Das Leben des Vernon Subutex 1 (eBook)
400 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31727-5 (ISBN)
Virginie Despentes, Jahrgang 1969, zunächst bekannt als Autorin der »Skandalbücher« »Baise-moi - Fick mich« und »King Kong Theorie«, hat sich spätestens mit ihren Vernon-Subutex-Romanen in den Olymp der französischen Schriftsteller:innen geschrieben. Sie ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Ihr Roman Apocalypse Baby wurde mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet.
Virginie Despentes, Jahrgang 1969, zunächst bekannt als Autorin der »Skandalbücher« »Baise-moi – Fick mich« und »King Kong Theorie«, hat sich spätestens mit ihren Vernon-Subutex-Romanen in den Olymp der französischen Schriftsteller:innen geschrieben. Sie ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Ihr Roman Apocalypse Baby wurde mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. Claudia Steinitz übersetzt seit 30 Jahren französischsprachige Literatur u.a. von Yannick Haenel, Véronique Olmi, Albertine Sarrazin und Lyonel Trouillot.
Die Fenster im Haus gegenüber sind schon hell. Sieht aus wie eine Werbeagentur. In dem großen open space bewegen sich vereinzelte Gestalten. Die Putzfrauen fangen um sechs an. Meistens ist Vernon schon wach, wenn sie kommen. Er hat Appetit auf einen starken Kaffee und eine Filterzigarette, er würde sich gern eine Scheibe Brot toasten und beim Frühstück online die Schlagzeilen des Parisien überfliegen.
Kaffee hat er seit Wochen nicht mehr gekauft. Die Zigaretten, die er sich morgens aus den Kippen vom Vortag dreht, sind so dünn, dass er eigentlich nur noch Papier raucht. Er hat nichts zu essen im Haus. Aber das Internetabo hat er behalten. Es wird an dem Tag abgebucht, an dem das Wohngeld überwiesen wird. Das kommt zwar seit Monaten nicht mehr, aber bis jetzt hat es trotzdem irgendwie geklappt. Hoffentlich geht es weiter gut.
Sein Handyabo ist abgelaufen, er macht sich keinen Kopf mehr um Flatrates. Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz: so tun, als ob nichts wäre. Er hat zugesehen, wie alles den Bach runterging, erst war es wie in Zeitlupe, dann legte der Absturz an Tempo zu. Aber Vernon hat weder die Gleichgültigkeit noch die Eleganz aufgegeben.
Erst haben sie ihm die Stütze gestrichen. Per Post hat er eine Kopie des Berichts bekommen, den seine Beraterin über ihn geschrieben hat. Sie haben sich gut verstanden. Fast drei Jahre lang haben sie sich regelmäßig in ihrer engen Box getroffen, wo sie die Grünpflanzen sterben ließ. Madame Bodard, wie aus dem Ei gepellt, rot gefärbte Haare, mollig, große Brüste. Sie erzählte gern von ihren beiden Söhnen, die ihr Sorgen machten, sie brachte sie häufig zum Kinderarzt und hoffte, dass er Hyperaktivität feststellte, die die Verschreibung von Beruhigungsmitteln rechtfertigen würde. Aber der Arzt fand, sie seien in Hochform, und schickte sie nach Hause. Madame Bodard hatte Vernon erzählt, dass sie als junges Mädchen mit ihren Eltern bei Konzerten von AC/DC und Guns N’Roses gewesen war. Jetzt stand sie mehr auf Camille und Benjamin Biolay, aber er hatte sich jeden abschätzigen Kommentar verkniffen. Sie hatten lange über seinen Fall gesprochen: Vernon war von zwanzig bis fünfundvierzig Plattenverkäufer gewesen. Auf seinem Gebiet waren Stellenangebote noch seltener, als wenn er im Kohlebergbau gearbeitet hätte. Madame Bodard hatte eine Umschulung vorgeschlagen. AFPA, GRETA, CFA, gemeinsam hatten sie sich bei allen Bildungsträgern die Angebote angesehen, die ihm offenstanden, und sich in aller Freundschaft mit der Verabredung getrennt, sich wiederzusehen und die Lage zu besprechen. Zwei Jahre später war seine Bewerbung für eine Ausbildung zum Verwaltungsangestellten abgelehnt worden. Er fand, er habe getan, was seine Pflicht sei, er war zum Spezialisten für Bewerbungen geworden, die er mit schöner Effizienz vorbereitete. Im Laufe der Zeit bekam er den Eindruck, dass sein Job tatsächlich darin bestand, sich im Internet rumzutreiben, nach Stellen zu suchen, die seinem Profil entsprachen, und dann Lebensläufe hinzuschicken, um im Gegenzug Absagen zum Vorzeigen zu bekommen. Wer wollte schon einen fast Fünfzigjährigen ausbilden? Immerhin hatte er ein Praktikum in einem Konzertsaal in der Banlieue und eins in einem Programmkino ergattert – aber abgesehen davon, dass er ein bisschen rauskam, über die Probleme des RER auf dem Laufenden blieb und Leute traf, verschaffte ihm das alles eigentlich nur ein unangenehmes Gefühl von Verschwendung.
In dem Bericht, den Madame Bodard verfasst hatte, um die Streichung seiner Bezüge zu rechtfertigen, erwähnte sie Dinge, die er nebenbei erzählt hatte: dass er kleinere Beträge ausgab, um die Stooges in Le Mans zu sehen, oder mal hundert Euro beim Poker verlor. Anstatt sich wegen der Streichung seiner Stütze zu sorgen, hatte er sich beim Überfliegen des Berichts entsetzlich für sie geschämt. Die Beraterin war um die dreißig. Wie viel verdiente sie, wie viel verdient so ein Mädel, zweitausend brutto? Allerhöchstens. Aber ihre Generation war im Rhythmus der Soap Secret Story aufgewachsen: eine Welt, in der jederzeit das Telefon klingeln kann, um dir die Anweisung zu geben, die Hälfte deiner Kollegen rauszuwerfen. Eliminiere deinen Nächsten, so lautet die goldene Regel der Spiele, die man ihnen mit der Muttermilch eingeflößt hat. Wie soll man heute von ihnen erwarten, dass sie das krank finden?
Als er seinen Bescheid erhielt, hatte sich Vernon gesagt, das werde ihn bestimmt motivieren, »irgendwas« zu finden. Als hätte die Verschärfung seiner Situation einen wohltuenden Einfluss auf seine Fähigkeit, aus der Sackgasse herauszukommen, in die er sich manövriert hatte.
Aber nicht nur mit ihm war es schnell bergab gegangen. Bis zum Beginn des Jahrtausends hatten sich eine Menge Leute irgendwie durchgeschlagen. Da wurden Fahrradboten noch Labelmanager, ergatterten freie Journalisten einen Job als Redakteur der Fernsehseite, endete selbst der größte Versager als Chef der Plattenabteilung in der Fnac … Am Ende des Hauptfelds kamen sogar die am wenigsten Ehrgeizigen noch als Saisonkraft bei einem Festival, mit einem Roadiejob bei einer Tournee oder als Plakatekleber halbwegs über die Runden … Vernon saß zwar an der richtigen Stelle, um das Ausmaß des Napster-Tsunamis zu erfassen, aber er hätte sich nie vorgestellt, dass in Sekunden das ganze Schiff untergeht.
Manche behaupteten, das sei karmisch, die Industrie habe mit der Operation CompactDisk zu viel Aufwind bekommen; sie hatte allen Kunden ihre gesamte Plattensammlung noch einmal verkauft, auf einem Medium, das in der Herstellung billiger war und doppelt so teuer verkauft wurde, und ohne dass ein Musikliebhaber dabei auf seine Kosten kam – niemand hatte sich je über das Vinylformat beklagt. Die Schwachstelle bei der Karmatheorie war, dass man es inzwischen wissen würde, wenn jeder Arschlochauftritt von der Geschichte bestraft würde.
Sein Geschäft hieß Revolver. Vernon hatte mit zwanzig als Verkäufer dort angefangen und den Laden auf eigene Rechnung weitergeführt, als sein Chef beschloss, nach Australien auszuwandern und ein Restaurant aufzumachen. Wenn man ihm im ersten Jahr gesagt hätte, dass er den größten Teil seines Lebens in diesem Laden verbringen würde, hätte er geantwortet, ganz sicher nicht, ich habe zu viel vor. Erst wenn man alt wird, begreift man, dass der Ausruf »Kinder, wie die Zeit vergeht!« den Geist alles Handelns am besten zusammenfasst.
2006 musste er zumachen. Das Schwierigste war, jemanden zu finden, der den Vertrag übernahm, und sich von den Träumen vom großen Geld zu verabschieden. Aber das erste Jahr, ohne Arbeitslosengeld, weil er selbstständig gewesen war, lief gut – ein Auftrag für ein Dutzend Einträge einer Rockenzyklopädie, ein paar Tage Schwarzarbeit beim Ticketverkauf für ein Festival in der Banlieue, Plattenrezensionen für Fachzeitschriften … und er hatte angefangen, im Internet alles zu verkaufen, was er aus dem Laden mitgenommen hatte. Der größte Teil der Bestände war weg, aber ihm blieben noch ein paar Vinylplatten, Schuber und eine beachtliche Sammlung von Plakaten und T-Shirts, die er nicht mit dem Rest hatte verschleudern wollen. Über eBay holte er das Dreifache von dem raus, was er erwartet hatte, alles ohne Theater mit irgendwelcher Buchhaltung. Man muss nur seriös sein, gleich zur Post gehen und auf die Verpackung achten. Im ersten Jahr war er euphorisch gewesen. Das Leben ist oft ein Spiel in zwei Sätzen: Im ersten schläfert es dich ein und lässt dich glauben, dass du führst, und im zweiten, wenn du entspannt und wehrlos bist, serviert es dir seine Schmetterbälle und macht dich alle.
Vernon hatte gerade Zeit, sich wieder ans Ausschlafen zu gewöhnen – mehr als zwanzig Jahre lang hatte er, egal ob es stürmte oder er erkältet war, sechs Tage in der Woche jeden Morgen das gottverdammte Eisengitter seines Ladens hochgezogen. In all den Jahren hatte er die Ladenschlüssel nur dreimal einem Kollegen anvertraut: wegen einer Darmgrippe, eines Zahnimplantats und eines Ischiasanfalls. Er hatte ein Jahr gebraucht, bis er gelernt hatte, morgens wieder im Bett zu bleiben und zu schmökern, wenn er Lust darauf hatte. Der ultimative Kick war für ihn, Radio zu hören und dabei im Netz Pornos zu suchen. Er wusste alles über die Karriere von Sasha Grey, Bobbi Starr oder Nina Roberts. Er machte auch gern Mittagsschlaf, eine halbe Stunde lesen und dann einnicken.
Im zweiten Jahr hatte er sich um das Abbildungsverzeichnis eines Buches über Johnny gekümmert, sich beim Jobcenter angemeldet, das gerade seinen Namen geändert hatte, und angefangen, seine persönliche Sammlung zu verkaufen. Bei eBay kam er auf seine Kosten, er hätte nie gedacht, dass in der Welt 2.0 so ein Fetischrausch herrschte. Alles verkaufte sich: Merchandising, Comics, Plastikfiguren, Plakate, Fanzines, Fotobücher, T-Shirts. Wenn man anfängt zu verkaufen, hält man sich erst mal zurück, aber wenn es läuft, macht es einen Heidenspaß, zuzusehen, wie alles verschwindet. Allmählich hatte er seine Wohnung von allen Spuren seines früheren Lebens gereinigt.
Er hörte nicht auf, die Annehmlichkeit eines Morgens zu genießen, an dem einen niemand nervt. Er hatte alle Zeit der Welt, um Musik zu hören. Und die Kills, White Stripes und Strokes konnten so viele Platten rausbringen, wie sie wollten, er musste sich nicht mehr darum kümmern. Er hatte die Nase voll von den ganzen Neuheiten, das hört nie auf; um auf dem Laufenden zu sein, hätte man...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2017 |
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Übersetzer | Claudia Steinitz |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Baise-moi! • Drogensucht • Frankreich • Frankreich-heute • Gesellschaftsportrait • Gesellschaftsportrait-aktuell • Houllebecq • King Kong-Theorie • Musik-Digitalisierung • Popkultur • Prix Goncourt-Nominierung • Punk • SPIEGEL-Bestseller • Terrorismus • Trilogie |
ISBN-10 | 3-462-31727-X / 346231727X |
ISBN-13 | 978-3-462-31727-5 / 9783462317275 |
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