Fragmente (eBook)
328 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7448-4948-7 (ISBN)
Jahrgang 1968, Autor im Selbstverlag, lebt mit seiner Familie in der Nähe des Sauerlandes. Bisher erschienen sind: EIN mutierender Roman in der achten Mutation, EIN dissoziativer Roman aus bisher 21 von 42 Kurzgeschichten sowie EIN ungewöhnlicher Dreiteiler aus der Reihe WWW. In Arbeit sind aktuell die neunte Mutation sowie der vierte Band des dissoziativen Romans, mit dem Titel 'ZEITGEIST'. www.ichliebemeinentumor.de
Erneut wählen wir für die Therapie den großen Apfelbaum auf der Anhöhe im Garten. Von dort können wir uns mit EINEM weiten Blick auf die Metropole am Horizont einlassen – und auch auf den dichten Teppich moderner Infrastruktur, der, zwischen unserem Garten und der Metropole ausgebreitet, das hochflorige Land bedeckt. EIN Teppich, unter den sich reichlich kehren lässt.
Wir wünschen uns oft, jemand, uns wohlgesonnen, käme vorbei und würde den Teppich einfach zusammenrollen und endlich forttragen – aus unser aller Blickfeld heraus. Dann käme alles darunter Gekehrte und die Erde wieder zum Vorschein. Wir würden die nächsten Jahre alle Kerne sämtlicher Äpfel all unserer Apfelbäume im Garten sammeln und in diese zum Schweigen gebrachte, darbende Erde legen. Die feuchtschwangeren Wolken kämen, zögen gebärfreudig über die Erde hinweg und ließen ihren heilenden Regen hier nieder. Die Saat würde keimen, sich dem Sonnenlicht hingeben, sich strecken und recken wie kleine Füchse, bereit, das Leben zu erkunden, bereit, dem Schweigen zu entwachsen. All die kommenden Jahre säßen wir hier unter dem ausladenden Geäst des Apfelbaums und täten uns den Werdegang unserer Saat beschauen; bis zur ersten Blüte; bis zur ersten Ernte reifer Früchte. Es würde den Verlauf und die Bedeutung unserer Therapie enorm beflügeln, trotz all der Jahre, die für das Wachstum neuer Bäume ins Land ziehen würden.
Doch niemand kommt.
Niemand rollt den Teppich ein. Wir warten bereits seit etlichen Sitzungen auf dieses spezielle Ereignis. Was uns bleibt, ist die Therapie wie gewohnt fortzuführen. Die überwiegende Zeit des Jahres draußen, auch bei Regen und Sturm. Im Winter drinnen, nahe beim Fenster im warmen Wohnzimmer, mit prasselndem Feuer im Kamin und mit Blick auf den Teppich unter Schnee. Der Anblick erwärmt alljährlich unser erkaltetes Gemüt und befreit uns von EINER unausgesprochenen Last. Der, dessen Name in den Geschichten um Harry Potter nicht ausgesprochen werden durfte, ist EIN Leichtgewicht dagegen. Daher genießen wir diese Befreiung Jahr für Jahr und tanzen bisweilen ausgelassen barfuß durch die weiße Pracht, um weiteren Schnee herbeizulocken. Jenen, dessen Namen wir nicht vermeiden auszurufen. White Eraser rufen wir und werden des Rufens nicht müde.
Heute aber sitzen wir im Schatten unter dem Baum, üppig behangen mit Früchten, wie Perlen, die ein Dekolleté schmücken. Manche hängen tief, wenige so tief, man könnte einfach den Mund öffnen und über die glänzende Schale lecken. Die meisten Früchte aber sind außer Reichweite unserer, mit der Sprungkraft beider Beine kombinierten Arme. Wir haben Glück. Es gibt uns Wohlgesonnene, die für uns auf EINE knarrende Holzleiter steigen und die duftenden Früchte uns in geflochtene Körbe legen. Wir selbst mögen nicht auf Leitern klettern, selbst nicht auf jene stabilen aus leichtem Metall, die sogar zwei nicht schwindelfreie Kinder ohne Mühe zu tragen imstande wären. Wir wollen mit der Erde in Verbindung stehen, wann immer es uns ohne Schuhwerk dazwischen möglich ist. Wir sind da etwas sonderbar. Abgesehen von Tori. Sie gibt ihre Schuhe nicht her. Sie ist auch die Einzige, die im Winter nicht mit uns draußen durch wirbelnden Schnee tanzt und nicht nach White Eraser ruft. Tori ist weit sonderbarer als wir restlichen Identifikationen.
Wie üblich, wenn die Therapie unter dem Baum eröffnet wird, zeichnen wir mit dem Finger EIN Quadrat in die Erde, nahe am Stamm, und unterteilen dieses in neun kleinere Felder. Entsprechend setzen wir uns um den Baum herum. In die Mitte kommt EIN Kreis. Er ist Symbol für den Apfelbaum. Oben links EIN F, rechts oben EIN A. Unten links EIN E, rechts unten EIN T. Oben EIN R, unten EIN N, links EIN G und rechts EIN M. Acht Apfelgeschichten gilt es diesmal zu erzählen, reihum. Wenn es gut läuft, was nicht immer der Fall ist.
Unser Quadrat ist unsere Landkarte. Sie ist uns nach all den Jahren vertraut und lässt uns auf das Gegenwärtige konzentrieren. Uns bang dagegen ist das Terrain, dem die Karte zugrunde liegt. Die Welt ist so - verrückt. Ängste zuhauf, oftmals Nebel im Kopf. Zäh wie Sirup. Und bitter – nicht süß.
EIN mit reifen Äpfeln gefüllter Korb steht bereit. Jeder von uns nimmt einen Apfel in die Hand, um EINE Geschichte zu erzählen, die im Terrain verwurzelt ist. Wie immer beginnt oben links, Fannie. Sie hält die Frucht in der einen Hand, gleitet mit den Fingerkuppen der anderen sachte darüber - EINE Wahrsagerin auf EINEM Jahrmarkt, der nichts Böses verborgen hält, die Kristallkugel ein Zeugnis von Reife. Fannie blickt umher. Nur Tori kann sie nicht sehen. Sie ist unten rechts im Quadrat verortet. Sie spürt aber, wie Tori skulpturenhaft dasitzt, die zarten Arme, gezeichnet von Narben, um die angezogenen schorfigen Knie geschlungen, das Kinn auf ihre dürren Unterarme gebettet. Ihr Apfel liegt vergessen neben ihr im Staub. Alle anderen halten ihren in der Hand und warten darauf, ihre Geschichte zu erzählen. Mit ausreichend lauter Stimme, damit die anderen die Geschichte hören können. So zumindest ist es angedacht. Tori starrt in die blasse Ferne, die Metropole nicht aus den Augen lassend - als befürchtete sie, diese könne heimlich näher rücken, schaute sie einmal nicht zu ihr hin. Tori ist anders, als wir anderen anders sind. Es ist kein Problem für uns. Wir haben andere Probleme.
Wir sehnen uns nach EINEM ANDEREN Anfang. EINEM wie jetzt. Auch Tori will das, mehr als alles andere. Es ist das Einzige, worin wir alle EINER Meinung sind.
Der Apfel dreht sich in Fannies Hand um seine Apfelachse. Es vergeht ein schneller Apfeltag und es beginnt eine Apfelnacht auf Fannies Gesicht zugewandten Apfelseite. Ihre Apfelgeschichte - sie folgt:
Der Apfelkuchen, er ist fertig gebacken, sein buttriger Duft betörend mit einer weichen Aura von Vanille und süßem Zimt, das Rezept EIN Generationen übergreifendes Vermächtnis kulinarischer Alchemie. Was würde manch EINER dafür geben, nur ein einziges Mal mit wehenden Nasenflügeln diese Düfte zu durchschweben. Ganz zu schweigen vom Begehren, nur EINEN winzigen Anteil vom sahnigen Schmelz zu erhaschen, der die saftigen Apfelstücke umfließt.
»Nein, nein, bitte, bitte«, höre ich schon Stimmen raunen, »bitte, nur EINEN kleinen Bissen, EINEN einzigen Krümel. EIN winziger genügt. EIN halber vielleicht. Bitte.«
Die Tafel ist gedeckt, bestes Leinen bekleidet den langen Eichentisch, im freien Wind getrocknet, gestärkt und weiß wie EINE Leinwand, die noch kein Pinsel entdeckt hat. Das Porzellan ist von edelster Herkunft, der geschwungene, goldene Namen der Manufaktur auf der Unterseite des Geschirrs bezeugt es. Keck flirtet das Bouquet des Kaffees mit dem ofenwarmen Parfüm des Kuchens. Sie wiegen sich und gleiten wohlvertraut zwischen den Gedecken dahin. Ihre Liebe erneuert, schwelgen sie in gemeinsamer Erinnerung an vergangene Tafeln.
Tageslicht - ah, wie ich diese Stimmung meinerseits liebe – es perlt durch die luftigen Vorhänge, die zarten Ornamente umspielend. Es ist so still, nicht EINE Spur von Bedrückung.
Ich freue mich auf EIN Wiedersehen. Bald, in wenigen Minuten, werden die ersten meiner Gäste kommen. Wir werden viel reden. Darüber, dass ALLES nicht EINS ist, zumindest was uns Menschen betrifft und darüber, dass geteilt nicht verteilt entspricht. Welch EIN absonderliches Thema für EINEN Kaffeeklatsch, mag da manch EINER denken – egal, denn wer wüsste darüber besser Bescheid als ich, der Gastgeber dieser Tafelrunde ist?
Ich gestehe, es gibt tatsächlich ANDERE, die hinsichtlich des EINS-Seins von enorm verwobener Expertise sind. Jene, die diese nicht unwesentlichen Unterschiede zwischen den Teilen alltäglich erleben. Von Natur aus. Freilich, so sagt manch EINER. Meist beiläufig, ohne weiter, wenn überhaupt, darüber nachzudenken, was das im Grunde bedeutet.
Ich habe sehr viel über ALLES Ge- und Verteilte nachgedacht. Ich habe anderen Menschen zugehört, die diesbezüglich geteilter Ansicht sind und die Zettel verteilt haben, auf denen sie in wuchtigen Lettern proklamierten: ALLES ist EINS, aber das DA und das DORT, merkt es euch, das ist ALLEINIG meins. Hitzige Debatten haben wir geführt, die Worte flogen hin und her wie Eintagsfliegen auf Aas, dreiundzwanzig Stunden nach ihrem Jungfernflug.
Erst kürzlich, während EINES ausgiebigen morgendlichen Spaziergangs durch Wald und Flur, durch Feld und Hain, sprang mir das Offensichtliche direkt aus der Deckung der erwachten Schatten entgegen. Wenige meiner Herzschläge scharrte es auf der Stelle, grub sich ein in meine Anteilnahme. Bereitwillig ließ ich mich in meine Umwelt verweben, ohne von da an EINER Starre anheimzufallen. Ich war in einer entsprechenden Stimmung gewesen, hatte EINE kleine Melodie gepfiffen und war zwischen Sonnenstrahlen frohgemut dahingeschritten. Derart verwoben spürte ich es. Ich war mittendrin - in einer ausschweifenden Tafelrunde, die ohne Tischtuch und Geschirr auskam. Ohne EINEN Ton und der Situation demütig gewahr...
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2017 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7448-4948-1 / 3744849481 |
ISBN-13 | 978-3-7448-4948-7 / 9783744849487 |
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