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Der Fremde am Strand (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
416 Seiten
Limes Verlag
978-3-641-20473-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fremde am Strand - Lisa Jewell
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»Meisterhaft steigert Jewell die Spannung und zieht den Leser immer tiefer hinein in die lebendig erzählte Geschichte.« New York Times
An einem stürmischen Frühlingstag findet die alleinerziehende Mutter Alice am Strand vor ihrem Cottage einen Mann. Er erinnert sich weder, wie er dort hingekommen ist, noch, wie er heißt. Obwohl sie normalerweise keine mysteriösen Fremden bei sich aufnimmt, bietet Alice ihm ihre Hilfe an. Zur gleichen Zeit vermisst die frisch verheiratete Lily in London ihren Ehemann, und sie ist sicher, dass ihm etwas zugestoßen sein muss. Doch wie hängt all dies mit den Geschehnissen im Sommer 1993 zusammen? Jenem Sommer, der mit einem tragischen Ereignis endete, das auch jetzt, in der Gegenwart, noch weitreichende Konsequenzen hat ...

Lisa Jewell ist eine von Großbritanniens großen Bestsellerautorinnen. Sie wurde 1968 in London geboren und arbeitete viele Jahre in der Modebranche, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in London.

1

Alice Lake lebt in einem Haus am Meer. Das Haus ist winzig, ein Cottage der Küstenwache, das vor über dreihundert Jahren für Menschen erbaut wurde, die sehr viel kleiner waren als sie selbst. Die Decken sind schief und wölben sich, ihr vierzehnjähriger Sohn muss den Kopf einziehen, wenn er durch die Haustür geht. Ihre Kinder waren alle noch klein, als Alice vor sechs Jahren aus London hierhergezogen ist. Jasmine war zehn, Kai acht Jahre, und Romaine war ein vier Monate altes Baby. Alice hatte sich nicht träumen lassen, dass aus Kai eines Tages ein schlaksiger Teenager von einem Meter achtzig würde. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Kinder irgendwann zu groß für dieses Haus sein könnten.

Alice sitzt in ihrem winzigen Zimmer im obersten Stock. Von hier aus betreibt sie ihr kleines Gewerbe. Sie macht Kunst aus alten Landkarten. Die Bilder verkauft sie im Internet. Aber auch wenn das, was sie bekommt, schwachsinnig viel Geld für ein Kunstwerk aus alten Landkarten ist, für eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern ist es das nicht. Alice verkauft mehrere Kunstwerke pro Woche. Und das Geld reicht eben gerade so.

Vor ihrem Fenster schwingt eine Reihe ausgeblichener Wimpel im stürmischen Aprilwind zwischen viktorianischen Straßenlampen hin und her. Linker Hand ist eine Helling. Farbenfrohe kleine Fischerboote liegen dort zu beiden Seiten eines Anlegers aus Beton, und der scheußliche Schaum der Nordsee prallt gegen das felsige Ufer. Dahinter liegt das Meer. Schwarz und unendlich. Alice hat immer noch große Ehrfurcht vor der Nordsee. In Brixton, wo sie früher wohnte, blickte sie nur auf Häuserwände, auf benachbarte Gärten, ein paar Hochhäuser in der Ferne unter dunstigem Himmel. Und jetzt ist da dieses riesige Meer vor ihren Augen. Wenn sie sich auf ihr Sofa setzt, sieht sie nur Meer, als ob das Wasser ein Teil des Raums wäre, als ob es jederzeit durch die Fensterrahmen dringen und sie alle ertränken könnte.

Sie schaut wieder auf ihr iPad. Auf dem Bildschirm ist ein kleiner quadratischer Raum zu sehen. Eine Katze sitzt auf einem grünen Sofa und leckt sich das Fell, auf dem Couchtisch steht eine Teekanne. Alice kann hören, wie ihre Mutter mit der Pflegekraft spricht und ihr Vater mit ihrer Mutter. Sie versteht nicht genau, was sie sagen, denn das Mikrofon der Webcam, die sie bei ihrem letzten Besuch im Wohnzimmer installiert hat, überträgt den Ton aus den anderen Räumen nicht. Aber Alice ist beruhigt, denn sie weiß, dass die Pflegekraft da ist. Ihre Eltern werden Essen bekommen und ihre Medikamente einnehmen, sie werden gewaschen und angezogen, und in den nächsten ein oder zwei Stunden muss Alice sich keine Sorgen um sie machen.

Als sie vor sechs Jahren nach Nordengland zog, hätte sie nie gedacht, dass ihre munteren, gescheiten, gerade mal siebzig Jahre alten Eltern beide innerhalb weniger Wochen an Alzheimer erkranken und Pflegefälle werden würden.

Auf Alices Laptop ist eine Bestellung eingegangen von einem Mann namens Max Fitzgibbon. Er wünscht sich aus den Karten von Cumbria, Chelsea und Saint-Tropez eine Rose, die er seiner Frau zum fünfzigsten Geburtstag schenken will. Alice hat sofort ein Bild von dem Mann vor Augen: Er sieht gut aus für sein Alter, hat silbergraues Haar und trägt einen lila Pullover mit Reißverschluss. Auch nach fünfundzwanzig Jahren Ehe ist er immer noch unsterblich in seine Frau verliebt. Das alles kann sie an seinem Namen, seiner Adresse, an der Wahl seines Geschenks ablesen. »Große, volle Englische Rosen waren schon immer ihre Lieblingsblumen« steht in dem Kommentarfeld des Bestellformulars.

Alice schaut von ihrem Laptop auf und blickt aus dem Fenster. Er ist immer noch da. Der Mann am Strand.

Seit sie heute Morgen um sieben die Vorhänge aufgezogen hat, sitzt er dort, die Arme um die Knie geschlungen, im feuchten Sand und starrt unentwegt aufs Meer hinaus. Sie hat ihn den ganzen Tag im Auge behalten, aus Angst, er könne sich umbringen wollen. Das ist schon einmal passiert. Ein junger Mann, dessen Gesicht im fahlen Mondlicht leichenblass aussah, hatte seinen Mantel am Strand liegen gelassen und war einfach verschwunden. Das ist schon drei Jahre her, doch die Erinnerung quält Alice immer noch.

Aber dieser Mann bewegt sich nicht. Er sitzt einfach nur da und starrt vor sich hin. Die Luft ist heute kalt, und es bläst ein heftiger Seewind, der einen eisigen Gischtschleier mit an Land bringt. Dennoch hat der Mann nur ein Hemd und eine Jeans an. Er hat weder eine Jacke noch eine Tasche dabei und trägt keine Mütze und auch keinen Schal. Irgendetwas an ihm ist beunruhigend: Er ist nicht verwahrlost wie ein Obdachloser und wirkt nicht so seltsam wie die Patienten der psychiatrischen Tagesklinik im Ort. Er ist auch kein Junkie, dafür sieht er zu gesund aus, und er hat keinen Alkohol dabei. Er sieht einfach nur … Alice sucht nach dem passenden Wort, und dann fällt es ihr ein. Er sieht verloren aus.

Eine Stunde später regnet es. Alice späht durch die nasse Fensterscheibe zum Strand hinunter. Er ist immer noch da. Die braunen Haare kleben ihm am Kopf, seine Schultern und Ärmel sind von der Nässe tiefdunkel. In einer halben Stunde muss sie Romaine von der Schule abholen. Im Bruchteil einer Sekunde hat sie sich entschieden.

»Hero!«, ruft sie den scheckigen Bullterrier. »Sadie!« Das ist der alte Pudel. »Griff!« Das ist der Windhund. »Gassi gehen!«

Alice hat drei Hunde, aber nur Griff, den Windhund, hat sie sich selbst ausgesucht. Der Pudel gehört ihren Eltern. Sadie ist achtzehn Jahre alt und sollte eigentlich längst tot sein. Die Hälfte ihres Fells hat sie schon verloren, ihre Beine sind kahl und sehen aus wie Vogelbeinchen, aber sie besteht darauf, mit den anderen Hunden hinauszugehen. Und Hero, der Bullterrier, gehörte ihrem früheren Untermieter. Barry verschwand eines Tages und ließ ihr alles da, auch seine gestörte Hündin. Auf der Straße muss Hero einen Maulkorb tragen, denn sonst fällt sie Kinderwagen und Rollerfahrer an.

Während die Hunde sich um sie scharen und Alice die Leinen an ihren Halsbändern befestigt, fällt ihr Blick auf etwas am Kleiderhaken, das Barry in seiner Nacht-und-Nebel-Aktion ebenfalls vergessen hat: eine abgetragene alte Jacke. Unwillkürlich rümpft sie die Nase. In einem Moment geistiger Umnachtung – und größter Einsamkeit – hat sie einmal mit Barry geschlafen. Das bereute sie bereits, als er auf ihr lag und sie den Käsegeruch bemerkte, der aus jeder Pore seines leicht schwabbeligen Körpers strömte. Sie hielt den Atem an und machte weiter, aber seitdem brachte sie ihn immer mit diesem Geruch in Verbindung.

Vorsichtig zieht sie die Jacke vom Haken und legt sie sich über den Arm. Dann nimmt sie die Hundeleinen und einen Regenschirm und geht in Richtung Strand.

»Hier«, sagt sie und reicht dem Mann die Jacke. »Sie müffelt ein bisschen, aber sie ist regendicht. Und sie hat eine Kapuze, schauen Sie mal.«

Der Mann dreht sich langsam zu Alice um und sieht sie an.

Anscheinend hat er sie noch nicht verstanden, also redet sie einfach weiter. »Die Jacke hat Barry gehört. Mein ehemaliger Untermieter. Er war ungefähr so groß wie Sie. Aber Sie riechen besser. Natürlich weiß ich das nicht genau. Aber Sie sehen so aus, als würden Sie gut riechen.«

Der Mann schaut zu Alice und dann auf die Jacke.

»Also«, sagt sie. »Wollen Sie sie?«

Immer noch keine Antwort.

»Okay. Ich werde die Jacke hier bei Ihnen liegen lassen. Ich brauche sie nicht, und ich will sie auch nicht. Sie können sie also genauso gut behalten. Auch wenn Sie sich nur draufsetzen. Sie können sie auch in den Müll werfen, wenn Sie wollen.«

Sie legt die Jacke neben ihm ab und richtet sich auf. Sein Blick folgt ihr.

»Danke.«

»Sie können also doch sprechen?«

Er scheint überrascht. »Natürlich kann ich sprechen.«

Dem Akzent nach zu schließen, kommt er aus dem Süden. Seine Augen haben die gleiche rötlich braune Farbe wie seine Haare und die Stoppeln an seinem Kinn. Er sieht gut aus. Wenn man dunkle Typen mag.

»Schön«, sagt sie und steckt die eine Hand in ihre Jackentasche, während die andere den Knauf des Regenschirms umklammert. »Das freut mich.«

Er lächelt und greift mit einer Hand nach der feuchten Jacke. »Sind Sie sicher?«

»Wegen der Jacke? Sie würden mir einen Gefallen tun. Ganz im Ernst.«

Der Mann zieht sich die Jacke über die nassen Klamotten und fingert eine Weile am Reißverschluss herum, bevor er ihn zubekommt. »Danke«, sagt er noch einmal. »Vielen Dank.«

Alice dreht sich um und schaut, wo die Hunde abgeblieben sind. Sadie sitzt durchnässt und noch dünner als gewöhnlich neben ihr; die anderen beiden tollen am Ufer herum. Dann wendet sie sich wieder dem Mann zu. »Warum gehen Sie nicht rein bei dem Regen?«, fragt sie. »Laut Wettervorhersage wird es bis morgen früh so weiterregnen. Sie werden noch krank.«

»Wer sind Sie noch mal?«, fragt er und kneift die Augen zusammen, als ob sie ihm schon ihren Namen genannt und er ihn nur kurz vergessen hätte.

»Ich bin Alice Lake. Sie kennen mich nicht.«

»Nein«, sagt er. »Ich kenne Sie nicht.« Diese Tatsache scheint ihn zu beruhigen.

»Ich geh jetzt besser«, sagt Alice.

»Natürlich.«

Alice zieht die Leine straff, und Sadie steht mit wackligen Beinen auf, als wäre sie eine frisch geborene Giraffe. Alice ruft nach den anderen beiden Hunden, aber die beachten sie gar nicht. Sie seufzt genervt und ruft noch einmal. »Blöde Viecher«, murmelt sie bei sich. »Kommt schon!«, brüllt sie laut und läuft auf die Hunde zu. »Kommt...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2018
Übersetzer Carola Fischer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel I Found You
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestsellerautorin • eBooks • England • Familie • Geheimnis • Jodi Picoult • Liebe • Spannung • Sunday-Times-Bestsellerautorin • Vergangenheit
ISBN-10 3-641-20473-9 / 3641204739
ISBN-13 978-3-641-20473-0 / 9783641204730
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