Signalstörung (eBook)
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10066-4 (ISBN)
Kirsten Fuchs, 1977 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, gewann 2003 den renommierten Literaturwettbewerb Open Mike. Zwei Jahre später veröffentlichte sie ihren vielgelobten Debütroman «Die Titanic und Herr Berg». Es folgten «Heile, heile» und «Mädchenmeute», für das sie den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. Der Roman wurde zum Bestseller, 2021 erschien die Fortsetzung «Mädchenmeuterei». 2022 wurde Kirsten Fuchs mit dem W.-G.-Sebald-Literaturpreis ausgezeichnet.
Kirsten Fuchs, 1977 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, gewann 2003 den renommierten Literaturwettbewerb Open Mike. Zwei Jahre später veröffentlichte sie ihren vielgelobten Debütroman «Die Titanic und Herr Berg». Es folgten «Heile, heile» und «Mädchenmeute», für das sie den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. Der Roman wurde zum Bestseller, 2021 erschien die Fortsetzung «Mädchenmeuterei». 2022 wurde Kirsten Fuchs mit dem W.-G.-Sebald-Literaturpreis ausgezeichnet.
Wal und Fußei
«Wenn nicht küssen, dann Fußball», sagte er und nahm das Messer vom Gürtel. Er begann, einen roten Schwimmer von einem grünen Fischernetz zu schneiden. Kleiner als ein Fußball, oval. Fußei können wir damit spielen.
Also kein Küssen.
In einem Paralleluniversum küssten wir bereits. Unsere Jacken raschelten dabei. Die arktische Sommernacht wäre dann warm. Wir würden in der Sonne sitzen und küssen. Es gab keine Dunkelheit zum Verbergen. Alles und überall war es hell. Und keine Bäume und Sträucher zum Verstecken. Helle Nacht. Langer Kuss.
Aber in diesem Universum kniete Jakub neben der Hafenmauer von Nólsoy und kappte die Schnur zwischen Schwimmer und Netz. Es sah aus, als ob er auf etwas einstach, und in meinem Bauch waren Wollen und Nichtwollen. Was mich anzog, stieß mich ab. Ich hatte einen Yin-und-Yang-Bauch, aber er drehte sich wie eine Zentrifuge, und dem Yin flog der weiße Punkt aus seiner Seite und dem Yang der schwarze Punkt aus der seinen, und dann vermischte sich alles.
Also grau.
Also Fußei.
Reden wollte ich nicht mehr.
Das Gespräch vorhin war falsch abgebogen.
Wir hatten an der Bucht gesessen. So nah, dass sein Geruch mich anging.
Und dann fing ich an: «Das ist die Bucht, in der ihr …»
«Ja, das ist sie», unterbrach er mich. «Die ist besser als die Bucht auf der anderen Seite. Diese hier ist flacher. Das ist besser. Willst du das wirklich wissen? Die hier ist günstig, weil man sie hier besser zusammentreiben kann.»
Und ich frage auch noch weiter: «Und du hast da auch schon …?»
«Ich hab da auch schon.»
Und dann frage ich immer noch weiter: «Und auch Delfine?»
Jakub stand auf, und es gab keine romantische Aussicht mehr. Die Bucht auf der kleinen Färöerinsel war voll von gesunkenem Blut.
Darum Fußei. Statt Küssen. Und statt Reden.
Wir hatten zwei Stunden Aufenthalt, bis die Vogeltouristen wiederkamen. Sie liefen gerade den Berg hinauf zur Schwalbenkolonie. Jakub hatte den Schwimmer abgeschnitten, kickte ihn von einem Fuß auf den anderen, und in dem harten, hohlen Material hallte der Schlag.
«Ist doch Quatsch!», fand ich.
«Alles ist Quatsch. Alles. Alles. Alles», sagte er.
«Alles?», fragte ich.
Und er: «Ja.»
Während ich hoffte, dass ihm etwas einfiel, das nicht Quatsch war, steckte er das Messer wieder an den Gürtel. Jakub war Färinger. Die haben ein Messer am Gürtel. Falls plötzlich die Wale in der Bucht sind.
Die rote Bucht.
«Dahinten ist ein Fußballplatz.» Er lief vorneweg.
Fußei also.
Wir gingen an der Hafenmauer von Nólsoy entlang. Die war roh, mit runden Steinen. Direkt hinter dem Hafen standen als Dorfeingang Walknochen. Ein Bogen aus zwei Rippen. Oder Zähnen. Keine Ahnung. Woher auch?
«Sind die echt?»
«Was sonst?», fragte er.
Ich konnte mir das Tier dazu nicht vorstellen. Ich ließ das Tier in der Luft schweben und setzte ihm diese Knochen an verschiedene Stellen. War das Tier fertig, entließ ich es in die Freiheit des Meeres hinter uns. Es schwamm unsichtbar davon, mit Seepocken überzogen.
«Pottwal», sagte er. «Zwanzig Meter lang kann der sein.»
Mein unsichtbarer Wal fiel auf uns herunter. Er war zu schwer zum Schweben. Eine Illusion musste leicht sein. Jetzt waren wir erschlagen von einem Pottwal, Jakub und ich, und aus unseren Rippen wurde ein kleiner Dorfeingang gebaut. Daneben ein Schild: «Sie hätten ein Paar sein können, doch die romantische Geschichte endete mit einem Fußeispiel.»
Ich spielte gerne Fußball. So hin- und herschießen. Nur so. Nicht richtig. So wie jemand Schach spielt, der nur die Regeln kennt. Wenn so jemand gegen jemanden spielt, der richtig spielen kann, dann war das Spiel sofort vorbei. Wegen der Schäfereröffnung oder so.
«Kannst du richtig gut Fußball spielen?», fragte ich den Rücken vor mir.
«Nicht wie ein Brasilianer. Nur wie ein Färinger. Und du?»
«Nicht wie eine Deutsche», sagte ich. «Vielleicht wie ein Kind.»
Ich hatte immer mit meinem Bruder Fußball gespielt. Er war älter, aber nett. Er spielte so, dass ich mithalten konnte. Er hatte ja nur eine kleine Schwester, und wir hatten nur einen Ball. Vielleicht wusste er, dass er sonst hätte allein spielen müssen. So haben wir schubsend gerauft, ohne Regeln, und schossen dem anderen den Ball zwischen den Beinen durch. Ich war nicht schlecht, bildete ich mir ein.
«Ich spiel ganz gut», behauptete ich.
«Gut», sagte Jakub. «Das ist gut. Dann können wir wirklich spielen.»
Dann könnten wir Freunde sein, Kumpel sein. Schwester, Bruder, nichts mit küssen. So könnte es gehen mit dem Mann mit dem Messer.
«Das Spiel der Welt», sagte er. «Wusstest du, dass man das sagt? Das Spiel der Welt. Weil die Welt rund ist und der Ball auch.»
«Unserer nicht.»
«Nein, unserer nicht. Unsere Welt ist anders.»
Ich mochte seinen Akzent. Wie er sich diese fremde Sprache anzog und hinter jedem Vokal der Klang seiner eigenen Sprache durchklang. Wie hinter jedem seiner Sätze die Grammatik der anderen Sprache einem Regal gleich stand, in das Jakub seine Wörter nach alter Gewohnheit legte. Seine As kamen als Echo aus einer anderen Höhle als meine As, und trotzdem war sein A ganz klar ein A. Hinter seinem S zischte etwas anders, und bei seinem L war seine Zunge in anderer Bewegung. Dieses kurze Befremden hält wach. Die Instinkte arbeiteten dann gut. Vielleicht war es das. Ich war einfach besser durchblutet als zu Hause und nicht verliebt.
Die Touristen waren auf dem Bergkamm. Eine bunte Jacke nach der anderen verschwand. Gelbe Jacken, blaue, aber am meisten rote. Ein paar schwarze Jacken dazwischen. Sie alle hatten ein Fernglas und gute Fotoapparate mit. Sie waren von Tórshavn losgezogen, seltene Schwalben zu beobachten, bezahlten viel Geld für die Tour. Eines der schönsten Schiffe von ganz Färöer brachte sie hierher und dann spät in der hellen Nacht zurück nach Tórshavn. Jakub fuhr jede Nacht mit.
Wir hatten einige Abende zusammengesessen, aber stets war er dann verschwunden. Wie in einem Märchen bestieg er das schöne Holzschiff und verschwand vor Mitternacht auf das Meer hinaus. Immer fehlte eine halbe Stunde zum Kuss. Diesen Bann galt es zu brechen.
Also war ich mit in das schöne Schiff gestiegen. Und wir waren gefahren. Die Sonne hoch. Alles gut durchblutet. Das wäre die schönste Nacht geworden, aber erst die Sache mit den Walen und jetzt Fußei.
Es hatte auf dem Schiff süßen Tee gegeben. An einem schmalen Tisch. Wir saßen eng. Die Vogeltouristen zeigten sich die Fotos, die sie schon gemacht hatten. Von Vögeln. Und Eiern. Und ich dachte: Ich werde den Jakub küssen, den schönsten Färinger.
«Hier, noch ein Stück», sagte er, «da!», und zeigte wieder.
Er hatte irgendwo hingezeigt, an den bunten Häusern vorbei. Eines petrolblau und eines dunkelgrün. Eines ganz in klarem Grau, als stünde ein nichtszeigender Spiegel vor den grünen Hängen. Ein warmes Rot, ein kaltes Gelb, ein warmes Gelb, ein kaltes Hellblau. Die Häuser waren schön. Mit Natur als Dach. Die Farben ersetzen locker den Herbst, den es hier nie gab.
Ich lief ihm also hinterher.
Wenn ich ihm gegenüber ging, konnte ich ihn nicht so anstarren, weil er es gesehen hätte. Weil er selber starrte. Wenn ich hinter ihm lief, starrte ich olympisch. Der Mann mit Messer. Gleich musste ich mich selber hauen wegen diesem Mist. Einen Bart hatte er auch. Und Wimpern wie ein Hundewelpe. Solche hellen. Wenn man verliebt war, vergaß man, dass man schon mal verliebt war und dass es nur ein Zustand ist wie Hunger.
«Vorsicht!», sagte er, als ich stolperte.
«Selber!», sagte ich.
Der Fußballplatz war einfach und hart. Ein elender Belag.
Das Tor kein Netz. Der Ball kein Ball.
«Ich kann doch nicht Fußball spielen», versuchte ich.
«Man kann mehr, als man kann», sagte er und schoss mir den roten Schwimmer ran.
Der flog Brusthöhe gegen mich.
Ich fasste mir an die getroffene Stelle.
Es war schon viel zu spät, um nicht mitten in der Partie zu sein, und wenn wir alle Glück hätten, dann wäre am Ende ein Unentschieden entschieden.
«Das tut doch weh», sagte ich.
«Warte!» Er rannte Richtung Hafen davon.
Waren Wale in der Bucht, oder was?
Jakub rannte zur Marjun. Das schöne Schiff lag verlassen im Hafen. Das lackierte Holz glänzte.
Ich stand auf dem einsamsten Fußballplatz der Welt. Im unangegriffenen Torraum.
In den Häusern lagen die Menschen in den Betten, waren müde vom Tag und schliefen. Ob sie es satthatten, dass um Mitternacht die Vogeltouristen kamen, in Jacken, so bunt wie die Häuser von Nólsoy? Zu laut klapperten ihre Ferngläser. Dass Menschen kamen, die das viele Licht aufpumpte und übermütig machte, die den Einwohnern die Nacht zerlatschten, zerpfiffen und Fußball spielten?
Jakub kam zurück. Zwei orange Sicherheitsanzüge überm Arm. Davon gab es im Schiff so viele wie Passagiere reinpassten. Sie schützen vor dem Ertrinken und vor allem vor dem Erfrieren im Wasser.
«Zieh die Jacke aus!», sagte er.
Und das tat ich.
Und er half mir dabei. Und es gab Berührungen.
«Wir spielen beide in der orangen Mannschaft. Oranje. Kennst du?»
«Dänemark, oder?»
«Niederlande.»
Dann zogen wir uns gegenseitig die Reißverschlüsse zu. Reißverschlussbrüderschaft.
«Ist besser, wegen dem Ball.»
«Dem Ei», sagte ich.
«Dem Ei auch», sagte er.
Unser Grinsen war groß, und heillos war ich verliebt.
«Isst du Fleisch?», hatte er bei unserem Gespräch...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2018 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abschied • Alltag • Berlin • Eltern • Kinder • Komik • Kurzgeschichten • Liebe • Trennung |
ISBN-10 | 3-644-10066-7 / 3644100667 |
ISBN-13 | 978-3-644-10066-4 / 9783644100664 |
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