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Der Wilde Freiger -  Roland Betsch

Der Wilde Freiger (eBook)

(Autor)

Peter M. Frey (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
268 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7460-2044-0 (ISBN)
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Sie legte sich zurück und fuhr mit der Hand durch die Luft. Kein Muskel ihres Gesichtes bewegte sich. Da sprang sie auf und deutete nach dem Fenster. »Sehen Sie dort! Die silberne Spitze ist der Wilde Freiger. Dort ist sein Grab. In einem Spalt. Mit einem Ruck war er fort. Ich kam gar nicht zur Besinnung, da war der Platz vor mir leer. Wie wenn ein Theatergeist in der Versenkung verschwindet: Ich weiß es. Einer von uns beiden musste gehen. Ich lebe, aber der Wilde Freiger steht bei meinem Schicksal, riesenhaft, wie eine stumme, gebieterische Warnung ... Nun habe ich Sie doch wieder ein Endchen zum Staunen gebracht, was? Hans Welker!« »Eigentlich nur deshalb, weil Sie sozusagen Ihrer Seele schon wieder ein neues Kleid angezogen haben. Aber wie ist das mit Ihrem Vorschlag?« »Sie sind ein Sportsmann, Hans Welker. Ich sehne mich nach knirschendem Pulverschnee. Wir pilgern zusammen über den Arlberg auf die Valuga. Schlagen Sie ein! Ist das nicht eine grandiose Idee? Eine herrliche Abfahrt von der Valuga nach Zürs und über die Flexenstraße. Sie kommen mit, ich gehe sonst allein. Was machen Sie für ein Gesicht?« Hans Welker hatte den Kopf auf der Brust hängen. Diese Möglichkeit reizte ihn. Er wandte den Kopf und wieder musste er flüchten vor ihren Augen. Wie um sich zu befreien, sprach er: »Es ist eine Laune. Aber warum nicht! Mich tyrannisiert zurzeit auch wieder die Langeweile des Daseins. Das könnte am Ende eine wohltuende Abwechslung werden! Sagen Sie mir, wie Sie heißen! Ich muss das jetzt auf der Stelle wissen!« Das war ihm angeflogen. Seine eigenen Worte kamen ihm unverständlich vor. Sie lachte. »Ich heiße Herta Land!«

Roland Betsch wurde 1888 in Pirmasens geboren und starb 1945 in Ettlingen. Er war Ingenieur und Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Romane.

Erstes Kapitel


Hans Welker saß auf der Terrasse des Hotels Stefanie in Baden-Baden. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er prüfend in den sternübersäten Septemberhimmel. Im Osten stieg der Jupiter über die dunkle Silhouette der Schwarzwaldtannen.

Eine bunte Gesellschaft, in der vornehme Eleganz und aufdringliche Dekadenz sich begegnete, plauderte an den kleinen, runden Marmortischen. Herren im Smoking mit verkalkten Gesichtern und Pomadenfrisuren tranken Pilsner aus lächerlich hohen Stängelgläsern, papageibunte Damen mit halb talentvoller, halb erzwungener Koketterie schlürften Punsch Romain aus Strohhalmen und kosteten phantastische Likörmischungen mit einem überflüssigen Aufwand von Glasgeschirr. Sportleute mit braunen Gesichtern und nervösem Muskelzucken stritten eifrig über ihre Meinungen und zogen den Zigarettenrauch in die Lunge. Offiziere saßen da, mit übergeschlagenen Beinen, und malten Bleistiftskizzen auf den Marmortisch.

Die Musik spielte die große »Leonoren«-Ouvertüre. Etwas eckig und mit fühlbarem Mangel an Streichern.

»Wissen Sie, wer der Schmächtige ist, dort am Tisch?«, sagte eine strohblonde Dame mit mächtigem Reiherhut zu ihrem Begleiter und schaute halb über die Achsel. »Dort am dritten Tisch bei der Säule. Im Sportanzug mit den gelben Wickelgamaschen!«

Der Herr strich die Zigarrenasche ab, hob den Blick, musterte, schüttelte den Kopf und rief nach dem Ober.

»Das ist Hans Welker!« Sie betonte es auffallend.

»So! So! Und was weiter?«

»Na, hier lesen Sie, der Gefürchtete!«

Sie reichte ihm das Programm des großen Flugmeetings von Baden-Baden. »Hier, Nummer 13. Der neue Fünfdecker! Er wird morgen fliegen.«

»Was ist das für ein spinnendürres Gestell?«

Die Ouvertüre war zu Ende. Einige klatschten. Das Stimmengewirr wurde deutlicher vernehmbar, Gläser klirrten.

»He, Junge, eine Berliner Zeitung!«

Ein elegantes Paar kam durchs Portal. Sie in gelber Crêpede-chine und einer federleichten Pelzstola, er im Frack, mit ausdruckslosem Gesicht. Sie trippelte, er trat zuerst mit den Sohlen auf und ließ die Gummiabsätze nachfolgen. An einem Tisch trafen sie Bekannte.

»Ich finde, dass man heute besondere Leistungen nicht geboten hat.«

»Ich hatte mir eigentlich, hem, hem, etwas mehr Akrobatik vorgestellt. Was kümmern mich die ewigen Höhenrekorde!«

»Purzelbäume ist das Richtige für mich.«

»Man hat, hem, hem, zu stumpfe Nerven!«

»Übrigens, morgen fliegt Hans Welker!« Das klang doch etwas nach Sensation.

Wieder setzte das Orchester ein. Der »Puppenfee«-Walzer, wiegend in den Geigen und mit übertriebener Rhythmik in den Bässen.

Hans Welker streckte die Beine unter den Tisch und trank Mineralwasser. Er war dünn und schmächtig wie ein Helmreiher. Das hagere Gesicht war bartlos, mit etwas vorstehenden Backenknochen und grob wie aus Holz geschnitzt. Vor sich hatte er eine Anzahl Barogramme auf dem Tisch liegen und studierte die Höhenleistungen. Es waren die Streifen sämtlicher acht Höhenflüge, die heute geflogen waren. Das Material hatte ihm einer seiner Monteure durch Winkelzüge verschafft.

7.000 in 19 ¾ Minuten, das stimmte doch! Er rechnete noch einmal nach. Langsam zog er die Stirn hoch, dass sich zwei Längsfalten bildeten und die beweglichen grauen Augen hervorkamen.

»Gute Leistung«, kaute er vor sich hin, »aber immer noch nichts. Pah! Immer noch nichts! Wissen Sie, meine Gipfelhöhe ...« Er wollte einem Gegenüber eine Rede halten und merkte im Reden, dass er allein war. Hans Welker hatte stets Zuhörer und verlor nie die Pose. Ein einstudiertes Lächeln war auf seinem Gesicht, wobei er den Mund halb öffnete, dass die Zähne des vorstehenden Oberkiefers etwas vor die Lippen traten.

Es war ja lächerlich, rein lächerlich! Was brachte das Ausland für Zeiten! Das musste in Deutschland doch auch gehen, es musste gehen! Er rollte die Zunge, dass sie wulstartig sich zwischen seine Lippen schob. Dann nahm er, halb mit Ekel, einen schlürfenden Zug aus dem dünnen Wasserglas und spielte mit den Fingern auf dem Tisch. Seine Hände waren mager und knöchern, die Finger zu lang, und er konnte die vordersten Glieder bewegen, so dass die Hände etwas Krallenähnliches bekamen ...

Hans Welker flog. In Gedanken saß er in der Maschine und hielt den Steuerknüppel. Leicht und nur mit zwei Fingern. Die Unterarme lagen auf den Knien. Er horchte auf den 220pferdigen überkomprimierten M. S.-Umlauf-Motor, nahm sechs Zähne Gas fort, da der Motor zu viel Touren machte, und spielte mit dem Höhensteuer.

Höher stieg er, von 4.000 auf 5.000. Auf 8.000. Aufmerksam und mit lässiger Ruhe beobachtete er den Tourenzähler. Noch war kein Leistungsabfall festzustellen. Doch! Nun ließ er zwanzig Touren nach. Hans Welker öffnete die Drossel um zwei Zähne ...

Rauschend setzte das »Carmen«-Vorspiel ein. Der Dirigent bog sich wie eine Silberpappel im Herbstwind. Die Bogenlampen zuckten. Am Nebentisch stießen sie mit den Sektgläsern an. Hans Welker ließ den Kopf hängen und verbog die vorderen Glieder seiner Finger.

In solchen Augenblicken war die interessante Hässlichkeit seiner Züge ganz unverhüllt.

»Sehen Sie doch Hans Welker an!«, sprach die strohblonde Dame zu ihrem gelangweilten Begleiter.

»Ja! So lassen Sie ihn doch endlich!«

»Ah, er ist ein Scheusal!« Sie warf einen begehrlichen Blick nach dem Nebentisch.

»Ein Scheusal?«, erwiderte er und zog den Mund schief. »Ein Scheusal? Gnädigste sind doch nicht in den Luftkünstler verschossen?« Er gähnte über diese Erkenntnis der Frauenseele und langte nach seiner Zigarrentasche.

Hans Welker war mittlerweile auf 12.000 gestiegen, nahm das Gas fort und legte sich in eine steile Rechtsspirale. Den Kopf mit dem platten, festgelegten Scheitel hielt er geneigt und blinzelte mit den grauen Augen in das Orchester. Vor ihm ließ ein Kellner eine Eisschokolade fallen. Das Klirren schreckte ihn aus seinen Träumen.

»Sie sind doch ein Idiot!«, sprach er bestimmt und rein sachlich zu dem Kellner.

Gegen diesen Tonfall war eine Widerrede nicht möglich. Das war die einfache, nackte Feststellung einer Tatsache. Der Kellner stand immer noch da, grenzenlos verwirrt, als erwarte er etwas, das bestimmt kommen musste.

»Bringen Sie mir eine Schokolade!«, sprach Hans Welker und zeigte die Zähne.

Die strohblonde Dame am Nebentisch lachte ihm verfänglich zu, und er musterte sie mit unruhigen Augen. Diese grauen Augen konnten nie fest auf einer Stelle haften. Es schien, als fürchte er ängstlich, sie könnten etwas von ihm verraten. Die Dame spielte mit der Fußspitze auf dem Asphalt und bohrte den Blick schwärmerisch schräg nach oben. Der Kavalier stieß den Rauch durch die Nase, kratzte sich hastig am Kinn und machte einen gewaltsamen Anlauf gesprächig zu werden.

Von der Lichtentaler Allee her kamen zwei vornehme Paare. Sie schritten lebhaft plaudernd durch die Anlagen und rauchten unsinnig lange Zigaretten, die sie zum Überfluss noch in schlanke Elfenbeinspitzen gesteckt hatten.

Voraus schritt Graf Scanzoni, Hans Welkers Chefpilot, mit einer schlanken, trippelnden Gestalt in orangerotem Seidenmusselin-Kleid und einer leichten polnischen Mütze. Ihr Gesicht war klein und zierlich, bleich und stillos abgerundet. Die hellen Haare hingen in künstlichen Ringellöckchen in die Stirn. So machte sie den Eindruck einer hübsch herausgeputzten Schaufensterpuppe. Sie stelzte in kleinen, gekünstelten Schrittchen und drückte die Knie leicht nach vorn. Scanzoni baumelte neben ihr, weit und krampfhaft ausgreifend, mit schwach nach innen geneigten Beinen. Im linken Auge trug er ein Monokel, weniger aus Bedürfnis und Überzeugung, als um sich einen witzigen Anstrich zu geben.

Hinterher folgten Kurt Seeberger im weiten, kastanienbraunen Homespun-Überzieher und eine rabenschwarz gekleidete Gestalt mit affektierten Schritten, nach hinten geworfenem Kopf und eifrigen Drehungen in den Hüften. Das Gesicht war durch einen schwarzen Schleier vollkommen verdeckt. Aus einem ganz unverständlichen Grund hatte der sonst feingewebte Schleier mittendrin einen großen schwarzen Tupfen, der geradezu grotesk unmotiviert wirkte und wie ein Teerpflaster aussah.

»Da oben ist ja der Welker gelandet, hat er nicht wieder sein Selterswasser da stehen?«, rief Scanzoni nach rückwärts und zeigte nach der Richtung.

»Der schnüffelt in die Atmosphäre und fürchtet sich vor einer Niederlage«, antwortete Kurt Seeberger von hinten, in einem Tonfall, der wie ein militärisches Kommando klang.

»Ich verstehe so etwas nicht«, meierte Scanzoni, »wenn er sich davor fürchtet, dann verdient er sie ja. Furcht ist Mangel an Größe und Mangel an Weltverachtung. Ich fürchte mich selbst vor Frauen...

Erscheint lt. Verlag 13.11.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7460-2044-1 / 3746020441
ISBN-13 978-3-7460-2044-0 / 9783746020440
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