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Miakro (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04451-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Miakro -  Georg Klein
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Die Männer, die im Mittleren Büro ihren Dienst versehen, arbeiten, Pult neben Pult, am weichen Glas. Am Ende des Tages marschieren sie geschlossen zum aktuellen Nährflur, wo die bleiche Wand eine Speise für alle bereitstellt. Danach schlüpft jeder in seine Ruhekoje. Dort aber liegt Büroleiter Nettler seit einigen Nächten wach. Ein rätselhafter Binnenwind zieht ihm das Gestern, Heute, Morgen ungezählter Arbeitsjahre neu herbei. Allmählich geraten die Selbstverständlichkeiten des Bürolebens ins Wanken. Es hat den Anschein, die guten Tage seien gezählt. Gemeinsam mit drei mehr oder weniger vertrauenswürdigen Kollegen passiert Nettler die Schleuse, den einzigen Weg, der hinausführt aus dem Mittleren Büro. Draußen aber wird, was die Männer für ihre Arbeitsheimat hielten, bereits mit heller Wachsamkeit beobachtet. Fachleutnant Xazy, die leitende technische Agentin, hat begonnen, sich furchtlos um die Zwielichtzone des Natürlichen, um den Grenzbereich zwischen Außen- und Innenwelt, zu kümmern. Mit Ernst und Eigensinn, mit Humor und Gefühl führt Georg Klein seine Figuren einem großen Gegenspieler in die Arme. Nicht alle werden den Frühlingsmorgen dämmern sehen. Aber das Licht des Phantastischen leuchtet hell über die Grenzen des Erwartbaren hinaus.

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa», «Die Sonne scheint uns», «Sünde Güte Blitz», «Die Zukunft des Mars» und «Miakro» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Die Logik der Süße» und «Von den Deutschen». Für sein Werk wurden ihm der Niedersächsische Staatspreis, der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2010. Zuletzt erschien der Roman «Bruder aller Bilder» (2021). 

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa», «Die Sonne scheint uns», «Sünde Güte Blitz», «Die Zukunft des Mars» und «Miakro» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Die Logik der Süße» und «Von den Deutschen». Für sein Werk wurden ihm der Niedersächsische Staatspreis, der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2010. Zuletzt erschien der Roman «Bruder aller Bilder» (2021). 

1. Innenwind


Wie ein Durst gestillt wird

Es war ein fremder Wind. Die fünfte Nacht in Folge holte ihn dieses Wehen, als strichen ihm kühle Fingerspitzen über Wangen, Stirn und Lider, aus traumlos blindem Schlummer in die Finsternis seiner Koje. Nettler richtete sich auf. Seine Linke stach durch die weichen Stränge seines Schlafnetzes, die Rechte stemmte sich an die hornig festen Deckenrippen. Er fühlte sich mehr als bloß wach. Denn mit einer Gewalt, die ihm jenseits der letzten Nächte unbekannt gewesen war, hatte seine Vorstellung erneut damit begonnen, über Geschautes, über in vielen Jahren Glasarbeit Gesehenes, hinwegzujagen.

Alles, was unter seinen Händen, mehr oder minder tief, mehr oder minder günstig übereinandergeschichtet, durch das weiche Glas geglitten war, schien nun in diesem Strom enthalten. Nichts hatte an Glanz, Transparenz oder Schärfe eingebüßt. Aber unabhängig davon, wie prächtig in den zurückliegenden Nächten eine Fülle bekannter Bilder aufgeflammt war, wie leuchtend sich nun erneut Bild über Bild schob, der frische Binnenwind, der Nettler hierbei ins Gesicht blies, duldete kein Verharren, das zur Besinnung eingeladen hätte, sondern nötigte das Auferstandene zur Eile. Und während es gleichmäßig schnell, ohne trödeliges Langsamerwerden, ohne Stocken und ruckartiges Beschleunigen heranrückte, dahinfloss und verschwand, erwarb es sich, befreit von den eigenwüchsigen Widrigkeiten des weichen Glases, eine neue Vertrautheit.

Erst derart flugs und stetig geworden, schien Nettler das Erkannte wirklich alt und vollends gewesen. Gleichzeitig spürte er, dass draußen vor seiner Ruhenische, unter der hohen, nächtlich dunklen Kuppel des Mittleren Büros, dessen Leiter er war, Unbekanntes bevorstand. Etwas Ungesehenes wollte Gestalt annehmen. Und die von rechts nach links flottierende Buntheit, der wärmeraubende Luftstrom auf seinem Gesicht und das lauernde Grau des Kommenden schwangen in ihm zu einem unsinnig lustigen Dreiklang zusammen.

Als Nettler den Kopf aus seiner Koje in die laue Luft des Büros hinausschob, war dort draußen, in dessen weitem Rund, über den vielen in den allnächtlichen Ruhemodus gefallenen Tischen, nicht die geringste Luftbewegung zu spüren. Auch die Erscheinungen erloschen im Nu, allein seine Anspannung dauerte fort und suchte nach irgendeinem Hinweis. Wie immer gegen Winterende war das Band der Wandbeleuchtung schmal geworden und weit nach unten gesunken. Die magere blaue Linie verlief gerade mal handhoch über dem Boden und verdickte sich nur noch an wenigen Stellen zu pulsierenden, vor- und zurückzuckenden Knoten. Das Licht, das sie abstrahlten, reichte hin, einen bescheidenen Streifen bleiche Wand zu erhellen, war aber nicht mehr stark genug, um eines der Arbeitsrechtecke einen Schatten werfen zu lassen.

Von Nettlers Kollegen war bloß das feine Zischeln zu hören, zu dem die Vielfalt der Atemgeräusche bei ihrem Übergang aus den Schlafnischen in die Weite des Büros verschmolz. Irgendwann hatte ihn der alte Guler auf den Rand der Öffnungen hingewiesen, durch die sie bei Einbruch der Nacht Mann für Mann auf ihre Ruhenetze krochen. Auf den ersten Blick sähen die Einstiege ja hübsch verschieden aus, jeder ein wenig anders gestreckt, jedes Oval ein bisschen anders verbeult. Als habe die bleiche Wand sich redlich bemüht, jedem, ausnahmslos jedem, ein unverwechselbares Schlupfloch zu bieten. Die Kanten jedoch stimmten in allen wesentlichen Merkmalen überein.

Nettler hatte dies damals, so unauffällig sich dergleichen bewerkstelligen ließ, bei den Einstiegen nachgeprüft, die seiner Koje rechts und links am nächsten lagen. Der alte Schlaukopf hatte recht: Zwischen den engen Hohlräumen ihrer Ruhenischen und der voluminösen Halbkugel des Büros verschlankte sich die Wand hin zum Einstieg rundum gleich, und zuletzt war dessen bloß noch gut daumendicker Rand flach gewellt und von einer Maserung aus gerade noch ertastbaren Rillen durchzogen.

Guler behauptete, just dieser Formung könnte es geschuldet sein, dass er keinen Einzigen im großen Kollektiv der Schlummernden mit seinem Altmännerschnarchen stören müsse, nicht einmal gegen Morgen, wenn der Schlaf auch bei den Jüngeren oberflächlich wurde und ihn, den übergewichtigen Senior, nach bestimmt lautstark gewesenem Gerassel ein immer ähnlich beklemmendes Atemstocken, gefolgt von einem lauthals japsenden Luftholen, endgültig ins Wache hinüberschrecken ließ.

Er mochte Guler. Nettler gefiel dessen Art, sich ungeniert einen Reim auf das zu machen, was Welt war. Der alte Knabe hatte ein Auge für das Wuchtiggroße und Winzigkleine, für das Scharfe wie für das Stumpfe, für Glanz und Mattheit. Guler spürte mit den Fingerkuppen, ob etwas hohl oder massiv war und in seiner Tiefe knochig hart oder markig weich. Sogar wie dicht ein Fleck bleiche Wand vom silbernen Haardraht durchwuchert wurde, behauptete er mit der Zungenspitze herausschmecken zu können. Und gelegentlich scheute sich ihr Dicker nicht, solche Wahrnehmungen mit angeblichen Ursachen, mit verblüffend einleuchtenden oder haarsträubend abwegigen Gründen zu verknüpfen.

Natürlich konnte einem ein Kommentar Gulers gehörig gegen den Strich gehen, so man sich gerade, über den hüfthohen Arbeitstisch geneigt, damit abmühte, einen vertrackt von rechts nach links ruckelnden, vertikal wegsackenden, drei oder vier, gelegentlich sogar alle fünf Ebenen ineinander verschmierenden Bildfluss, irgendein grellbuntes Tohuwabohu im Weichglas des Tisches zu bremsen, zu glätten und zu etwas Erkenn- und unter Umständen Verwertbarem zusammenzudenken. «Verflucht, Guler! Kümmere dich um dein eigenes Zeug!», wurde regelmäßig über eine Schulter geknurrt. Aber jeder von ihnen hatte auch schon von den unverhofften Einwürfen des Alten profitiert und den einen oder anderen Hinweis mit einem widerwilligen «Verflixt, Dicker, wo du recht hast, darfst du recht behalten!» quittieren müssen.

Erst gestern hatte sich Guler auf eine selbst für ihn schamlos drastische Art um den Tisch von Rotschopf Blenker gekümmert. Wie es sich gehörte, hatte der junge Kerl frühmorgens Mitteilung gemacht, dass seine Platte, schon bevor sie vollends hell geworden sei, heftig zu flackern begonnen habe. In der Mittagszeit war der zuckende Bildstrom nach einem letzten spektakulär fauchenden Aufblitzen restlos erloschen. Nur am linken oberen Rand leuchtete noch, kleinfingertief eingesenkt und schmutzig gelb, ein rautenförmiger Fleck, dessen kümmerliches Blinken von einem gerade noch hörbaren Fiepsen untermalt wurde.

Eine solche, dem Ruhemodus der Büronacht entsprungene Höchststörung war ihnen nie zuvor untergekommen. Dicht gedrängt umringten sie Blenkers Tisch. Die Hinteren wippten in beklommener Neugier auf die Zehenspitzen. Schließlich grummelte Guler, die Platte stehe doch ein bisschen schief. Als sich Blenker zur Antwort nur gereizt gegen die sommersprossige Stirn tippte, spuckte der Alte kräftig aufs Glas, und Nettler, der sich sofort über den erstaunlich voluminösen, wasserklaren Klacks Spucke beugte, sah, wie ein ovales Bläschen aus dessen Mitte an den Rand driftete, als ginge es dieser winzigen Linse darum, Gulers Einschätzung, die Neigung von Blenkers Arbeitsplatte aus der korrekten Waagerechten, umgehend bildlich zu bestätigen.

Rotschopf Blenker war noch immer der Dienstjüngste. Nach ihm hatte kein weiterer Aspirant mehr zu ihnen ins Mittlere Büro gefunden. Für Blenker war, weil er unmittelbar nach einem Todesfall eingetroffen war, kein neuer Tisch aus dem Boden gewachsen, er hatte den frisch frei gestorbenen Platz übernehmen können. Lahm und lichtschwach war dessen verjährtes Glas damals gewesen. Aber bald zeigte sich, dass mit Blenkers blassblauen Augen, mit Blenkers wachsbleichen, bis an die Fingernägel braun getüpfelten Händen das rechte Vis-à-vis angetreten war. Erstaunlich zügig hatte die alte Platte in puncto Fließgeschwindigkeit wieder zu den anderen aufgeschlossen. Und irgendwann war ihrem Rechteck, was Helligkeit und Farbenfreude, Konturschärfe und Tiefenausbeute anging, unter den vielen Tischen allenfalls noch Nettlers Chefplatz gleichgekommen.

Jetzt, geborgen im Dunkel seiner Schlafkoje, musste sich Nettler eingestehen, dass ihn der gestrige Totalausfall mit Schadenfreude erfüllt hatte. Nicht dass er Blenker je missgönnt hätte, was da täglich von rechts nach links, in bestechender Transparenz fast immer doppelt, häufig dreifach, nicht selten vier- und, überdurchschnittlich oft, fünffach übereinandergeschichtet durch die Tiefe des weichen Glases strömte. Bildneid war es nicht gewesen, was ihn, während sie Blenkers notleidenden Platz umstanden hatten, gegen ein Grinsen hatte ankämpfen lassen.

Er mochte schlicht Blenkers Erscheinung nicht leiden. Vor allem dessen Haar hatte stets seine Abneigung erregt. Es war schreiend rotblond, der vordere Schädel bereits bis auf einen schütteren Mittelspitz kahl, nur auf dem Hinterkopf kümmerte noch, kaum fingernagelhoch, ein halbwegs dichter, spiralig verwirbelter Bewuchs. Die bloßliegende Kopfhaut war wie das Gesicht mit winzigen Sommersprossen übersät. Sogar im Nacken schienen die bräunlichen Flecklein zwei tiefe Bögen in den Haaransatz getrieben zu haben. Und wenn Nettler, von seiner Glasarbeit aufblickend, zwei Reihen vor seinem Tisch Blenkers Schädel lotrecht zur Bildgleitrichtung auf und ab wippen sah, fühlte er sich unweigerlich versucht, ihrem inzwischen längst überfällig Jüngsten etwas Übles zu unterstellen, irgendeinen verhohlenen Ehrgeiz, der eines Tages nicht vor Bildbetrug oder noch Schlimmerem zurückschrecken würde.

Gestern Mittag war Blenker durch die Sicherungsschleuse gestürmt, um in den anliegenden Gängen nach...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Büro • David Lynch • Franz Kafka • literarische Phantastik • literarischer Horror • Roman • Unterwelt
ISBN-10 3-644-04451-1 / 3644044511
ISBN-13 978-3-644-04451-7 / 9783644044517
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