Infiziert (eBook)
476 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7448-4515-1 (ISBN)
Elenor Avelle wurde 1981 geboren. Als Österreicherin mit internationalen Wurzeln ist sie in Berlin aufgewachsen und zur Schule gegangen. Zeichnen und Schreiben waren von Beginn an ihre größten Leidenschaften. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann, zwei Söhnen und tierischem Anhang in Baden und schreibt neben Romanen auch Artikel für ein Lokalmagazin.
2
Acht Jahre und fünf Monate nach Ausbruch
Charlie lief über die Dachziegel und beobachtete die Umgebung. Sie hatte es nicht eilig. Über die Dächer zu laufen, war ein himmelweiter Unterschied zum Schleichen und Verstecken zwischen den Wracks und Trümmern auf der Straße. Sie hatte nicht die ganze Zeit das Gefühl, vor Panik die eigenen Innereien auskotzen zu müssen und das Herz donnerte ihr nicht wie ein Presslufthammer in der Brust. Es war sicher und ruhig. Sie konnte die Augen schließen und die warme Sommersonne genießen, wenn sie wollte. Der Himmel war herrlich blau, nur ein paar Wolkenfetzen trieben vorbei.
Marcus und Lee schlichen hinter ihr her und spähten misstrauisch in die Tiefe.
„Du bist ein verdammter Affe. Nicht jeder springt mal eben zehn Meter weit wie ein Profi Parcoursläufer.“
Sie taten sich alle schwer damit die Hochpfade zu benutzen. Vor allem den Kindern mangelte es an der erforderlichen Körperkraft und Größe. Als Charlie einmal vorgeschlagen hatte, sie zu werfen, hatte Marcus ihr beinahe den Kopf abgerissen. Sie wusste echt nicht, wie der Mann mit seiner Kleinen so lange am Leben geblieben war.
„Wie weit ist es noch?“ keuchte Lee und stützte sich an einem Schornstein ab. Sie sah ein bisschen blass um die Nase aus.
„Alles ok?“ Marcus legte ihr eine Hand auf den Rücken. Sein strohblondes Haar fiel ihm in die Augen und ließ seine Hakennase auffällig unter den Strähnen hervorstechen. Unwirsch blies er es beiseite.
„Weiß nicht.“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Heut ist nicht mein Tag.“
Normalerweise war sie ausdauernd, aber schon am Morgen hatte sie einen erschöpften Eindruck gemacht. Ihr dahin gemurmeltes „Schlecht geschlafen“ hatte Charlie nicht recht überzeugt, aber sie waren alle erwachsen. Wenn Lee sagte, dass sie fit genug für einen Beutezug war, dann war sie es.
„Lasst uns hier runter gehen“, schlug Charlie vor und warf einen Blick auf die Straße. Das Haus, auf dem sie sich befanden, war nicht sehr hoch und hatte breite Fenstersimse. Sie konnten sich über die Dachkante schwingen und vom obersten Sims aus auf ein großes Müllfahrzeug fallen lassen, das schräg über beide Fahrspuren stand.
Marcus nickte und half Lee zum Rand des Daches. Charlie schlüpfte bäuchlings über die Kante und tastete mit den Zehenspitzen nach dem Sims. Als sie Halt fand, ließ sie die Regenrinne los und glitt tiefer. Auf einer annehmbaren Höhe sprang sie und landete auf Händen und Füßen auf dem Müllwagen. Ihre Haut prickelte vom Aufprall.
„Ok“, sagte sie und winkte den anderen aufmunternd zu.
Marcus linste über den Rand zu ihr hinunter und schüttelte den Kopf. Fahrig strich er sich durch das helle Haar.
„Verdammter Traceur“, hörte sie ihn leise fluchen.
Dann sah sie Lee über den Rand gleiten und während die ältere Frau unsicher nach dem Sims suchte, hielt Marcus sie an den Handgelenken fest. Besorgt beobachtete Charlie, wie sie mehr rutschte als kletterte. Als sie sich fallen ließ, fing Charlie sie auf, bevor sie seitlich vom Müllauto kippte. Sie sah ihr in die trüben Augen.
„Wirst du krank?“
Lee schüttelte träge den Kopf. „Das will ich nicht hoffen.“
Marcus landete geschickt neben ihnen und grinste selbstzufrieden, doch ein Blick auf Lee ließ sein Lächeln schmelzen.
„Wir sollten kurz Halt machen“, schlug er vor. Er sah sich suchend um.
„Da drüben.“ Charlie deutete auf einen Kostümverleih. In den Schaufenstern hingen tote Lichterketten. Das Glas war intakt und vor der Eingangstür war das Gitter halb geschlossen. Man konnte sich seitlich daran vorbeidrücken.
Marcus nickte und sie halfen Lee vom Müllwagen. Langsam und gebückt schlichen sie bis zum Geschäft und während Marcus sich an der Tür zu schaffen machte, lehnte Charlie neben Lee an der warmen Wand. Die Sonne hatte den Stein aufgeheizt.
„Nicht abgeschlossen“, freute er sich und packte das Gewehr fester. Er drückte die Tür auf. Das Bimmeln der altmodischen Türglocke war ohrenbetäubend. Charlies Blutdruck schoss in die Höhe, schwer atmend sah sie die Straße entlang. Es blieb ruhig.
Sie nickte Marcus zu und er machte ein paar Schritte in das Geschäft hinein. Im Vorübergehen griff er nach der Glocke und riss sie herunter. Dann war er nicht mehr zu sehen. Die Kostümständer hinter dem Schaufenster versperrten die Sicht in den Verkaufsraum. Charlie lauschte. Keine Schüsse, kein Knurren oder Jaulen und kein Tumult. Entschlossen schob sie Lee hinein.
Drinnen war es muffig, aber es roch nicht nach Tod oder Unrat. Wahrscheinlich hatte es den Besitzer erwischt, als er gerade versucht hatte, seinen Laden abzuschließen.
„Pech für dich, Glück für uns“, murmelte Charlie und schloss die Tür.
Lee setzte sich erschöpft hin und stützte ihren Kopf auf die Arme. Charlie ließ sie und zog ihre Machete aus dem Gürtel, um sich umzusehen. Sie konnte Marcus' blonden Schopf ein paar Reihen weiter sehen.
„Wie Räuber und Gendarm“, sagte er, als sie sich am Ende einer Reihe trafen.
„Hier ist alles sauber.“ Charlie steckte die Machete weg und musterte die Kostüme. Marcus schnaubte.
„Denk nicht mal dran. Ich laufe lieber stinkend herum, als etwas davon anzuziehen.“ Interessiert hob Charlie eine Augenbraue.
„Ach ja?“
„Wag es ja nicht!“
Sie lachte und nahm den kreischend rosafarbenen Stoff eines Prinzessinnenkleides zwischen die Finger. Es war billiges Material und der Schnitt ähnelte mehr einem Zelt als einer Ballrobe. Die dominierende Farbe im Geschäft war allerdings nicht Pink, sondern Rot. Charlie hatte noch nie so viele Weihnachtsmannanzüge und falsche Bärte auf einem Haufen gesehen. Auf der Theke hinter den Kleiderständern stand ein Deko-Rentier aus Birkenzweigen.
„Okay, Schluss mit der Besichtigungstour.“
Sie kehrten zu Lee zurück. Noch bevor sie in Sicht kam, stieg Charlie schon der saure Gestank von Erbrochenem in die Nase. Lee lag auf der Seite und hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war kalkweiß.
„Oh Mann.“ Marcus holte eine PET-Flasche aus seinem Rucksack und flößte ihr etwas Wasser ein. Die Flasche war nur halb voll. Das Regenwasser ging ihnen aus. Genauso wie die Läden, die noch abgepacktes Wasser in Flaschen hatten. Mal abgesehen davon, dass sie nicht so viel schleppen konnten, wie ihre Gruppe brauchte. Das Wasser aus den Flüssen konnten sie auch nicht trinken. Es war voll mit Keimen und Bakterien. Cholera, Typhus, Hepatitis, Ruhr und wenn sie Pech hatten, der Virus. Aber manchmal tranken sie es doch.
Lee schluckte schwer und würgte. Charlie hockte sich neben sie und öffnete ihren Mund, um sich die Zunge anzusehen. Kein Belag.
„Meinst du, sie hat schlechtes Wasser getrunken?“
Charlie zuckte mit den Schultern und holte das Funkgerät hervor.
„Rafael“, sagte sie mit der Gewissheit, dass er am Ende der Leitung war. „Schnapp dir ein paar Leute. Ihr müsst Lee und Marcus holen.“ Im Lautsprecher des Funkgeräts knirschte es.
„Was ist los?“
„Lee ist krank. Kennst du die Straße mit dem Müllwagen bei der U-Bahnstation Mitte? Sie sind im Kostümshop.“ Wieder das Knirschen und Knistern.
„Und wo zum Teufel bist du?“
Marcus verdrehte die Augen und gab Lee noch einen Schluck zu Trinken. Dann spähte er aus dem Fenster. Es würde nicht mehr ewig hell bleiben und wenn Charlie es noch bis zum Supermarkt und zurück schaffen wollte, musste sie los.
„Nimm meinen Rucksack“, sagte er und zog ihn sich vom Rücken. „Da passt mehr rein.“
Charlie seufzte. An manchen Tagen wollte sie die Verantwortung, die sie sich mit diesen Leuten aufgeladen hatte, einfach abschütteln. Gesellschaft war eine tolle Sache, aber man stand ständig unter Zwang. Geh nicht, geh doch, du musst, du musst nicht.
„Ich mache weiter nach Plan“, informierte sie Rafael. „Schwing jetzt deinen Arsch hier her und bring Hiram und Tori mit.“
Das Gerät knackte, aber es kam keine Antwort. Charlie zog eine Grimasse und steckte es weg. Sollte er doch schmollen. Sie hatte zu tun.
„Bis später“, sagte sie zu Marcus. Lee öffnete ihre Augen einen Spalt breit.
„Sei vorsichtig.“
„Kümmere du dich erst mal um dich selbst. Und sieh zu, dass du das nächste Mal die Finger von dreckigen Pfützen lässt.“ Schuldbewusst verzog Lee die weißen Lippen. Sie würde nicht die Letzte sein, die bei Wassermangel Dummheiten machte.
„Grüß mir Ian“, neckte Charlie sie. Lee verdrehte die geröteten Augen und stöhnte. Ob vor Schmerzen oder der Aussicht, neben Ian im Krankenlager zu liegen, war unklar. Seine Beinbrüche verheilten unter den gegebenen Umständen ganz gut. Er hatte...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2018 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7448-4515-X / 374484515X |
ISBN-13 | 978-3-7448-4515-1 / 9783744845151 |
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