Im Herzen der Gewalt (eBook)
224 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490265-4 (ISBN)
Édouard Louis wurde 1991 geboren. Sein autobiographischer Debütroman »Das Ende von Eddy«, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Seine Bücher erscheinen in 30 Ländern und werden vielfach fürs Theater adaptiert und verfilmt. Über seine literarischen Positionen gab er u.a. Auskunft als Samuel Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin (2018), bei der Mosse Lecture an der Humboldt-Universität Berlin (2019) oder 2023 bei den Tübinger Poetikvorlesungen. Zuletzt erschienen »Wer hat meinen Vater umgebracht« und »Die Freiheit einer Frau« sowie der Gesprächsband mit Ken Loach »Gespräch über Kunst und Politik«. Édouard Louis lebt in Paris.
Édouard Louis wurde 1991 geboren. Sein autobiographischer Debütroman »Das Ende von Eddy«, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Seine Bücher erscheinen in 30 Ländern und werden vielfach fürs Theater adaptiert und verfilmt. Über seine literarischen Positionen gab er u.a. Auskunft als Samuel Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin (2018), bei der Mosse Lecture an der Humboldt-Universität Berlin (2019) oder 2023 bei den Tübinger Poetikvorlesungen. Zuletzt erschienen »Wer hat meinen Vater umgebracht« und »Die Freiheit einer Frau« sowie der Gesprächsband mit Ken Loach »Gespräch über Kunst und Politik«. Édouard Louis lebt in Paris. Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959, übersetzt Belletristik und Theaterstücke aus dem Französischen, Italienischen und Norwegischen, darunter Werke von Jon Fosse, Henrik Ibsen, Jean Echenoz, Louis-Ferdinand Céline, Yasmina Reza, Stefano Benni und Massimo Carlotto. Er ist u.a. Träger des Jane-Scatcherd-Preises der Ledig-Rowohlt-Stiftung, des Paul-Celan-Preises und des Deutschen Jugendliteraturpreises.
Louis' Worte haben Gewicht, ohne schwer zu sein, sie kommen aufrecht daher, ohne den Zeigefinger zu heben. Sie verkörpern eine Haltung.
Glänzend übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, ist ›Im Herzen der Gewalt‹ ein atemlos geschriebenes, beklemmendes, sehr persönliches und zugleich politisches Buch, reflektiert und von großer Sprachkraft.
[…] ein unerhört kluger Autor, der weit über individuelle Empfindlichkeiten ins Gesellschaftliche hinausdenkt
[…] die Kraft des Romans entfaltet sich genau […] durch Édouards ungeschönten Umgang – mit sich selbst.
Die Virtuosität mit der Louis die Deutungen gegeneinanderstellt, ist eindrucksvoll; die Selbstironie […] hat einen sardonischen Vergnügungswert.
In seinem verstörenden, durch die geschickte Brechung der Chronologie immer spannenden Roman ›Im Herzen der Gewalt‹ macht Édouard Louis menschliche Abgründe sichtbar.
[…] ein großes Buch über die Macht der Sprache, das Unsichtbare zu zeigen. […] Édouard Louis hat im Kertész'schen Sinne zwei sehr wahre Bücher geschrieben.
ein atemlos geschriebenes, beklemmendes, sehr persönliches und zugleich politisches Buch, reflektiert und von großer Sprachkraft. [...] Louis erweist sich damit als einer der großen zeitgenössischen Autoren Frankreichs.
Eins
Und ein paar Stunden nach dem, was in der Kopie der Anzeige, die gefaltet bei mir zu Hause in einer Schublade liegt, Mordversuch genannt wird, verließ ich meine Wohnung und ging die Treppe hinunter.
Ich ging im Regen über die Straße, um mein Bettzeug bei neunzig Grad zu waschen, unten im Waschsalon, keine fünfzig Meter von meiner Haustür entfernt, gebeugt unter einem allzu unhandlichen, allzu schweren Wäschesack, meine Knie knickten unter dem Gewicht ein.
Es war noch nicht ganz hell. Kein Mensch auf der Straße. Ich war allein, ich stolperte voran, ich hatte nur ein paar Meter zu gehen, und doch zählte ich vor lauter Eile: Nur noch fünfzig Schritte, komm, nur noch zwanzig, gleich bist du da. Ich ging schneller. Und ich dachte auch – in ungeduldiger Erwartung der Zukunft, die das Ganze in gewisser Weise in die Vergangenheit verlegen, es verbannen und relativieren würde: In einer Woche denkst du: Jetzt ist es schon eine Woche her, komm schon, und in einem Jahr: Jetzt ist es schon ein Jahr her. Der eiskalte Regen war nicht dicht, aber extrem fein, unangenehm, er kroch in meine Stoffschuhe, die Nässe breitete sich in den Sohlen und im Gewebe der Socken aus. Ich fror – und ich dachte: Vielleicht wird er wiederkommen, er wird wiederkommen, jetzt bin ich zur Flucht verurteilt, er hat dich zur Flucht verurteilt. Der Inhaber war schon im Waschsalon, er war klein, gedrungen, sein Oberkörper ragte hinter der Reihe der Waschmaschinen hervor. Er fragte, ob es mir gutgehe, ich antwortete Nein, so schroff ich nur konnte. Ich wartete seine Reaktion ab. Ich wollte, dass er reagierte. Er fragte nicht nach, er zuckte mit den Schultern, wandte den Kopf ab, verzog sich in sein enges Büro hinter den Wäschetrocknern, und ich hasste ihn dafür, dass er nicht nachfragte.
Ich ging mit der sauberen Bettwäsche wieder zu mir hoch. Ich schwitzte auf der Treppe. Ich bezog das Bett neu, Redas Geruch schien noch darin festzuhängen, also machte ich Kerzen an und brannte Räucherstäbchen ab; es genügte nicht; ich griff nach Geruchsentferner, Deo, auch nach verschiedenen Parfüms, die ich zu meinem letzten Geburtstag bekommen hatte, zu Eau de Cologne, und besprenkelte das Bettzeug damit, ich weichte die Kissenbezüge, die ich doch eben gerade gewaschen hatte, in Waschlauge ein, der Stoff schied sie in Form von quellenden kleinen Seifenbläschen aus. Ich schrubbte die Holzstühle ab, wischte mit einem in Reinigungsmittel getränkten Schwamm über die Bücher, die er angefasst hatte, rieb die Türgriffe mit Desinfektionstüchern ab, wischte sorgsamst jede einzelne Holzlamelle der Jalousien ab, verrückte und vertauschte die am Boden stehenden Bücherstapel, wienerte das metallene Bettgestell, besprühte die glatte Oberfläche des Kühlschranks mit einem nach Zitrone duftenden Mittel; ich konnte nicht aufhören, mich trieb eine dem Wahnsinn nahe Energie an. Ich dachte: besser verrückt als tot. Ich scheuerte die Dusche, die er benutzt hatte, leerte mehrere Liter Chlorreiniger in Toilettenschüssel und Waschbecken (jedenfalls mindestens zwei Liter, ich hatte noch eine volle Eineinhalb-Liter-Flasche und eine zweite, die erst halb leer war), ich scheuerte das gesamte Badezimmer, es war absurd, putzte sogar den Spiegel, in dem er sich in der Nacht betrachtet oder vielmehr bewundert hatte, warf die Kleidungsstücke in den Müll, die er berührt hatte, sie zu waschen hätte nicht genügt; ich weiß nicht, warum es beim Bettzeug genügte, nicht aber bei der Kleidung. Ich wischte den Boden, auf allen vieren, das heiße Wasser verbrannte mir die Finger, der Putzlappen riss kleine rechteckige Fetzen meiner aufgeweichten Haut ab. Die Fetzen rollten sich zusammen. Ich hielt inne, ich atmete tief durch, in Wirklichkeit schnüffelte ich, schnüffelte wie ein Tier, ich war zum Tier geworden bei der Suche nach diesem Geruch, der nicht verschwinden zu wollen schien, trotz all meiner Mühen, sein Geruch ging nicht weg, und ich schloss daraus, dass er an mir selber haftete, nicht am Bettzeug oder an den Möbeln. Das Problem kam aus mir. Ich ging in die Dusche, wusch mich einmal, zweimal, dann ein drittes Mal und so weiter, mit Seife, Shampoo, Haarspülung, den ganzen Körper, um ihn möglichst gründlich neu zu beduften, es war, als hätte Redas Geruch sich in mich hineingefressen, tief hinein, zwischen Fleisch und Epidermis, und ich kratzte mich am ganzen Körper, schliff meine Glieder ab, mit aller Kraft, besessen, um die tieferen Hautschichten zu erreichen, sie von seinem Geruch zu befreien, ich fluchte, verdammte Scheiße, aber der Geruch blieb, verursachte mir immer stärkere Übelkeit und Schwindel. Ich schloss daraus: Wahrscheinlich sitzt der Geruch in deiner Nase. Wahrscheinlich riechst du das Innere deiner Nase. Der Geruch sitzt darin fest. Ich verließ das Bad, ich ging wieder zurück und goss mir Kochsalzlösung in die Nasenlöcher; ich schnäuzte mich, wie beim Naseputzen, denn ich wollte, dass die Lösung die gesamte Oberfläche des Inneren meiner Nase überzog; es nutzte nichts; ich riss die Fenster auf und verließ die Wohnung, ging zu Henri, dem einzigen Freund, der am 25. Dezember um neun oder zehn Uhr morgens schon wach war.
Meine Schwester schildert diese Szene ihrem Mann. Ich stehe hinter einer Tür versteckt, belausche sie. Ich höre ihre Stimme, ich erkenne sie sogar nach Jahren der Abwesenheit, ihre Stimme, in der immer Wut und Groll mitschwingen und auch Ironie, und Resignation.
Vor vier Tagen bin ich bei ihr eingetroffen, in der naiven Hoffnung, ein paar Tage auf dem Land wären das einzige Mittel, über die Müdigkeit und den Überdruss meines Alltags hinwegzukommen, aber kaum hatte ich dieses Haus betreten, die Reisetasche auf die Matratze gestellt, kaum hatte ich das Schlafzimmerfenster geöffnet, das auf die Wäldchen und die Fabrik des Nachbardorfs hinausgeht, da begriff ich, dass ich einem Irrtum aufgesessen war und noch melancholischer und deprimierter wieder nach Hause fahren würde.
Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr besucht. Wenn sie mir das vorwirft, stottere ich eine Worthülse in der Art von »Ich muss halt mein Leben führen« und versuche, so viel Überzeugung da hineinzulegen, damit nicht ich ein schlechtes Gewissen bekomme, sondern sie.
Aber ich weiß nicht, was ich bei ihr zu suchen habe. Schon letztes Mal war ich in dasselbe Auto gestiegen wie diese Woche, in dieses Auto, das mich krank macht mit seinem kalten Tabakgeruch, und mir war regelrecht übel geworden bei dem Blick aus dem Fenster, immer noch dieselben Mais- und Rapsfelder, dieselben endlosen Flächen von stinkenden Zuckerrüben, die Reihen von Backsteinhäusern, die widerwärtigen Plakate des Front National, die schäbigen kleinen Kirchen, stillgelegten Tankstellen, heruntergekommenen, baufälligen Supermärkte, einfach zwischen die Weiden geknallt, in diese deprimierende nordfranzösische Landschaft. Ich hatte seinerzeit begriffen, dass ich mich einsam fühlen würde. Beim Aufbruch nach Hause war mir klar, dass ich das Land hasste und nie wiederkommen würde. Aber dieses Jahr komme ich also wieder. Und da ist noch etwas. Du willst nur nicht wiederkommen, weil ihr euch unweigerlich zankt, kaum dass du fünf Minuten da bist, dachte ich bei der Ankunft, als ich in ihrem Auto saß und sang, um nicht reden zu müssen, nicht nur, weil alles an ihr, Verhalten, Gewohnheiten, auch die Denkgewohnheiten dich angreift und wütend macht. Nein, dir ist zudem aufgefallen, wie leicht es dir fällt, sie nicht mehr zu sehen, wie gleichgültig es dir ist, auch darum magst du sie nicht mehr sehen. Das ist hart, denn außerdem erwartest du, dass sie dich bei dieser Anstrengung, sie zu vernachlässigen, auch noch unterstützt. Jetzt weiß sie Bescheid. Jetzt weiß sie, zu was für einer Gefühlskälte du imstande bist, und du schämst dich. Es gibt eigentlich keinerlei Veranlassung dazu, du hast ein Recht darauf, sie nicht sehen zu wollen, dennoch schämst du dich. Dieser Besuch konfrontiert dich mit deiner eigenen Grausamkeit, mit dem, was du in deiner Beschämung Grausamkeit nennst. Du weißt, das Zusammensein mit Clara zwingt dich, an dir die Seiten zu sehen, die du lieber nicht sähest, und das nimmst du ihr übel. Ob du willst oder nicht, du nimmst es ihr übel.
Seit meinem letzten Besuch habe ich ihr nur ein paar SMS geschickt oder eher nichtssagende Postkarten, aus einem unbestimmten Gefühl familiärer Verpflichtung heraus, sie hat sie mit Magneten an ihrem Kühlschrank befestigt; rasch auf einer Parkbank oder auf der Ecke eines Kaffeehaustischs hingekritzelte Nachrichten, »Umarmung aus Barcelona, bis bald, Édouard«, »Liebe Grüße aus Rom. Superwetter!«, vielleicht gar nicht einmal, um eine schmale Verbindung zu ihr aufrechtzuerhalten, wie ich es mich glauben mache, sondern um sie an die Distanz zwischen uns zu erinnern, und ihr klarzumachen, wie fern ich ihr mittlerweile bin.
Ihr Mann ist von der Arbeit zurück. Von dort, wo ich stehe, kann ich seine Füße sehen. Clara und er befinden sich im Wohnzimmer, ich im Nachbarraum. Die Tür steht vier, fünf Zentimeter offen, ich höre ihr zu, ohne dass sie sehen können, wie ich aufrecht, starr in meinem Versteck hinter der Tür stehe. Auch ich kann sie nicht sehen, kann sie nur hören, sehe nur seine Füße, ahne aber, dass sie auf dem Stuhl gegenüber sitzt. Reglos hört er ihr zu, und sie redet.
»Er hat mir einfach gesagt, er würde so gut wie gar nichts über ihn wissen, nur seinen Vornamen: Reda.«
Didier und Geoffroy sind der Meinung, dass er mich angelogen und mir einen erfundenen Namen genannt hat. Ich habe keine...
Erscheint lt. Verlag | 24.8.2017 |
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Übersetzer | Hinrich Schmidt-Henkel |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Algerien • Anspruchsvolle Literatur • Anzeige • Bedrohung • Begegnung • Begehren • Bericht • Eddy • Eribon • Frankreich • Geschichte • Gewalt • Homosexualität • Immigrant • Kindheit • Klassen • Krankenhaus • Kriminalität • Liebe • Louis • Mordversuch • Nacht • Paris • Politik • Polizei • Rassismus • Reda • Revolver • Roman • Schwester • Toleranz • Überfall • Vorurteile • Waffe |
ISBN-10 | 3-10-490265-8 / 3104902658 |
ISBN-13 | 978-3-10-490265-4 / 9783104902654 |
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