Die Legenden der besonderen Kinder (eBook)
208 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45124-3 (ISBN)
Ransom Riggs wuchs in einem kleinen Fischerdorf im südlichen Florida auf, einer Region, in der sich viele Amerikaner zur Ruhe setzen. Um nicht vor Langeweile zu sterben, begann er, in Musikbands zu spielen und mit seinen Freunden Filme zu drehen. Später studierte er in Ohio und Los Angeles Literatur und Filmproduktion. Ransom Riggs dreht heute Werbefilme für Firmen wie Absolut Vodka und Nissan und arbeitet als Drehbuchautor, Journalist und Fotograf. Mehr Informationen finden sich auf seiner Website: www.ransomriggs.com
Ransom Riggs wuchs in einem kleinen Fischerdorf im südlichen Florida auf, einer Region, in der sich viele Amerikaner zur Ruhe setzen. Um nicht vor Langeweile zu sterben, begann er, in Musikbands zu spielen und mit seinen Freunden Filme zu drehen. Später studierte er in Ohio und Los Angeles Literatur und Filmproduktion. Ransom Riggs dreht heute Werbefilme für Firmen wie Absolut Vodka und Nissan und arbeitet als Drehbuchautor, Journalist und Fotograf. Mehr Informationen finden sich auf seiner Website: www.ransomriggs.com
Die edlen Kannibalen
n dem kleinen Dorf Swampmuck lebten Besondere, die ein sehr bescheidenes Dasein führten. Sie waren Bauern, und obwohl sie nur das Allernötigste besaßen und in wackeligen Hütten aus Schilfrohr wohnten, waren sie gesund und guter Dinge. Nahrung wuchs reichlich in ihren Gärten, und sauberes Wasser strömte in den Flüssen. Sogar ihre einfachen Behausungen schienen reiner Luxus zu sein, weil das Wetter in Swampmuck so mild war, dass sich viele der Bewohner nach einem langen Tag hingebungsvoller Arbeit in den Sümpfen einfach auf den Boden legten und zwischen den Gräsern schliefen.
Die Erntezeit liebten sie am meisten. Sie arbeiteten rund um die Uhr, hieben die am höchsten aufgeschossenen Schilfhalme ab, bündelten sie auf Eselskarren und transportierten ihren Ertrag in die fünf Tagesritte entfernte Marktstadt Chipping Whippet. Das war harte Arbeit. Die scharfen Ränder der Schilfblätter zerschnitten ihnen die Hände. Die Esel waren übellaunig und bissig. Die Straße zum Markt war voller Schlaglöcher und wurde von Dieben belagert. Oft ereigneten sich während der Erntezeit schlimme Unfälle wie jener, als der Bauer Pullman in einem Anfall von Übereifer beim Mähen seinem Nachbarn aus Versehen ein Bein abhackte. Der Nachbar, Bauer Hayworth, reagierte verständlicherweise aufgebracht, aber die Dorfbewohner waren generell nicht nachtragend, und so war der Vorfall schon bald vergeben. Das wenige Geld, das die Leute auf dem Markt verdienten, reichte gerade, um das Notwendigste und außerdem noch ein paar Rationen Ziegenkeule zu kaufen. Mit diesen seltenen Leckerbissen feierten sie nach der Ernte ein rauschendes Fest, das über Tage andauerte.
Da geschah es in einem Jahr kurz nach dem Erntefest, dass drei Reiter eintrafen. Nach Swampmuck verirrte sich so gut wie nie jemand, denn es war kein Ort, der Fremde anlockte, und Gestalten wie diese hatte es hier ganz sicher noch nie gegeben: zwei Männer und eine Dame, von Kopf bis Fuß in kostbaren Seidenbrokat gekleidet, auf drei edlen Araberhengsten. Doch obwohl die Fremden offenkundig reich waren, wirkten sie ausgemergelt und schwankten kraftlos in ihren mit Edelsteinen geschmückten Sätteln.
Neugierig versammelten sich die Dorfbewohner um die Reiter, bewunderten deren wunderschöne Kleidung und Pferde.
»Geht nicht zu nah heran!«, warnte Bäuerin Sally. »Sie sehen krank aus.«
»Wir sind unterwegs zur Küste von Meek«[1], erklärte einer der Männer, der offenbar als Einziger genügend Kraft zum Sprechen besaß. »Vor ein paar Wochen wurden wir von Banditen überfallen. Wir konnten ihnen zwar entkommen, haben uns aber hoffnungslos verirrt. Seither bewegen wir uns im Kreis und suchen nach der alten Römerstraße.«
»Hier seid ihr himmelweit von der Römerstraße entfernt«, sagte Bäuerin Sally.
»Und von der Küste von Meek«, fügte Bauer Pullman hinzu.
»Wie weit ist es bis dorthin?«, fragte der Mann.
»Sechs Tagesritte«, antwortete Bäuerin Sally.
»Das schaffen wir nie«, sagte der Mann mit düsterer Miene.
In diesem Moment rutschte die in Seide gewandete Dame von ihrem Sattel und stürzte zu Boden.
Trotz ihrer Sorge vor Ansteckung brachten die mitfühlenden Dorfbewohner die Dame und ihre Begleiter ins nächstgelegene Haus. Die Bauern reichten den Reitern Wasser und betteten sie auf Strohlager. Bestimmt ein Dutzend Dorfbewohner umringten die Fremden und boten ihre Hilfe an.
»Lasst sie in Ruhe!«, befahl Bauer Pullman. »Sie sind erschöpft und müssen schlafen!«
»Nein, sie brauchen einen Arzt«, erwiderte Bäuerin Sally.
»Wir sind nicht krank«, entgegnete der Mann. »Wir haben Hunger. Vor über einer Woche gingen unsere Vorräte zu Ende, und seither hatten wir nicht einen Bissen zu essen.«
Bäuerin Sally wunderte sich, warum so reiche Menschen nicht einfach Essen bei anderen Reisenden kauften, denen sie unterwegs doch sicher begegnet waren, aber sie war zu höflich, um zu fragen. Stattdessen befahl sie ein paar Jungen aus dem Dorf, loszulaufen und Schalen mit Sumpfgrassuppe, Hirsebrot und die wenigen, vom Fest übrig gebliebenen Stücke Ziegenkeule zu holen. Aber als die Speisen vor den Besuchern ausgebreitet wurden, schoben diese sie beiseite.
»Ich möchte nicht unhöflich scheinen«, sagte der Mann, »aber das können wir nicht essen.«
»Wir wissen, dass es eine sehr bescheidene Mahlzeit ist«, sagte Bäuerin Sally, »und ihr seid vermutlich Festmahle gewohnt, die eines Königs würdig sind, aber mehr haben wir nicht.«
»Das ist nicht der Grund«, entgegnete der Mann. »Getreide, Gemüse, Tierfleisch – das können unsere Körper nicht verarbeiten. Und wenn wir uns zwingen, es trotzdem zu essen, machen uns diese Speisen noch schwächer.«
Die Dorfbewohner waren verwirrt. »Wenn ihr weder Getreide noch Gemüse oder Tiere essen könnt«, sagte Bauer Pullman, »wovon ernährt ihr euch dann?«
»Von Menschen«, antwortete der Mann.
Alle in der Hütte wichen einen Schritt von den Fremden zurück.
»Wollt ihr damit sagen, dass ihr … Kannibalen seid?«, fragte Bauer Hayworth.
»Von Natur aus, wir haben es uns nicht ausgesucht«, antwortete der Mann. »Aber, ja.«
Er versicherte den Dorfbewohnern, dass sie zivilisierte Kannibalen seien und niemals unschuldige Menschen töteten.
Sie, und andere ihrer Art, hatten mit dem König eine Vereinbarung getroffen, niemals Menschen gegen ihren Willen zu entführen und zu essen. Als Gegenleistung wurde ihnen gestattet, zu einem hohen Preis die abgetrennten Gliedmaßen von Unfallopfern und die Körper gehängter Verbrecher zu kaufen. Darauf reduzierte sich folglich ihr Speiseplan.
Sie waren jetzt unterwegs zur Küste von Meek, weil sich dieser Ort rühmte, die höchste Unfallrate und die meisten Toten durch Erhängen in ganz Großbritannien zu haben, sodass Nahrung verhältnismäßig üppig, wenn nicht gar reichlich vorhanden war.
Obwohl die Kannibalen zu jener Zeit als vermögend galten, waren sie ständig unterernährt, immerzu gequält von einem Hunger, den sie nur selten zu stillen vermochten. Und so wie es aussah, waren die in Swampmuck eingetroffenen Kannibalen dem Hungertod nahe und würden es niemals bis nach Meek schaffen.
Nun hätten die Bewohner jedes anderen Dorfes, seien es Besondere oder Normale, vermutlich mit den Schultern gezuckt und die Kannibalen hungern lassen.
Aber die Swampmuckianer waren über die Maßen mitfühlend, und von daher überraschte es niemanden, als Bauer Hayworth auf Krücken humpelnd einen Schritt vortrat und sagte: »Zufällig habe ich neulich bei einem Unfall mein Bein verloren. Ich habe es in den Sumpf geworfen, finde es aber bestimmt wieder, wenn die Aale es noch nicht gefressen haben.«
Die Augen der Kannibalen begannen zu leuchten.
»Das würdest du tun?«, fragte die Kannibalendame und strich ihr langes Haar von der knochigen Wange zurück.
»Ein bisschen seltsam ist das schon für mich«, gestand Hayworth, »aber wir können euch doch nicht einfach sterben lassen.«
Die übrigen Dorfbewohner stimmten zu. Hayworth humpelte zum Sumpf, fand sein Bein, vertrieb die daran nagenden Aale und brachte es den Kannibalen auf einem Tablett.
Einer der Kannibalen reichte Hayworth einen Beutel voller Geldstücke.
»Was ist das?«, fragte Hayworth.
»Die Bezahlung«, antwortete der Kannibale. »Genauso viel berechnet uns der König.«
»Das kann ich nicht annehmen«, erwiderte Hayworth, aber als er den Beutel zurückgeben wollte, hielt der Kannibale die Hände hinter den Rücken und lächelte.
»Es ist nur gerecht«, versicherte er. »Ihr rettet uns das Leben!«
Als die Kannibalen zu essen begannen, wandten sich die Dorfbewohner höflich ab. Bauer Hayworth öffnete den Beutel, schaute hinein und wurde blass. Es war mehr Geld, als er je in seinem Leben gesehen hatte.
Die Kannibalen verbrachten die folgenden Tage damit, zu essen und wieder zu Kräften zu kommen. Und als sie endlich stark genug waren, um ihre Reise an die Küste von Meek fortzusetzen – dieses Mal mit einer korrekten Wegbeschreibung –, versammelten sich die Dorfbewohner, um sie zu verabschieden. Als die Kannibalen Bauer Hayworth sahen, fiel ihnen auf, dass er ohne Krücken ging.
»Ich verstehe das nicht!«, rief einer der Kannibalen erstaunt. »Ich dachte, wir hätten dein Bein gegessen!«
»Habt ihr auch«, antwortete Hayworth. »Aber wenn die Besonderen von Swampmuck ihre Gliedmaßen verlieren, dann wachsen sie wieder nach.«[2]
Der Kannibale sah ihn an, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber offenbar anders. Stattdessen stieg er auf sein Pferd und ritt mit den anderen davon.
Wochen vergingen. Alle kehrten zur Normalität zurück, außer Bauer Hayworth. Er war oft geistesabwesend und ertappte sich im Laufe des Tages mehrfach dabei, wie er sich auf seine Hacke stützte und aufs Moor hinaussah. Er dachte an die Geldbörse, die er in einem Loch versteckt hatte. Was sollte er mit dem Geld anfangen?
Alle seine Freunde machten Vorschläge.
»Du könntest dir einen ganzen Schrank voller schöner Kleider kaufen«, sagte Bauer Bettelheim.
»Aber was soll ich damit?«, erwiderte Bauer Hayworth. »Ich arbeite den ganzen Tag im Sumpf, ich würde die Sachen nur ruinieren.«
»Du könntest dir eine Bibliothek voller guter Bücher zulegen«, schlug Bauer Hegel vor.
»Aber ich kann nicht lesen«, erwiderte Bauer Hayworth, »und auch sonst niemand in Swampmuck.«
Der Vorschlag von Bauer Bachelard war der dümmste von allen. »Du solltest dir einen Elefanten kaufen«, sagte er. »Mit dem kannst du dein Sumpfgras zum Markt schleppen.«
»Aber er würde...
Erscheint lt. Verlag | 26.3.2018 |
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Illustrationen | Andrew Davidson |
Übersetzer | Silvia Kinkel |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Abenteuer • Besondere Kinder • besondere Kinder Riggs • Buchverfilmung • die bibliothek der besonderen kinder • Die Insel der besonderen Kinder • Die Stadt der besonderen Kinder • Erzählungen • Fantasy Abenteuer • Fantasy Bücher • Fantasy Jugendbücher • Fantasy Reihe • Fantasy Serie • Geschichten • Jacob • Legenden • Märchen • Miss Peregrine • mit Bildern • Tim Burton • Urban Fantasy • Verfilmung |
ISBN-10 | 3-426-45124-7 / 3426451247 |
ISBN-13 | 978-3-426-45124-3 / 9783426451243 |
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