Arkane (eBook)
608 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-22015-0 (ISBN)
Pierre Bordage, 1955 im Département Vendée geboren, studierte Literaturwissenschaft in Nantes. Mit seinem ersten Roman Die Krieger der Stille landete er auf Anhieb einen riesigen Publikumserfolg. Das Buch wurde mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem renommierten Grand Prix de l'Imaginaire. Der Autor lebt mit seiner Familie in Boussay an der Atlantikküste.
1
DAS HAUS DES DRACHEN
Es geschah, dass der Odivir über seine Ufer trat und das Land Arkane, das damals Tagris genannt wurde, überschwemmte – vom nördlichen Ostian-Massiv bis hin zu den weit entlegenen, finsteren Sümpfen im Süden. Die verzweifelten Schreie der Mütter rührten die sieben Göttinnen des Flusses, und sie befahlen ihren Dienern, sieben Menschenfamilien zu verschonen.
Die erste Familie wurde vom rotgeschuppten Drachen gerettet, die zweite vom orange gefiederten Adler, die dritte vom gelbhäutigen Delfin, der vierten Familie half der Wolf mit dem grünen Fell, der fünften der blau gefleckte Corridan, der sechsten der Nachtbär aus den Weihern, und die siebte schließlich rettete die Orbal, die violette Schlange, die im schlammigen Untergrund lebt.
Die sieben aus den Wassern geborgenen Familien flüchteten sich auf den höchsten Hügel von Tagris. Die Diener der Göttinnen brachten ihnen Fisch, sodass sie nicht Hunger litten, bis das Hochwasser zurückgegangen war.
Der Odivir zog sich in sein Flussbett zurück, nachdem er den Boden fruchtbar gemacht hatte. Die Familien beschlossen, auf dem Gipfel des Hügels eine Stadt zu gründen, die sie Arkane tauften, was in der Sprache unserer Väter die Unsinkbare bedeutet.
Die Familien nahmen die Namen der Diener an, die sie gerettet hatten. Es gab das Haus des Drachen, das Haus des Adlers, das Haus des Delfins, das Haus des Wolfs, das Haus des Corridans, das Haus des Bären und das Haus der Orbal …
Heldenepos von Arkane,
Überlieferung der Erzähler im Chor, Arkane
Atemlos blieb Oziel in der schmalen Gasse stehen, die sich eine endlose graue Mauer entlang zog. Das Morgenlicht war noch nicht durch den grauen, kalten Schleier am Himmel über den Höhen von Arkane gedrungen. Aus der schläfrigen Stadt stieg dumpfer Lärm auf, in den sich liebliches Vogelgezwitscher mischte. In weniger als dem Viertel einer Sexte würden die Karren und Träger der Kaufmannsgilde Mühe haben, sich einen Weg durch die laute, bunte Menge auf den Plätzen und in den Straßen zu bahnen.
Oziel atmete tief durch und überzeugte sich davon, dass kein steinernes Auge in ihrer Nähe war. Sie war noch keinem begegnet und es war unwahrscheinlich, ausgerechnet hier, mitten in dieser Gasse, auf eines zu treffen, aber es kursierten so viele Gerüchte über die Petrokel, dass sie es sofort erkannt hätte. Ulio behauptete, dass man nur seinen Blick kreuzen musste, um versteinert zu werden. Sie hatte nie auch nur den geringsten Anflug von Spott in den Augen ihres Bruders bemerkt, wenn er diese Worte mit entsetzter Stimme aussprach.
Plötzlich fiel Oziel die Abwesenheit der Legionäre auf: Auf ihrem ganzen Spaziergang hatte sie nicht einen einzigen schwarz Uniformierten gesehen. Treu ihrer Devise: Den sieben Überlebenden des Flusses dienen wir unterschiedslos und beschützen sie stets gegen alle Feinde, patrouillierte die Legion der Höhen Tag und Nacht in der Stadt, um einen, eher unwahrscheinlichen, Angriff von außerhalb zu verhindern – etwa einen Aufstand der Bevölkerung der unteren Ebenen alle zwei- oder dreihundert Jahre, oder auch die häufiger vorkommenden Überfälle der herrschenden Familien untereinander.
Voller Unruhe drängte sie sich in eine Mauernische. Wie jeden Morgen hatte sie einen Geheimweg genommen, den nur sie kannte, und sich immer weiter in die dämmrigen Gassen vorgewagt. Sie hatte sich vom Anwesen des Drachen entfernt, um ihre tägliche Erkundungstour durch die Höhen zu unternehmen. Nach ihrem achtzehnten Geburtstag vor einem Jahr hatte sie das dringende Bedürfnis verspürt, das Familienanwesen zu verlassen, um sich in das Herz einer Stadt zu mischen, die sie so wenig kannte. Als neunte Nachkommin in der Erbfolge des Hauses des Drachen hatte sie bis zu dem Moment nur ein paar flüchtige Eindrücke von Arkane gewonnen, wenn sie durch den Spalt im schweren Vorhang der Kutsche blickte, der sie zu offiziellen Feierlichkeiten brachte. So weitläufig und grün die Straßen und Plätze auch waren, die Viertel vom Haus des Drachen waren für sie zu klein geworden.
Sie erinnerte sich an das eingefallene Gesicht ihres Vaters, der ihr am Vorabend nach dem Essen auf dem Gang begegnet war, und an seinen schmerzerfüllten Blick. Seitdem der Rat der Sieben seinen ältesten Sohn Matteo für immer in die Tiefen verbannt hatte, lachte Patriarch Nunzio nicht mehr, und noch nie hatte Oziel eine derartige Verzweiflung in seinen hellen Augen gesehen. In den vergangenen Wochen war das Gerücht umgegangen, dass die Häuser des Adlers, des Bären und des Delfins eine Allianz geschmiedet hatten. So plötzlich, dass es ihr den Atem nahm, erkannte sie, dass es sich diesmal nicht um eine der nichtigen Streitereien handelte, die die Herrscherfamilien so regelmäßig in Rage brachten wie der Wind die Wellen auf den Wasserbecken: Matteo in die Verbannung zu schicken war nur der erste Schritt eines durchdachten Plans, der bald schon in die Tat umgesetzt würde.
Man hatte beschlossen, den Drachen zu töten.
In den vielen Jahrhunderten seit der Gründung von Arkane war keine Herrscherfamilie je vom Untergang bedroht gewesen. Alle hatten sie der Reihe nach Schicksalsschläge hinnehmen müssen; sie hatten Skandalen, Verschwörungen, Unruhen getrotzt, aber es war ihnen stets gelungen, sich zu behaupten – mit oder ohne Hilfe der anderen.
Oziel nahm es ihrem Vater und ihren älteren Brüdern übel, dass sie sie immer aus den Intrigen der Höhen herausgehalten hatten. Sie meinten, sie würde nicht zählen, und behandelten sie immer noch wie das kleine Mädchen, das man mit Zärtlichkeiten überhäufte, um es von den Spielen der Erwachsenen fernzuhalten. Die Männer ihrer Familie wollten sich nicht eingestehen, dass sie bald neunzehn Jahre alt war, dass ihre Brust und ihre Hüften die einer Frau waren und dass jetzt lockiges, dunkles Haar das in ihre Scham gebrannte Familiensiegel verdeckte. Nur Ulio, der in der Erbfolge einen Rang über ihr stand, schien bemerkt zu haben, dass sie erwachsen geworden war. Sie hegten eine Zuneigung füreinander, die an Vergötterung grenzte. Manchmal kam Ulio mitten in der Nacht in ihre Kammer geschlichen, legte sich neben sie ins Bett und drückte sich an sie. Sie hielt still, Verzückung, Scham und Angst durchfluteten ihren Körper, während die Hände ihres Bruders unter ihr Nachthemd über ihre zitternde Haut glitten. Er hatte nie mehr getan als sie zu streicheln, als ob ein Rest Vernunft oder ein schlechtes Gewissen ihm verboten, den letzten Schritt zu gehen, trotz seines brennenden Verlangens. Sie wusste nicht, wie sie reagiert hätte, wenn er versucht hätte, sie zu nehmen, wenn er versucht hätte, etwas Heiliges zu entehren, das für das Haus des Drachen großen Wert besaß. Sie begehrte ihn genauso sehr wie sie ihn fürchtete, und während sie sich verführerisch an ihn schmiegte, gab sie vor zu schlafen. Trotz ihrer fünfzehn Monate Altersunterschied hatte sich seit früher Kindheit eine innige Komplizenschaft zwischen ihnen entwickelt. Beide teilten dieselbe Vorliebe für Ungehorsam, sie liebten das Ausreißen, Gelächter, Spott, die Heldenepen, das Reiten und den Umgang mit Waffen. Ein dumpfes Raunen, herbeigeweht von einer lauen Brise, breitete sich in der Stille der Morgendämmerung aus. Mit einer Heftigkeit, die sie am ganzen Körper erzittern ließ, spürte Oziel, dass dieser Angriff ihrer Familie galt. Ein Klagelaut entrann ihren Lippen. Ihre Augen hefteten sich auf eine Skulptur in der glatten Steinmauer, eine eingerollte Schlange, die sich in den Schwanz biss, das Symbol der Auferstehung, des mystischen Ordens, dessen Mitglieder die Gelübde des Schweigens, des Gehorsams und der Keuschheit ablegten. Sie war an der östlichsten Spitze der Höhen angelangt, in dem Viertel, das sich zwischen dem Anwesen des Wolfs und dem Refugium der Auferstehung erstreckte.
Sie steckte die Hand unter ihren Umhang, um den Griff ihrer Waffe, ein Degen mit einer dünnen, geraden Klinge, zu spüren. Plötzlich waren ihre Unruhe und ihre Bedenken wie weggefegt, und Begeisterung erfasste sie. Es war ein berauschendes Gefühl, die Finger um das glatte Metall zu schließen. Mazin, ihr Fechtmeister, meinte, dass er noch nie eine so brillante und entschlossene Schülerin gehabt habe – das Kompliment an seine Schwester ließ Ulio eifersüchtig werden und bot eine wunderbare Gelegenheit, ihn deswegen aufzuziehen. Sie glich ihre durchschnittliche Körpergröße durch die Wendigkeit eines Fischotters, ein außergewöhnliches Durchhaltevermögen und einen unbeugsamen Willen aus.
Sie entfernte sich in Richtung Westen und als sie ans Ende der Gasse gelangte, legte sie den schweren Umhang ab und zog die unbequemen Stiefel aus. Dann ging sie barfuß über einen Platz, der von Platanen mit grünen und gelben Blättern gesäumt war. Bronzekettchen klirrten an ihren Hand- und Fußgelenken; die lederne und stählerne Scheide ihrer Waffe schlug gegen ihre Waden; der Atem der Eroberer, der warme Wind aus dem fernen Ostian-Massiv, blies ihr ins Gesicht.
Sie gelangte auf einen kleinen gepflasterten Platz, wo einige Schatten umhertorkelten, eine Horde Lackaffen mit Masken vor dem Gesicht. Aus den Schlitzen in ihren Umhängen strömte ein Geruch nach Alkohol und Schweiß.
»Was für ein hübsches Frauenzimmer haben wir da!«
»Und sie fällt uns fertig gebraten direkt ins Maul!«
»Wo läufst du hin, meine Schöne? Hast du Feuer im Hintern?«
»Dich habe ich schon mal irgendwo gesehen …«
Sie versuchten, ihr den Weg zu versperren, aber da sie sich kaum auf den Beinen halten konnten, hatte Oziel keine Schwierigkeiten, an ihnen vorbeizukommen und...
Erscheint lt. Verlag | 11.6.2018 |
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Übersetzer | Carola Fischer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Arkane |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | eBooks • epische Schlachten • Fantasy • Fantasy-Epos • Französische Fantasy • High Fantasy • Intrigen • Krieger der Stille-Zyklus • mutige Helden |
ISBN-10 | 3-641-22015-7 / 3641220157 |
ISBN-13 | 978-3-641-22015-0 / 9783641220150 |
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