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ZEIT-Dialoge (eBook)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
190 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10258-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

ZEIT-Dialoge -  Fritz J. Raddatz
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ZEIT-Dialoge mit Jorge Amado • Oto Bihalji-Merin • Joseph Brodsky • É. M. Cioran • Nadine Gordimer • Stephan Hermlin • Stefan Heym • Pavel Kohout • Hans Sahl • Jorge Semprún • Alexander Solschenizyn • George Tabori • Michel Tournier • Mario Vargas Llosa Diese Dialoge sind keine probaten Interviews. Es sind vielmehr Streitgespräche zwischen gleichberechtigten Partnern - Partner, die sich gegenseitig Einrede, Widerspruch, Kritik am Standpunkt des anderen gestatten. Es sind stets streitbare Diskurse, die ein großes Thema variieren: Wie hat der Intellektuelle die Irrwege des 20. Jahrhunderts mit geprägt - oder haben sie ihn geprägt? Raddatz schwingt sich nie zum Tribun auf und macht aus dem Arbeitszimmer des jugoslawischen Kommunisten, des russischen Dissidenten, des brasilianischen Marxisten keinen Gerichtshof, er weiß es nicht besser, er will es besser wissen.

Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Fran?ois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.

Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Franςois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.

«Tiefseetaucher des Schreckens»


Gespräch mit É.M. Cioran

FJR:

Ich möchte mich zu Beginn über Ihren Geschichtsbegriff unterhalten. Es gibt bei Ihnen viele zitierbare, widersprüchliche Sätze: die Weltgeschichte als Geschichte des Bösen oder «Meine Leidenschaft für Geschichte kommt daher, daß ich eine Vorliebe für das Kaputte habe» oder «Die Geschichte ist ein irrsinniges Epos». Gleichzeitig rückt Susan Sontag Ihr Geschichtsbild in die Nähe von Nietzsche. Ist das richtig?

É.M. CIORAN:

Es gibt, wenn ich das vielleicht sagen darf, eine Temperamentsähnlichkeit zwischen Nietzsche und mir: Wir sind beide schlaflose Geister. Das ist eine Komplizität. Aber meine Auffassung von der Geschichte findet sich in den Sätzen, die Sie eben gelesen haben. Das ist meine Einstellung, mein Grundgefühl.

FJR:

Noch einmal zurück zu Nietzsche. Susan Sontag sagt: Nietzsche verwirft das historische Denken nicht, weil es falsch ist, es muß im Gegenteil verworfen werden, weil es wahr ist. Sie nennt das auch Ihr Konzept. Das ist doch aber ein anderes?

CIORAN:

Es ist anders. Der Ursprung meiner Einstellung ist die Philosophie des Fatalismus. Meine Hauptthese ist die Ohnmacht des Menschen. Er ist nur ein Objekt der Geschichte, kein Subjekt. Ich hasse die Geschichte, ich hasse den geschichtlichen Prozeß.

FJR:

Sie leugnen den Fortschritt?

CIORAN:

Ich leugne den Fortschritt. Ich werde Ihnen eine Anekdote erzählen, die mehr ist als eine Anekdote: Hier unweit von mir hat man das beste und das erste Buch über den Fortschritt geschrieben. Hier hat sich während des Terrors Condorcet versteckt und hat das Buch «Esquisse d’un Tableau des progrès de l’esprit humain» geschrieben, die Theorie des Fortschritts, die erste klare und aggressive Theorie des Fortschritts. Das war 1794. Er wußte, daß er gesucht wurde, er hat die Pension de famille verlassen und ist dann in einen Vorort von Paris geflüchtet. In einem Bistro haben die Leute ihn erkannt, ihn angezeigt – und er hat Selbstmord begangen. Und dieses Buch ist die Bibel des Optimismus.

FJR:

Jetzt haben Sie eine Anekdote erzählt, aber nicht Ihren Einwand formuliert. Kann man wirklich generell jeden geschichtlichen Prozeß leugnen und daß es innerhalb des Prozesses Fortschritt gibt?

CIORAN:

Das kann ich nicht leugnen. Für mich aber ist alles, was Gewinn ist, zugleich ein Verlust. Also der Fortschritt ist annulliert durch sich selbst. Jeder Schritt, den der Mensch vorwärts macht, durch den verliert er etwas.

FJR:

Geben Sie mir ein Beispiel?

CIORAN:

Nehmen wir die Wissenschaft, die Arzneien, medizinische Technik, Überlebensapparate. Ich würde sagen: Die Menschen starben früher an ihrem Tod, das war ihr Schicksal; sie starben unversorgt. Jetzt führt der Mensch durch die Arzneien ein falsches, künstlich verlängertes Leben. Er lebt nicht mehr sein Schicksal.

FJR:

Aber Herr Cioran, Sie haben mir vorhin ganz erleichtert über die Diagnose erzählt, daß Sie beim Röntgenarzt waren. Das hat ja Herr Röntgen mal erfinden müssen. Kein Fortschritt?

CIORAN:

Ja, aber es wäre besser, daß ich an meinem eigenen Tod sterbe.

FJR:

Aber auch Sie laufen davor weg.

CIORAN:

Gewiß, ich gehöre dazu, ich bin in diesem Wahnsinn einbegriffen. Ich kann nicht anders. Ich fahre ja auch mit der Bahn. Ich mache alles, was die anderen machen.

FJR:

Sie benutzen die geschmähte Zivilisation. Sie haben Telephon und fliegen mit dem Flugzeug.

CIORAN:

Ich denke heute, es wäre für mich viel besser gewesen, in dem kleinen Dorf, aus dem ich stamme, als Hirtenjunge zu bleiben. Ich hätte das Wesentliche so gut verstanden wie jetzt. Ich wäre dort näher an der Wahrheit.

FJR:

Sie meinen, daß Bildung Ihre Wahrheit verstellt?

CIORAN:

Es wäre besser, daß ich mit den Tieren lebe, mit einfachen Leuten, Hirten eben. Wenn ich zum Beispiel in ganz primitive Orte gehe, also zum Beispiel in Spanien oder Italien mit ganz einfachen Leuten spreche, habe ich immer den Eindruck, daß die Wahrheit bei diesen Leuten steckt.

FJR:

Sie reden wie ein Aussteiger, ein bißchen wie ein Grüner: «zurück zur Natur».

CIORAN:

Für das Wesentliche ist die Kultur, ist die Zivilisation nicht notwendig. Um die Natur zu verstehen und das Leben, braucht man nicht gebildet zu sein. Verzeihen Sie noch eine Art Anekdote: Wir hatten in meiner Kindheit einen Garten neben dem Friedhof, und der Totengräber war ein Freund von mir, ich war ein Knabe, und er war etwa fünfzig Jahre alt. Ich bin sicher, daß meine ersten Jahre neben dem Friedhof unbewußt auf mich gewirkt haben. Diese direkte Beziehung zum Tod hat mich bestimmt unbewußt beeinflußt.

FJR:

Kann man aus dieser persönlichen Erfahrung ein Philosophem machen? Das ist mein Problem mit dem, was Sie schreiben. Gut, Sie haben sehr jung in der Nachbarschaft des Todes gelebt. Aber berechtigt das zu solchen philosophischen Aperçus wie: «Gestern, Heute, Morgen, das sind Kategorien für Dienstboten»; oder: «Ich war, ich bin, ich werde sein – ist ein Problem der Grammatik und nicht der Existenz»?

CIORAN:

Die Hauptprobleme des Lebens haben nichts mit Kultur zu tun. Die einfachen Leute haben öfter Einsichten, die ein Philosoph nicht haben kann. Denn der Ausgangspunkt ist das Erlebnis, ist nicht die Theorie. Ein Tier sogar kann tiefer sein als ein Philosoph, ich meine, ein tieferes Lebensgefühl haben.

FJR:

Das will ich nicht leugnen, sondern ich will auf etwas anderes hinaus: Dadurch, daß Sie Ihre Gedanken äußern, geben Sie eine Art Wegweiser für andere Menschen. Sie äußern solche Gedanken ja nicht am Küchentisch, sondern Sie publizieren sie. Jedes Publizieren ist ein Stück Belehren. Also führen Sie Menschen zu der Idee: Geschichte ist Katastrophe, Fortschritt gibt es nicht. Kann man das wirklich so kraß vertreten?

CIORAN:

Ich glaube nicht, daß es eine Lösung gibt.

FJR:

Glauben Sie auch nicht an das, was doch jeder Autor eigentlich mitdenkt, wenn er publiziert – eine Humanisierung des Humanen? Ist Ihnen das nicht vorstellbar?

CIORAN:

Nein, das ist wirklich nicht vorstellbar. Man kann die Geschichte schon ab und zu ein wenig umbiegen, aber tief innerlich, wesentlich kann man nichts ändern.

FJR:

Die Natur des Menschen ist unveränderbar, ist böse?

CIORAN:

Nicht böse: verdammt. Der Mensch ist böse, das will ich glauben, aber das ist fast Nebensache. Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entrinnen.

FJR:

Es bietet sich bei einem so sinistren Menschen- und Geschichtsbild die Frage an: Warum publizieren Sie überhaupt? Wozu? Für wen?

CIORAN:

Sie haben absolut recht mit diesem Einwand. Ich bin ein Beispiel für das, was ich beschreibe. Ich bin keine Ausnahme, im Gegenteil. Ich bin voller Widersprüche. Ich bin zur Weisheit unfähig – und doch habe ich eine große Sehnsucht nach Weisheit.

FJR:

Sie haben aber mal gesagt, «wer weise ist, produziert nicht mehr». Das Nicht-weise-Sein ist die Quelle des Produzierens.

CIORAN:

Das ist absolut meine Auffassung. Aber niemand soll mir folgen.

FJR:

Niemand soll Ihnen folgen?

CIORAN:

Wenn er’s tut, um so schlimmer. Alles, was ich geschrieben habe, sind nur Zustände, seelische Zustände oder geistige, wenn man so sagen darf. Auf jeden Fall habe ich es geschrieben, um mich von etwas zu befreien. Also, ich betrachte alles, was ich geschrieben habe, nicht als Theorie, sondern wirklich als Kur für mich selbst. Die Einseitigkeit meiner Bücher kommt daher, daß ich nur in einem gewissen Zustand schreibe. Ich schreibe, anstatt mich zu prügeln …

FJR:

… jemanden zu köpfen …

CIORAN:

Für mich ist da eine unglaubliche Erleichterung. Ich glaube, wenn ich nicht geschrieben hätte, hätte es eine noch schlechtere Wendung nehmen können für mich.

FJR:

Aber nun ist ja schreiben und publizieren noch nicht dasselbe. Schreiben, sagen Sie, ist Ihre Kur. Und warum publizieren Sie? Doch um andere Menschen zu beeinflussen.

CIORAN:

Nein, publizieren ist ungemein heilsam. Publizieren ist eine Befreiung, wie wenn man jemandem eine Ohrfeige gegeben hat. Denn wenn Sie etwas publizieren, was Sie geschrieben haben, ist es außerhalb von Ihnen, es gehört nicht mehr Ihnen. Wenn man jemanden haßt, dann muß man hundertmal schreiben, ich hasse den Kerl, und nach einer halben Stunde ist man befreit. Also, wenn ich das Leben angreife, die Menschheit, die Geschichte …

FJR:

Kann es sein, daß das sehr stark Aphoristische Ihres Schreibens damit zusammenhängt?

CIORAN:

Absolut, das ist absolut wahr. Alle Aphorismen, die ich geschrieben habe, sind …

FJR:

… kleine Pillen? …

CIORAN:

Das ist sehr gut gesagt, es sind Pillen, die ich mir selbst verschaffe, die wirksam...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2017
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Alexander Solschenizyn • Autoren • Dialoge • Diskurse • E. M. Cioran • George Tabori • Hans Sahl • Interviews • Jorge Amado • Jorge Semprún • Joseph Brodsky • Literatur • Mario Vargas Llosa • Michel Tournier • Nadine Gordimer • Oto Bihalji-Merin • Pavel Kohut • Stefan Heym • Stephan Hermlin
ISBN-10 3-688-10258-4 / 3688102584
ISBN-13 978-3-688-10258-7 / 9783688102587
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