Das verborgene Leben der Meisen (eBook)
240 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-75381-0 (ISBN)
Sie gehören zu den beliebtesten Vogelarten in unseren Gärten und Parks: die Meisen. Klug und anpassungsfähig haben sie sich mit uns Menschen bestens arrangiert und erfreuen uns das ganze Jahr mit ihrem Gesang. Dennoch gibt es vieles im Leben der possierlichen Vögel, das uns bislang verborgen blieb.
Wussten Sie zum Beispiel, dass Meisen der Vielweiberei frönen, Fledermäuse töten, weil deren Gehirn besonders lecker schmeckt, und sich in der Luft wie fliegende Dinosaurier verhalten? Andreas Tjernshaugen, Ornithologe aus Leidenschaft, hat ein Jahr lang aus nächster Nähe ihre Gewohnheiten beobachtet und zeigt, was wir über diese Vögel alles nicht wissen, und enthüllt uns eine faszinierende Welt direkt vor unseren Augen.Andreas Tjernshaugen, geboren 1972, studierte Soziologie und arbeitete mehrere Jahre im Bereich Klimaforschung. Er lebt mit seiner Familie, seinem Hund Topsy und ein paar Hühnern in Nesodden am Oslofjord. 2017 erschien im Insel Verlag <em>Das verborgene Leben der Meisen</em> und wurde zu einem großen Erfolg.
Andreas Tjernshaugen, geboren 1972 in Nesodden, studierte Soziologie, arbeitete im Anschluss mehrere Jahre im Bereich Klimaforschung und ist seit 2015 Redakteur bei der Internetenzyklopädie Das große Norwegische Lexikon. Seinen Vater begleitete er zu dem Vortrag eines Vogelforschers. Es ging um die „Bedeutung von Vererbung und Umwelt bei Meisen“ – mit seinem Buch hat er sich der Sache jetzt selbst angenommen, um unser Wissen über die Meisen auf den neuesten Stand zu bringen. Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, war nach seinem Studium der Skandinavistik, Germanistik und Anglistik zunächst als Lektor tätig. Heute lebt er als freier Übersetzer in Köln und überträgt Texte aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen ins Deutsche.
Großvater und die undankbare Meise
Mit dem Auto erreicht man die Halbinsel Nesodden am Oslofjord aus südöstlicher Richtung, da sie dort mit dem Festland verbunden ist. Nimmt man die Landstraße 156, die Hauptverkehrsader, die an der Ostseite der Landzunge entlangführt, weichen die Fichten bald Weizenfeldern, Reiterhöfen und, je nach Jahreszeit, Erdbeer- oder Brennholzverkaufsständen. Eichenwäldchen findet man auch. Am ersten Kreisverkehr steht eine kleine und hübsche mittelalterliche Kirche mit einem Friedhof, auf dem meine Großeltern und Urgroßeltern väterlicherseits begraben liegen.
An der schroffen Westseite fährt man dagegen viele Kilometer, ohne Felder oder grasendes Vieh zu sehen. Hier windet sich die schmale Landstraße 157 an Tümpeln und kleinen Seen, steilen Hängen und Felsklippen sowie Wald aus Fichten, Birken und Espen vorbei. Auf dieser Seite sind die Feldstücke so kärglich und liegen so verstreut, dass sich Landwirtschaft nicht lohnt. Selbst in früheren Zeiten, als viele Zipfel Land noch bepflanzt wurden, benötigten die Menschen eine weitere Einnahmequelle. Ungefähr auf halber Strecke nordwärts, nach einem langen, steilen Anstieg mit absurd scharfen Kurven, gefolgt von einer etwas sanfteren Abfahrt, gelangt man zu einer Talsenke mit einem Waldsee, einem Tjern, zur Rechten. Auf der anderen Seite des Gewässers, unter einem bewaldeten Hügel, liegt die frühere Häuslerkate, die meine Urgroßeltern besaßen und von der sie ihren Familiennamen ableiteten. Tjernshaugen.
Auf der anderen Seite der Straße, zur Linken, führt eine kiesbedeckte Auffahrt zu einem Hügel mit Aussicht auf den See hinauf. In dem Haus auf der Kuppe, das Großvater kurz nach dem Krieg erbaute, wuchs mein Vater mit vier Geschwistern auf. Das Grundstück war so groß, dass Großmutter und Großvater dort Obst, Beeren, Gemüse und Kartoffeln anbauen konnten. Vater wurde losgeschickt, um die Erdbeeren den Sommergästen aus Oslo zu verkaufen, die sich in ihren Sommerhäusern an dem Hang aufhielten, der sich zum Oslofjord hinabsenkte. So kam zusätzlich ein wenig Geld herein. Großvater war Arbeiter und später Vorarbeiter im Shell-Tanklager, das nur einen kurzen Fußweg entfernt am Fjord lag, von wo das Öl mit Schiffen aus dem Ausland ankam und von Tanklastern abgeholt wurde.
Wie zahlreiche andere Gebäude in Norwegen wurde auch Vaters weißgestrichenes Elternhaus regelmäßig von kleinen gefiederten Saboteuren angegriffen. Kohlmeisen fraßen den Kitt rund um die Fensterscheiben, der damals aus Kreidepulver und essbarem Leinöl hergestellt wurde. Trotz dieser Unart waren die Meisen herzlich willkommen. Sie erhielten Kost und Logis.
Großvater schreinerte Nistkästen, die er zusammen mit seinen Kindern aufhängte, damit die Meisen im Frühjahr einen Ort zum Nisten hatten. Und im Winter fütterte die Familie die Kleinvögel – mit Brotkrumen, Haferflocken und Sonnenblumenkernen, manchmal auch mit einem Stück Speckschwarte von dem Schwein, das sie großzogen und vor Weihnachten schlachteten. Gartenbesitzer wurden angehalten, Meisen auf ihr Grundstück einzuladen, zum einen war es ein hübscher Anblick auf dem Hof, zum anderen waren die Meisen eine große Hilfe bei der Bekämpfung von Schadinsekten, von denen die Ernte zernagt wurde. Meisen galten als gute Nachbarn. Sie spielten in einer ganz anderen Liga als Beerendiebe wie Drosseln und Stare, ganz zu schweigen von Krähen und Elstern.
Von Kindesbeinen an gefiel es meinem Vater, Kohlmeisen und andere Gäste im Futterhaus zu beobachten. Die Blaumeise war damals noch ziemlich selten, erzählt Vater, der das Vogelleben auf Nesodden seit nunmehr gut sechzig Jahren im Auge behält.
Großvater starb früh, ich war noch keine fünf Jahr alt. In meiner klarsten Erinnerung an ihn holen wir Honigwaben aus den Bienenstöcken. Das muss 1976, in seinem letzten Sommer, gewesen sein. Großvater war mit einem Schutzanzug, einem Netz auf dem Kopf und einer betäubenden Imkerpfeife ausgerüstet. Ich stand in sicherer Entfernung, hatte aber trotzdem Angst, gestochen zu werden. Hinterher gingen wir in den Keller, wo die Schleuder stand, in der die Waben so schnell gedreht wurden, dass sich der süße, goldene Honig aus ihnen löste und in große Gläser floss, die ich nach Hause mitnehmen durfte. Wir wohnten nur einen Kilometer entfernt.
Einmal wurde Großvaters Geduld mit den Meisen auf eine harte Probe gestellt, es ging um die Bienenzucht. In einem Frühjahr in den sechziger Jahren kam eine Kohlmeise, die, wie gesagt, mit Kost und Logis versorgt wurde, auf die Idee, seine Bienen anzugreifen. Die Reihe der Bienenstöcke stand so weit wie möglich vom Haus entfernt, am hinteren Ende des Gemüsegartens, und die Familie hatte gelernt, die reizbaren Insekten mit Respekt zu behandeln. Doch zu Beginn des Frühjahrs, als die Bienen nach der Winterruhe noch schlaftrunken waren, setzte sich diese raffinierte Meise auf das Flugbrettchen unter der Öffnung zum Stock. Wenn sie ein wenig gegen das Flugbrettchen pickte, hatte sie herausgefunden, kamen kalte und müde Bienen herausgekrochen, um nachzusehen, was da draußen eigentlich vorging. Die Meise schnappte sich daraufhin eine Biene, pflückte säuberlich ihre Flügel ab und verspeiste den Rest des kleinen Honigproduzenten. Wie zahlreiche Imker vor und nach ihm war Großvater verzweifelt. Er klagte seinem vogelbegeisterten Sohn sein Leid, der inzwischen in der Hauptstadt ins Gymnasium ging und sich bereits ein Fernglas angeschafft hatte.
Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, war Vater geradezu besessen von Vögeln. Das hieß zwar nicht, dass er zu langen Expeditionen verschwand oder viel Geld für sein Hobby ausgab, seine weitesten Vogelausflüge führten ihn nach Østfold hinunter und er war nicht oft unterwegs. Aber das Fernglas und sein gelbes Notizbuch hatte er wirklich überall und immer dabei, am Küchentisch, auf der Veranda, auf Spaziergängen in der näheren Umgebung und oben im Wald, auf den täglichen Pendelfahrten mit der Fähre nach Oslo und selbstverständlich auch bei allen Urlaubsreisen. Er protokollierte seine Beobachtungen genau und zeichnete seine Zeitreihen als Kurven mit rotem oder blauem Kugelschreiber auf Millimeterpapier.
Daheim half ich ihm, aus leeren Milchkartons Futterstationen zuzuschneiden, an denen sich Meisen und andere Kleinvögel bedienten. Es könnte um 1980 gewesen sein und den Tipp fanden wir, wenn ich mich nicht irre, auf einem der Milchkartons. Wir hängten sie mit Bindfäden in die Birke vor dem Wohnzimmerfenster, und ich hege den Verdacht, dass den Vögeln bei Wind ganz schön schwindlig wurde. Nistkästen mit Meisenfamilien hatten wir auch.
Was die Vögel anging, konnte ich mich jedoch nicht einmal ansatzweise mit Vaters Ausdauer messen. Es war spannend, geweckt zu werden, um nach der Eule zu suchen, die in der Nähe schuhute, oder ihn in den Wald zu begleiten, wenn die Birkhähne im Morgengrauen balzten. Es machte Spaß, die Enten in dem Tümpel in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu füttern. Auch die Aufregung, wenn ein seltener Raubvogel vorbeischwebte, war natürlich ansteckend. Ich mochte es, wenn Vater mir Vögel zeigte, aber das Beobachten der Tiere entwickelte sich bei mir nie zu einem Hobby. Vielleicht lag es daran, dass es schon einen Vogelbeobachter im Haus gab. Dadurch konnte es niemals ganz meine Sache werden, wie es das für Vater geworden war, als er aufwuchs und begann, das Leben der Vögel in einem immer größeren Radius um sein Elternhaus herum zu erforschen. Stattdessen interessierte ich mich in beinahe jeder anderen Weise für die Natur. Ich fing Insekten, Spinnen und viele andere Tiere und versuchte, sie in Gefangenschaft zu halten. Mein Kinderzimmer füllte sich mit immer neuen Aquarien, tropischen Orchideen und vielen verschiedenen Pflanzen. Ich schnorchelte, fischte und brach mit einem Freund zu langen Wanderungen im Wald auf. Später wurde uns erlaubt, im Wald auf Nesodden zu übernachten, am liebsten taten wir das unter freiem Himmel, und als wir alt genug waren, führten unsere Ausflüge uns in die Berge. Ein Fernglas besaßen wir nicht, aber wenn wir einen Steinadler sahen, war das schon ein Erlebnis.
Die Meisen und die anderen Vögel, in deren Nähe ich aufgewachsen war, bemerkte ich im Grunde erst, sobald sie nicht mehr da waren. Als meine eigenen Kinder klein waren, verbrachten wir ein knappes Jahr an der Westküste der USA, an der Bucht von San Francisco im nördlichen...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2017 |
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Übersetzer | Paul Berf |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Sonstiges ► Geschenkbücher | |
Schlagworte | Basteln • Bäume • Beobachten • Birding • Birdwachting • Buch • bücher bestseller 2018 • Federn • Federnlesen • Fliegen • Frühling • Füttern • Garten • Geschenkbuch • Geschenkbücher • Geschenkbücher für Vogelfans • Geschenke für die ganze Familie • Geschenke für Frauen • Geschenke für Männer • Gezwitscher • Illustration • Illustrationen • insel taschenbuch 4694 • IT 4694 • IT4694 • Kinder • Kohlmeisen • Leben • Meise • Meisen • Meisenkasten • Natur • Naturgeheimnis • Nistkasten • Norwegen • Ornithologen • Ornithologie • Park • Sachbuch • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Spiegel Bestseller 2018 • Tiere • Tierwelt • Vögel • Vogelbeobachtung • Vogelei • Vogelfans • Vogelforschung • Vogelgesang • Vogelhaus • Vogelkenner • Vogelkunde • Vogelliebhaber • Wunder der Natur |
ISBN-10 | 3-458-75381-8 / 3458753818 |
ISBN-13 | 978-3-458-75381-0 / 9783458753810 |
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