Hinter den Türen (eBook)
400 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-20311-5 (ISBN)
Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrem Mann in Salzburg, wo sie auch gemeinsam Schreibseminare geben.
1
Köln, Samstag, 17. März 2007
Nebenan öffnete sich das Garagentor. Die kleinen Öhrchen von unserer temperamentvollen Zwergschnauzerdame schossen elektrisiert in die Höhe. Das schwarze Wollknäuel stürzte sich wie ein Wurfgeschoss vom Sofa und kläffte begeistert die Haustür an, während das rotierende Schwänzchen die Schirme im Schirmständer aus dem Gleichgewicht brachte.
Die schweren Schritte Jonathans, der den Großeinkauf ins Haus schleppte, brachten das helle Wohnzimmerparkett zum Zittern. Dazu das Gepolter von Tim und Lilli, das die Wände zum Wackeln brachte. Vorbei war es mit der seligen Ruhe. Seufzend ließ ich die Samstagszeitung aufgeschlagen auf dem Sofa liegen und rappelte mich auf, um meine Lieben zu begrüßen.
Was ich da gerade gelesen hatte, hatte mich tief berührt. Ich musste minutenlang auf die Anzeige gestarrt und darüber Zeit und Raum vergessen haben.
Okay. Showtime und Action. Ich atmete einmal tief durch und riss die Haustür auf. »Hallo, ihr Mäuse! War es schön bei den Pfadfindern?«
»Wir haben gelernt, wie man Feuer macht!« Tim stürmte an mir vorbei zum Gästeklo. Sein elfjähriges Bubengesicht wies Rußspuren auf, seine Augen leuchteten vor Begeisterung und Stolz. »Aber ich hab mich nicht getraut, in den Wald zu kacken, dabei musste ich schon die ganze Zeit so dringend!«
»Tim!« Ich verbiss mir ein lautes Lachen. »Wir kennen doch andere Wörter dafür!«
»Meine Notdurft verrichten«, verbesserte er sich mit den gestelzten Worten, die ich ihm offensichtlich einmal irgendwann beigebracht haben musste, während er die Tür zuschlug und hektisch verriegelte.
»Lass mich mal vorbei, Schatz.« Mein Hüne von Mann schleppte zwei Mineralwasserkisten in die Küche und ließ noch eine Großpackung Toilettenpapier, die er unters Kinn geklemmt hatte, vor die Klotür fallen. Jon hätte aus einem Cowboyfilm entsprungen sein können: groß, zupackend, verdammt gut aussehend und sexy. Flanellhemd, Jeans, Boots, Dreitagebart und Grübchen am Kinn. Statt eines Cowboyhuts trug er allerdings einen lässigen Männerdutt, und statt Pferd hatte er unsere Familienkutsche in der Garage geparkt.
Grinsend drückte er mir einen stacheligen Kuss auf die Lippen und klopfte lässig an die Klotür.
»Großer? Hier draußen liegt Nachschub!«
»Lass mich! Ich muss mich konzentrieren!«
»Aber hinterher Hände waschen!«
»Abziehen, Klodeckel zu, Hände waschen, lüften«, hallte es genervt durch die Tür.
»Juliane, hilfst du mir mal eben?« Jon war schon wieder auf dem Weg in die Garage, umkläfft von Socke, die ihm mit spitzen Welpenzähnchen an den Schuhbändern nagte. »Im Auto sind noch ein Karton Milch und die üblichen Kleinigkeiten.«
»Das kann ich doch machen!« Meine neunjährige Lilli rannte hilfsbereit hinter ihm her und versuchte tatsächlich, mit ihrer zierlichen Figur den Karton aus dem Kofferraum unseres Vans zu wuchten.
Ich schlüpfte in die Clogs, die vor unserer Haustür standen, und half meiner eifrigen Tochter, während Socke inzwischen kampfeslustig das liebevoll bereitgestellte Klopapier zerbiss und mit der daraus resultierenden Papierflut kämpfte.
»Kinder, ihr macht mich fertig!« Ich nahm Lilli den Karton ab. »Lilli, gib mir das und kümmre dich lieber um den Hund.«
Sofort trippelte das liebe Kind davon. Meine Kinder gehorchten mir aufs Wort. Der Hund weniger, der Mann gar nicht.
»Socke!« Lilli pulte durchgespeichelte Papierballen aus dem Hundemäulchen.
Wie ein Storch im Salat balancierte ich mit der Großpackung Milchtüten über das Knäuel hinweg und nahm die feuchten Fetzen aus der Hand meiner Tochter entgegen.
»Danke, Lilli. Du bist ein gutes Kind.«
»Jeden Tag eine gute Tat«, trumpfte Lilli auf. »Das lernen wir bei den Pfadfindern!«
Dann kletterte sie auf einen Hocker und wusch sich brav die Hände. Verzückt sah ich das eifrige Mädchen von der Seite an und hoffte, sie würde immer so bleiben. Niemals sollte aus ihr ein widerborstiges Pubertier werden, niemals! Dafür hatten Jon und ich uns aber auch unendlich viel Mühe mit der Erziehung gegeben. Schließlich waren wir beide als Sozialpädagogen vom Fach.
»Boah, Mama, das riecht ja super, was brutzelt denn da im Ofen?«
»Ich hab mich mal wieder an einem Gemüseauflauf versucht!« Schmunzelnd räumte ich die Einkäufe in den Kühlschrank und schubste die Tür mit der Schulter zu.
Im Werbespot wäre jetzt das gute Gewissen weich gespült ins Bild geflogen und hätte mit sanfter Stimme meine hausfraulichen Qualitäten gelobt. Doch die Realität war noch besser: Mein Kind flog mir begeistert um den Hals.
»Oh, Mama, du bist die Beste! Den mit meinem Lieblingskäse?«
»Und frischen Kräutern. Ich war heute Morgen noch auf dem Wochenmarkt.«
Lilli hüpfte erfreut vom Hocker. »Darf ich dann den Salat anrichten?«
»Du darfst mir helfen, Lilli. – Tim, hast du die Hände gewaschen?« Mein Sohn war von seiner geschäftlichen Besprechung zurückgekehrt.
»Aye, aye, Sir. – Boah, sieht das lecker aus!«
»Dein Lieblingsessen, Tim: überbackene Auberginen mit Tomaten, die auf der Zunge zergehen.«
»Geil!«
»Tim!«
»Sorry. Ich meine natürlich: köstlich!« Er grinste. »Sind das Biotomaten?«
»He, nicht mit den Fingern in die Salatschüssel greifen!«
Unter Geplauder und dem glücklichen Gebell unseres überdrehten Hundeviehs richteten wir den Salat an und holten die Teller aus dem Schrank. Ich musste kurz innehalten und meine geliebte Bande bewundern. Ich liebte alle drei so sehr, dass ich mich manchmal in den Arm kneifen musste. Alles war perfekt! Unser kleines Reihenhäuschen am Rande des Kölner Stadtwalds in der stillgelegten Spielstraße, unsere nette Nachbarschaft in den identischen Reihenhäusern mit den gepflegten kleinen Vorgärten – mit unserer wunderbaren Familie hätten wir jederzeit Werbung für eine Lebensversicherung machen können. Auch beruflich lief alles rund: Jon war seit Kurzem Pflegedienstleiter in der Uniklinik, worauf wir alle mächtig stolz waren, und ich arbeitete von montags bis freitags halbtags in einer Kita. Unsere Kinder waren gute Schüler, aber was noch viel wichtiger war: gute kleine Menschen. Sie waren sportlich, spielten verschiedene Instrumente und engagierten sich sozial wie zum Beispiel samstagvormittags bei den Pfadfindern. Sie standen in der Straßenbahn für ältere Leute auf, hielten uns die Tür auf und sagten »Bitte« und »Danke«. Sie grüßten höflich und gehorchten uns meistens. Jon und ich waren moderne Vorzeigeeltern. Und liebten uns immer noch wie am ersten Tag voller Achtung und Wertschätzung. Wenn ich darüber nachdachte, dass ich früher seine Chefin gewesen war und er mein vier Jahre jüngerer Zivildienstleistender, entrang sich mir immer noch ein Grinsen. Erst war ich ja wahnsinnig in meinen Psychologieprofessor Fausto verliebt gewesen, einen distinguierten Signore italienischer Abstammung, der heute ein angesehener Psychiater in leitender Stelle an der Neuroklinik war. Aber als damals der blonde lässige Jonathan in mein Leben schneite, war der Professor nur noch Schnee von gestern. Noch immer war Jon mein Traummann: ein Künstlertyp mit handwerklichem Geschick.
»Was willst du mit der Taucherbrille, Tim?«
»Zwiebeln schneiden.« Den Sinn fürs Praktische hatte er von seinem Vater geerbt.
»Aber Vorsicht, Großer. Du brauchst deine Finger noch.«
»Ja, zum Gitarrespielen! Darf der Gregor heute Nachmittag zum Üben kommen? Wir wollen eine Band gründen!«
»Geht klar, Sohn. Wenn es nicht zu laut wird.«
»Und die Jasmin zu mir?«, sagte Lilli flehend. »Wir wollen ein großes Puzzle legen und sind auch ganz leise!«
Jon und ich wechselten zärtliche Blicke. Dann hätten wir ja mal wieder ein Stündchen Zeit für Zweisamkeit!
Als ich merkte, wie mir die Röte der Vorfreude in die Wangen schoss, bückte ich mich schnell nach dem Ofen.
»Lass mich das machen, Juliane.«
Die Adern in Jons durchtrainierten Armen traten hervor, als er mir die schwere Auflaufform mit seinen Topfhandschuhen abnahm. »Vorsicht, heiß!«
Er wuchtete den goldkross überbackenen Auflauf auf die Anrichteplatte.
Ich klatschte in die Hände.
»Kinder, Servietten fehlen noch, und Gläser! Und stell die frischen Blumen in die Mitte, Lilli!«
Endlich saßen wir am runden Esszimmertisch in der sonnendurchfluteten Wohnküche mit Blick auf unsere kleine Terrasse.
Der Frühling hielt schon Einzug, die Birken wiegten sich sanft im Wind, und mein Arrangement aus gelben und roten Tulpen bog sich anmutig. Die schräg stehende Sonne tauchte unsere ockerfarbenen Wände mit den Kinderfotos in ein warmes Licht: Tim und Lilli als rundliche Babys in den Armen ihrer Paten, als niedliche Kleinkinder mit gleichaltrigen Nachbarskindern im Sandkasten, mit den ersten Fortbewegungsmitteln wie Roller oder Dreirad auf der Straße, später beim Wandern, beim Zelten, bei der ersten längeren Radtour. Aus den rundlichen Kleinkindern waren schlanke Schulkinder geworden. Und es würden noch viele Fotos dazukommen.
Jon und die Kinder ließen es sich schmecken.
»Hast du da was in der Zeitung eingekringelt?« Tim verrenkte sich neugierig den Hals. »Sind das die Kleinanzeigen? Wollen wir was kaufen?«
»Bitte nicht mit vollem Mund, mein Herz.« Ich wischte mir die Mundwinkel mit der Serviette ab und hoffte, wie immer ein gutes Vorbild abzugeben.
»Und wo haben wir die Ellbogen?«, fragte...
Erscheint lt. Verlag | 23.4.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Kinderprostitution • Pflegefamilie • Pflegekinder • Sexueller Missbrauch • Tatsachenroman |
ISBN-10 | 3-641-20311-2 / 3641203112 |
ISBN-13 | 978-3-641-20311-5 / 9783641203115 |
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