Mit 54 Jahren verschlägt es die amerikanische Autorin und Literaturagentin Betsy Lerner zurück an den Ort ihrer Kindheit nach New Haven in Connecticut. Hier lebt auch ihre verwitwete 83-jährige Mutter - diese räumliche Nähe birgt für beide Seiten durchaus Konfliktpotential. Aber Betsy will versuchen, eine Brücke zu bauen. Sie beschließt, an den seit über fünfzig Jahren stattfindenden Zusammenkünften der Bridge Ladys teilzunehmen - gepflegten Damen der gehobenen Mittelschicht, die zusammen viel erlebt haben, aber alles gut hinter Perlenketten, pastellfarbigen Twinsets und den Spielkarten zu verbergen wissen. Genau das, wogegen Betsy immer rebelliert hat. Doch nach und nach versteht sie: auch wenn diese Frauen so ganz anders scheinen, was sie über Generationen hinweg im Inneren bewegt, ist dasselbe - Familie, Freunde, Liebe. Und schließlich findet Betsy auch zu ihrer Mutter über das Bridge-Spielen einen völlig neuen Zugang.
Betsy Lerner arbeitet seit vielen Jahren als Literaturagentin. Sie ist Autorin mehrerer Bücher und wurde u.a. mit dem Thomas Wolf Poetry Prize und dem Tony Goodwin Prize for Editors ausgezeichnet. Mit ihrem Ehemann lebt sie in New Haven, Connecticut.
Vorwort
Als Kind faszinierten mich die Bridgedamen. Regelmäßig tauchten sie in meinem Elternhaus auf, mit Haarspray, schimmernden Nylonstrümpfen und Lackhandtaschen samt Schließen, die wie Murmeln aussahen. Gerne begrüßte ich sie an der Tür, nahm ihnen die Mäntel ab, die ich dann im Flurschrank aufhängte, wo ich oft in den Falten des Nerzmantels meiner Mutter spielte. Ich beobachtete, wie sie um den Spieltisch herum Platz nahmen, ausstaffiert mit Bridgekarten, Aschenbechern, in Zellophan verpackten Zigarettenschachteln, Bridgeblock und Kristallschalen mit Bonbons. Auf Augenhöhe mit dem Bridgetisch überwachte ich gierig die Bonbons und plante hin und wieder flinke Kamikazeangriffe, um unbeobachtet von meiner Mutter ein paar davon zu ergattern. Während ich bei meinem Vater auf dem Schoß sitzen durfte, wenn er ein oder zwei Runden Rommé spielte, errichteten die Bridgedamen beim Spielen mit ihren Rücken eine quadratische Festung und verständigten sich dabei in ihrer merkwürdigen Sprache von Reizen und Stechen.
Als Teenager machte ich mich aus dem Staub, wenn die Bridgedamen kamen. Ich fand sie bescheuert. Sie arbeiteten nicht und bekamen offenbar nicht mal mit, dass der Feminismus die Welt eroberte. Billie Jean King hatte Bobby Riggs geschlagen, ein Tennismatch für den Geschlechterkampf, Gloria Steinem hatte die Zeitschrift Ms. gegründet, und Helen Reddy eroberte mit ihren Songs die Herzen der Frauen. Für mich waren die Bridgedamen konventionell, ihr Horizont endete mit Familie, Synagoge und Gemeinde. Und ihre Rollen beschränkten sich auf Tochter, Mutter und Ehefrau. Darüber hinaus bildeten sie sich auch noch ein, dass ein Bridgenachmittag Spaß macht. Ehrlich? Allen Ernstes?
Ich wollte eine bessere Partie. Ich las Anaïs Nin und Henry Miller. Mit anderen Worten, ich war entschlossen, so früh wie möglich meine Unschuld zu verlieren und viele Beziehungen zu haben. Ich hasste unser provinzielles New Haven und meine Schule, die dermaßen der Konformität huldigte. Aus meiner Sicht war dort das kreativste Projekt für Mädchen, sich die Haare so lang wie möglich wachsen zu lassen, um beim nationalen Wettbewerb »Long & Silky« mitzumachen. Ich wollte bloß da rauskommen und mit all dem nichts mehr zu tun haben. In Tagträumen flüchtete ich mich nach New York, genau genommen nach Greenwich Village, wo ich Gleichgesinnte treffen würde, Dichter und Schriftsteller. Dann ging ich dort tatsächlich aufs College und blieb auch für das weitere Studium. Zwar gehörte ich nicht zum Inventar von Studio 54 oder Warhols Factory, aber ich baute mir ein eigenes Leben auf: Ich arbeitete im Verlag, heiratete schließlich und bekam eine Tochter.
Und dann kam alles anders. Nach zwanzig Jahren Leben und Arbeiten in New York wurde meinem Mann ein Job beim Verlag der Yale University angeboten. Auch ohne Google Maps war klar, wohin es gehen sollte: New Haven, die Stadt meiner Kindheit und Dreh- und Angelpunkt meines Leidens. Ich bestärkte ihn darin, die Stelle anzunehmen; was es eigentlich hieß, nach Hause zurückzukehren, begriff ich aber erst allmählich.
Für mich war die größte Herausforderung, dass meine Mutter nun regulär zu unserem Leben gehörte. Als ich noch in New York lebte, sprachen wir uns einmal pro Woche, Sonntagsgeplauder eben. Jetzt wohnte ich zehn Kilometer entfernt von ihr. Ich sagte mir, damit könnte ich umgehen. Immerhin war ich ja Mitte vierzig, als wir wieder in heimatliche Gefilde zogen, ich war selber Mutter, und dann flammten die Konflikte mit meiner Mutter doch wieder auf. Warum war das alles so emotional aufgeladen? Warum wurde ich immer wieder zum Teenager, sobald wir zusammen waren? War alles, was sie sagte, Kritik, oder hörte es sich nur so an? Wie wachsame Boxer schlichen wir umeinander herum. Einmal fragte sie mich, warum ich fettarmen Hüttenkäse kaufte und kein Magermilchprodukt – und erklärte damit fast einen Weltkrieg zwischen uns. Dabei ging es um Hüttenkäse, mein Gott! In der Sprache der Mutter-Tochter-Beziehung hieß das aber: War ich denn irgendwann einmal gut genug?
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Als sich meine Mutter im Januar 2013 von einer Operation erholen musste, wohnte ich bei ihr im Haus und kümmerte mich um sie. Zu dem Zeitpunkt wohnten wir schon seit mehr als zehn Jahren in New Haven, mein Vater lebte nicht mehr, meine Tochter war selber schon ein Teenager, wir hatten neue Freunde gefunden und kannten jeden. Ich war Partnerin in einer Literaturagentur und pendelte zweimal pro Woche nach New York, um meine Dosis Großstadt zu bekommen. Außerdem spendete Gott unserer netten kleinen Stadt seinen Segen und verlieh ihr einen Apple Store. Hatte ich irgendeinen Grund zu klagen?
Zwar freute ich mich nicht gerade übermäßig auf die Zeit mit meiner Mutter, aber mir war auch klar, dass die Aufgabe dadurch weniger mühsam war, dass sie mit ihren dreiundachtzig Jahren lieber Hilfe ablehnte, als sie zu fordern, was sich am besten mit dem bekannten jüdischen Witz zusammenfassen lässt: Wie viele jüdische Großmütter braucht es, um eine Glühbirne einzuschrauben? Lass mal … ich sitze gern im Dunkeln.
Jeden Tag kam eine ihrer Bridgedamen zu Besuch, in einem selbstverständlichen Turnus. Sie waren jetzt kleiner geworden, manche etwas unsicher, aber immer noch mit Schick, jederzeit passten Outfit, Accessoires, Pumps und Handtaschen farblich zusammen. Wenn sie meinten, ich sähe gut aus, fragte ich mich, ob sie mich eigentlich zu dick fanden oder ob sie mein wildes Haar störte. Wenn sie sich nach meinem Mann und meiner Tochter erkundigten, wurde mir immer wieder bewusst, dass sie bei allen Lebensritualen dabei gewesen waren: Sie hatten an meiner Bat-Mizwa-Feier teilgenommen, sie hatten bei meiner Hochzeit getanzt und zur Geburt meiner Tochter Geschenke geschickt. Ihre Großzügigkeit aber hatte ich nie so recht gewürdigt; vermutlich ahnten sie nicht, wie viel jugendlichen Groll und Respektlosigkeit ich oft gehegt hatte. Für mich waren sie alle gleich, eine wie die andere, wie die Präsidenten am Mount Rushmore, die nicht voneinander zu unterscheiden sind.
Demographisch gesehen hätten sich die Bridgedamen nicht ähnlicher sein können. Sie waren alle über achtzig, und sie hatten alle ein College besucht. Sie hatten jung geheiratet, und zwar jüdische Männer, und sie waren mit ihnen verheiratet geblieben. Sie hatten im Durchschnitt 2,5 Kinder bekommen. Keine von ihnen hatte gearbeitet, während sie die Kinder großzog, mit Ausnahme von Rhoda, die jene unsichtbare Barriere für Frauen durchbrach, als sie Vorstandsvorsitzende der Synagoge wurde. Sie erledigten die Einkäufe und kochten das Essen; das 1936 erschienene Kochbuch The Joy of Cooking war ihre Bibel. Sie holten die Kleidung in der Reinigung ab und hielten das Haus sauber. (Irgendwann, als es allen zunehmend besser ging, konnte sich dann jede eine Putzhilfe leisten.) Sie richteten das Zuhause ein und planten Urlaube, von den Catskills über Puerto Rico bis nach Rom.
Sie hatten die Depression und den Zweiten Weltkrieg erlebt. Einige ihrer Ehemänner waren in den Krieg gezogen. Sie waren bei der Bürgerrechtsbewegung dabei gewesen, beim Vietnamkrieg und auch bei der Frauenbewegung, selbst wenn sie nicht ihr Korsett abgelegt oder ihre BHs verbrannt hatten. Sie waren wohl schon zu alt gewesen oder in ihrer Welt zu behütet, um mit Betty Friedans Weiblichkeitswahn etwas anfangen oder das unaussprechliche Problem beim Namen nennen zu können. Sie hatten mitangesehen, wie ihre Kinder in andere Religionen hineingeheiratet hatten und ihre Enkel gemischtrassige Ehen eingegangen waren. In ihrer Jugend war Homosexualität komplett verheimlicht worden, wie beispielsweise bei den Filmstars Montgomery Clift und Rock Hudson. Und heute erleben sie, wie die gleichgeschlechtliche Ehe überall legalisiert wird.
Auch wenn nicht alle aus New Haven stammen, haben sie doch ihr ganzes Erwachsenenleben im weiteren Umkreis von New Haven gelebt, sie haben ihre Kinder hier großgezogen, vier von ihnen haben ihren Ehemann hier beigesetzt, und eine hat ihre Tochter hier verloren. Sie sind alle bei ziemlich guter Gesundheit (auf Holz geklopft, poch, poch, poch). Ihre erwachsenen Kinder können bei ihnen ebenso Stolz wie Sorgen auslösen. Auch wenn sie nicht angeben wollen, aber ihre Enkelkinder brillieren tatsächlich überall. Und an den Montagen treffen sie sich mittags seit fünfundfünfzig Jahren regelmäßig zum Lunch und zum Bridge, dem Kartenspiel, das in ihrer Jugend hoch im Kurs stand.
Bridge war das Fernsehen jener Tage. In den 1930er und 1940er Jahren spielte in 44 Prozent der amerikanischen Haushalte mindestens eine Person Bridge. Im Radio wurden Spiele übertragen, und in beliebten Filmen wie Boulevard der Dämmerung und Der dünne Mann kamen Bridge-Szenen vor. Robert Cohn, eine Figur in Hemingways Roman Fiesta, rühmt sich seiner Gewinnsträhne im Bridge. Der New Yorker veröffentlichte »My Lady Love, My Dove«, eine Geschichte von Roald Dahl, in der ein Paar dabei ertappt wird, wie es seine Gastgeber an einem Bridgeabend betrügt. Charles Goren war in aller Munde, als er das bis heute übliche System der Punktezählung einführte. Seine Bücher haben sich weltweit millionenfach verkauft und die Bestsellerlisten beherrscht. Seine Bridgekolumne erschien in fast zweihundert Zeitungen. Der Typ war ein Rockstar.
Dann kam das Fernsehen auf. 1954 hatten mehr als 80 Prozent der amerikanischen Haushalte einen Fernseher. Abende, die man beim Radiohören und mit geselligen Aktivitäten wie Bridge verbracht hatte, wurden durch das neue Medium verdrängt. Heute gibt es noch etwa drei Millionen aktive...
Erscheint lt. Verlag | 21.5.2018 |
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Übersetzer | Barbara v. Bechtolsheim |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Bridge Ladies |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Freundinnen • Kartenspiel • Lebenshilfe • Memoir • Mütter und Töchter |
ISBN-10 | 3-641-19969-7 / 3641199697 |
ISBN-13 | 978-3-641-19969-2 / 9783641199692 |
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