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Die geliehene Schuld (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
576 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-20922-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die geliehene Schuld -  Claire Winter
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Berlin, Sommer 1949: Die Redakteurin Vera Lessing hat während des Zweiten Weltkrieges ihre Eltern und ihren Mann verloren. Sie will vor allem eines - die traumatischen Erlebnisse für immer hinter sich lassen. Doch als ihr Jugendfreund und Kollege Jonathan auf mysteriöse Weise ums Leben kommt, wird sie unweigerlich in seine Arbeit hineingezogen. Jonathan hat Recherchen über ehemalige Kriegsverbrecher betrieben. Gleichzeitig stand er im persönlichen Kontakt mit einer jungen Frau namens Marie Weißenburg, eine Sekretärin im Stab Konrad Adenauers. Vera geht den Spuren nach, die sie bis in die mächtigen Kreise der Geheimdienste führen.

Inklusive aufklappbarem Lesezeichen mit Personenverzeichnis

Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, historische Fakten genau zu recherchieren, um sie mit ihren Geschichten zu verweben, und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Claire Winters Romane finden sich regelmäßig auf den SPIEGEL-Bestsellerlisten. Die Autorin lebt in Berlin.

MARIE

9

Ihr Herz klopfte aufgeregt. Der Mann vor ihr, der sich ihr knapp als Wilhelm Krüger vorgestellt hatte, wirkte streng. Sein Mund war kaum mehr als ein Strich unter seinem langen geschwungenen Schnurrbart, der nicht ganz in die Zeit passen wollte und Marie an ein Foto ihres Großvaters erinnerte. Zwischen seinen Brauen zeigte sich eine tiefe eingekerbte Falte, die einen ewig skeptischen Ausdruck in sein hageres Gesicht gebrannt zu haben schien. Abschätzend musterte er sie, als überlegte er, ob es wirklich der Mühe wert war, sich mit ihr näher zu beschäftigen.

Marie versuchte, ihre aufrechte Haltung beizubehalten und ihre Handflächen, die längst vor Aufregung feucht geworden waren, sittsam gefaltet auf ihrem Schoß zu lassen. Die einzig angemessene Haltung für eine junge Dame bei einem Vorstellungsgespräch, wie ihr Frau Boehmer in der Sekretärinnenschule immer wieder eingebläut hatte. »Erwidern Sie freundlich den Blick – ohne zu viel zu lächeln, das wirkt unsicher!« Die gebetsmühlenartig vorgetragenen Anweisungen waren ihr stets lächerlich vorgekommen. Doch jetzt war sie dankbar dafür, weil sie sich daran festhalten konnte. Sie musste einen guten Eindruck machen, denn sie wollte die Stelle unbedingt! Herr Krüger, der außer einem kurzen Begrüßungssatz noch immer nichts gesagt hatte, blätterte indessen weiter in ihren Bewerbungsunterlagen. Was um Gottes willen gab es darin so viel zu lesen?

Marie widerstand dem Impuls, ihre Augen durch den Raum wandern zu lassen. Auch das gehörte sich nicht, wie sie gelernt hatte. Beim Hereinkommen hatte sie nur kurz die schlichte Einrichtung aus alten Holzmöbeln wahrgenommen.

Den Blick weiter auf Herrn Krüger gerichtet, fiel ihr zu dessen rechter Seite auf dem Schreibtisch der hohe Stapel Akten auf. Waren das alles Bewerbungen? Es waren mehrere Stellen ausgeschrieben, doch angesichts dieser Zahl von Konkurrenten schwand auf einmal ihre Hoffnung, genommen zu werden.

Endlich sah Herr Krüger auf. »Wie alt sind Sie, Fräulein Weißenburg?«, fragte er kühl.

»Ich bin letzten Winter zwanzig geworden, Herr Krüger.«

»Ein bisschen jung für solch eine Stelle, nicht wahr?«

Sie schwieg, weil sie das Gefühl hatte, dass jede Antwort darauf falsch gewesen wäre und er offensichtlich zu der Sorte Menschen gehörte, die es generell nicht mochten, wenn man ihnen widersprach.

Er zwirbelte seinen Schnurrbart. »Immerhin, Ihre Zeugnisse sind einwandfrei, und Ihre Tippgeschwindigkeit ist herausragend. Außerdem hat Frau Boehmer Sie mir persönlich empfohlen!«

An und für sich wäre diese Feststellung ein Kompliment gewesen, doch in seinem Tonfall schwang die gleiche Skepsis mit, die auch in seinem Gesicht zu lesen stand.

Er musterte Maries zierliche Gestalt streng, und sie fragte sich, ob sich vielleicht eine Strähne aus ihrem hochgesteckten Haar gelöst hatte. »Sind Sie sich darüber im Klaren, wie verantwortungsvoll Ihre Arbeit hier wäre?«

»Ja, selbstverständlich. Das bin ich, Herr Krüger«, erwiderte sie eilig. Die Stelle war ausgeschrieben für vertrauliche Sekretariatsarbeiten bei dem gerade ins Leben gerufenen Parlamentarischen Rat, der ab September in Bonn seine Arbeit aufnehmen würde. Politische Vertreter aus den Ländern der westlichen Besatzungszonen sollten dort zusammen eine gesetzliche Grundlage für eine Verfassung bestimmen und verabschieden. So ganz war ihr zwar nicht klar, was das im Einzelnen bedeutete, aber dass die Arbeit einer Sekretärin in diesem Zusammenhang besonders vertrauensvoll und wichtig war, verstand sich von selbst.

»Und Ihre Eltern sind einverstanden, dass Sie diese Beschäftigung annehmen?«

»Ja, meine Mutter würde sich sehr freuen. Mein Vater lebt nicht mehr«, fügte sie hinzu.

Er blickte auf. »Er ist gefallen?«

»In Russland. Er war Offizier.«

Er nickte knapp, aber zum ersten Mal, seitdem sie den Raum betreten hatte, schien die Strenge für einen Augenblick aus seinem Gesicht zu weichen. »Das tut mir leid. Es sollte Ihnen ein Trost sein, dass viele gute Männer dort ihr Leben gelassen haben. Sie wohnen zusammen mit Ihrer Mutter in Köln?«

»Mit ihr und meinen beiden Brüdern.«

Herr Krüger fuhr mit seinen Fragen fort, und nachdem er sie noch darüber belehrt hatte, dass die Arbeit es unter Umständen erfordern könnte, dass sie sich in Bonn ein Zimmer nehmen müsse, forderte er sie auf, ihm zu folgen.

Sie liefen durch einen langen, weiß getünchten Gang und stiegen die Treppen hoch, bis sie schließlich im obersten Stockwerk zu einem Raum gelangten, in dem augenscheinlich bereits geschäftiger Bürobetrieb herrschte. Ein Mann im Anzug, der in den Vierzigern war, stand neben einem Tisch und telefonierte, den Hörer an den Hals geklemmt, während er sich gleichzeitig Notizen machte. Im Hintergrund saßen eine Sekretärin und ein Sekretär und tippten mit ratternden Geräuschen in schneller Geschwindigkeit auf ihren Schreibmaschinen. Tische und Schränke waren mit Akten und Unterlagen überladen.

Herr Krüger blieb in überraschend untertäniger Haltung im Raum stehen und wartete, bis der Mann am Telefon sein Gespräch beendet hatte.

»Verzeihen Sie, Herr Blankenhorn, dass ich Sie störe, aber das ist Fräulein Weißenburg, die uns empfohlen wurde«, sagte er schließlich beflissen.

Marie machte einen höflichen Knicks, als der Angesprochene ihr freundlich die Hand schüttelte. »Sie können tippen?«

Sie bejahte seine Frage.

»Sie war die Schnellste in dem Lehrgang von Frau Boehmer«, ergänzte Herr Krüger neben ihr eilig.

Blankenhorn, der sich gegen den Schreibtisch gelehnt hatte, nickte zufrieden. »Sehr gut.« Er wollte sich wieder dem Telefon zuwenden, aber dann hielt er noch einmal inne und wandte den Kopf wieder zu Marie. »Sie sind doch nicht Mitglied in der Sozialdemokratischen oder Kommunistischen Partei, oder?«

Marie schaute ihn verwirrt an. »Ich … nein. Ich meine, ich bin in gar keiner Partei.« Ihr Blick glitt Hilfe suchend zu Herrn Krüger, und sie spürte, wie ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg. War eine Parteizugehörigkeit etwa Voraussetzung für die Einstellung?

Blankenhorn zwinkerte ihr zu. »Nur ein kleiner Scherz. Wir wollen uns doch nicht den Feind ins eigene Lager holen. Sie werden nämlich für das Büro des Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Partei der britischen Zone arbeiten, für Herrn Adenauer«, fügte er hinzu.

Sie horchte auf. Der Name Adenauer war Marie natürlich bekannt. Bei ihrer Vorbereitung auf dieses Gespräch hatte sie sich auf Anraten von Frau Boehmer die Namen der Parteivorstände und Ministerpräsidenten der westlichen Zonen eingeprägt, aber Konrad Adenauer war ihr noch aus einem anderen Grunde ein Begriff. Er war nach dem Krieg für kurze Zeit Oberbürgermeister in Köln gewesen.

Erfreut blickte sie Blankenhorn an, als ihr klar wurde, was er gerade gesagt hatte. »Dann habe ich die Stelle?«

Er lächelte. »Wenn Sie so schnell tippen können, wie alle behaupten, ja. Sie können morgen anfangen.« Er deutete zu den überladenen Schreibtischen. »Wie Sie sehen, brauchen wir dringend Hilfe hier«, sagte er und wandte sich mit diesen Worten wieder dem Telefon zu, während Herr Krüger sie auch schon aus dem Raum dirigierte.

10

Marie konnte ihr Glück kaum fassen. Auf dem Rückweg nach Köln hatte sie Mühe, in der Bahn still zu sitzen. Aufgeregt schaute sie aus dem Fenster. Draußen gab die Strecke in der Kurve für einen kurzen Moment den Blick auf den Rhein frei, der sich in einem breiten Band durch die Landschaft schlängelte. Auf der anderen Uferseite erhoben sich sanfte grüne Abhänge mit Wiesen, Feldern und Ortschaften, deren Häuser aus der Ferne wie kleine Puppenstuben wirkten. Hier schien alles noch so, wie es einmal gewesen war, und man konnte sich fast der Illusion hingeben, es hätte nie einen Krieg gegeben. Köln dagegen war von der Zerstörung gezeichnet. Ihre Gedanken wanderten unweigerlich zurück zu den Tagen im Frühjahr 1945, als sie völlig ausgehungert mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Fritz in der Ruinenstadt angekommen war. Trotz aller Gefahren hatte sie sich von Berlin aus durch das vom Krieg zerrissene Land auf den Weg nach Köln gemacht. Die Rheinstadt war bereits im März von den Amerikanern erobert worden. Freunde ihres Vaters hatten ihnen dringend nahegelegt, sich zu ihrer eigenen Sicherheit dorthin zu flüchten und Berlin unter allen Umständen zu verlassen. Der Kampf um die deutsche Hauptstadt würde bis zum bitteren Ende geführt werden, und von den Russen, die die Stadt als Erste erreichen würden, hatten die Deutschen keine Gnade zu erwarten. Es war Marie völlig verrückt erschienen, doch ihre Mutter und Fritz – Helmut, der älteste Bruder, befand sich damals noch an der Front – hatten nicht mit sich reden lassen. Nur schemenhaft hatte sie die grauenhaften Tage noch in Erinnerung: die langen Strecken, die sie zu Fuß gegangen waren, abseits von den großen Straßen, wie sie sich über Felder und durch Wälder ihren Weg erkämpft hatten, um keinen Soldaten und Patrouillen in die Hände zu fallen. Oft waren sie so erschöpft, dass sie keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnten. Manchmal hatten sie sich über Stunden in irgendeinem Schuppen oder Straßengraben verstecken müssen, weil die Scheinwerferlichter herannahende Truppen verrieten. Marie lernte, dass Hunger und Kälte schrecklich waren, aber nichts gegen den Durst, der sie glauben ließ, verrückt zu werden. Es schien ihr immer noch wie ein Wunder, dass sie nach den tagelangen Strapazen tatsächlich lebend in Köln angekommen waren. Der Schock...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • CIA • eBooks • Frauenfreundschaft • Geheimdienst • Historische Liebesromane • Historische Romane • Kriegsverbrecher • Liebesromane • Nachkriegszeit • Nürnberger Prozesse • Reinhard Gehlen • Roman • Romane
ISBN-10 3-641-20922-6 / 3641209226
ISBN-13 978-3-641-20922-3 / 9783641209223
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