und Tochter, sondern auch als zwei Lichtwesen, die durch ein dickes, leuchtendes Seil miteinander verbunden waren. Es gab keine stärkere Verbindung als diese. Chveja liebte auch ihren Vater Nafai; aber die Verbindung zwischen Kindern und ihren Vätern war stets zögerlicher. Es lag in der Natur der menschlichen Familie: Wenn es um Fürsorglichkeit, Trost, die sichere Grundlage ihres Lebens ging, wandten Kinder sich stets an ihre Mutter. Von den Vätern hingegen erwarteten sie ein Urteil, hofften auf Anerkennung, fürchteten Missbilligung. Dies bedeutete, dass die Väter im Leben ihrer Kinder eine ebenso bedeutsame Stellung einnahmen. Doch ganz gleich, wie liebevoll und fürsorglich der Vater war – in dieser Beziehung lag fast immer ein Element der Furcht, denn der Vater wurde zum Brennpunkt aller Versagensängste des Kindes. Natürlich gab es hier und da Ausnahmen. Doch Huschidh hatte die Erfahrung gemacht, dass in den meisten Fällen die Verbindung mit der Mutter die stärkste und hellste war.
Bei ihren Gedanken über die Mutter-Tochter-Beziehung hätte Huschidh beinahe übersehen, worauf es wirklich ankam. Erst als Luet und Chveja das Raumschiff betreten hatten und außer Sicht waren, begriff Huschidh, was beinahe völlig gefehlt hatte: Lutjas Bande mit ihr.
Aber das war unmöglich. Nach all diesen Jahren? Und warum sollte die Verbindung jetzt schwächer sein? Sie hatten keinen Streit gehabt. Soweit Huschidh wusste, standen sie sich so nah wie eh und je. Waren sie während all der langen Kämpfe zwischen Luets Gatten und dessen böswilligen älteren Brüdern nicht stets Verbündete gewesen? Was hatte sich geändert?
Huschidh folgte Luet ins Schiff und entdeckte sie auf der Kommandobrücke, auf der Issib, Huschidhs Gatte, sich mit Luets Gatten Nafai über die computerisierten Lebenserhaltungssysteme besprach. Computer hatten Huschidh nie interessiert – ihre Aufmerksamkeit galt der Wirklichkeit, Menschen aus Fleisch und Blut, keinen künstlichen Gebilden, die als Nullen und Einsen bestanden. Manchmal war sie der Ansicht, dass Männer sich gerade ihrer Unwirklichkeit wegen dermaßen für Computer begeistern konnten. Im Gegensatz zu Frauen und Kindern konnte man Computer völlig beherrschen. Daher verspürte Huschidh eine geheime Freude, wenn sie beobachtete, dass Issja oder Njef sich über irgendein absichtlich stures Programm ärgerten, bis sie schließlich den Programmierungsfehler fanden. Sie argwöhnte zudem, dass Issja im tiefsten Innern glaubte, dass ein Fehler in der Programmierung des Kindes vorläge, wenn eins ihrer Kinder absichtlich eigensinnig war. Huschidh wusste jedoch, dass es sich um keinen Fehler handelte, sondern um eine Seele, die sich selbst finden wollte. Wann immer sie versuchte, Issja dies zu erklären, bewölkte dessen Blick sich, und er floh so schnell wie möglich zurück zu seinen Computern.
Doch heute lief alles ganz glatt. Luet und Chveja breiteten das Mittagsmahl für die Männer aus. Huschidh hatte nichts Besonderes zu tun und half ihnen dabei. Doch als Luet dann davon sprach, die anderen zum Essen rufen zu müssen, die im Schiff arbeiteten, ignorierte Huschidh geflissentlich die Andeutung und zwang Luet und Chveja auf diese Weise, die Leute selbst zu rufen.
Issib mochte ein Mann sein und mitunter Computer Kindern vorziehen, aber er war auch sehr aufmerksam. Luet und Chveja waren kaum fort, als er auch schon fragte: »Wolltest du mit mir sprechen, Schuja, oder mit Njef?«
Sie küsste ihren Mann auf die Wange. »Natürlich mit Njef. Ich weiß schon alles, was du denkst.«
»Sogar, bevor ich selbst es weiß«, sagte Issib mit spöttischer Verärgerung. »Na ja, wenn du dich allein mit ihm unterhalten willst, wirst du gehen müssen. Ich habe zu tun und werde auf keinen Fall den Raum verlassen, in dem das Essen auf mich wartet.«
Er erwähnte nicht, dass es ihm mehr Schwierigkeiten bereitete, sich zu erheben und zu bewegen. Obwohl seine Flossen in der Umgebung der Raumschiffe arbeiteten, so dass er nicht an seinen Stuhl gefesselt war, forderte jede größere körperliche Bewegung Issib eine beträchtliche Anstrengung ab.
Njef beendete seine derzeitige Arbeit – er hatte gerade irgendeinen Kode eingegeben –, erhob sich von seinem Stuhl und führte Huschidh auf den Gang hinaus. »Was gibt es?«, fragte er.
Huschidh kam direkt zur Sache. »Du weißt doch, wie ich die Dinge sehe«, sagte sie.
»Du meinst die Beziehungen zwischen den Leuten? Ja, ich weiß.«
»Ich habe heute etwas...
Erscheint lt. Verlag | 30.4.2018 |
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Übersetzer | Uwe Anton |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Earthfall - Homecoming Book 4 |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Die Heimkehr • Die Homecoming-Saga • diezukunft.de • eBooks • Ferne Zukunft • Generationenraumschiff • Kolonie • Künstliche Intelligenz |
ISBN-10 | 3-641-22869-7 / 3641228697 |
ISBN-13 | 978-3-641-22869-9 / 9783641228699 |
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