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Wir werden erwartet (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
640 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-21572-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir werden erwartet -  Ulla Hahn
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Der Kampf für die Freiheit
Es sind die wilden 68er - und alles scheint möglich zu sein. Hilla Palm, die junge Frau aus einfachem Hause, ist frei. Frei zu kämpfen. Für die Literatur, die Liebe und eine friedvollere, gerechtere Welt. Doch bald schon kommt zur ideologischen Ernüchterung die menschliche Enttäuschung. Nur über Umwege findet Hilla zu ihrem Glück.

Ein Buch über den Mut, die Gesellschaft und sein Leben zu verändern - ein Buch über die Kraft der Versöhnung.

Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.

In diesem Sommer ging ich vor den Semesterferien nicht zur studentischen Arbeitsvermittlung. Hilf mir, da kommen wir schneller weg, hatte Hugo mich gebeten, und so wechselte ich mich mit ihm im Rechenzentrum ab, um Texte aus Drehbüchern auf Lochkarten zu übertragen.

Weg hier. Lilo hatte uns nach Woodstock eingeladen. Sogar ein Plakat schickte sie uns, Zeitungsausschnitte und trockenes Gekrümel. Hanf, grinste Hugo. So ein Music and Art Festival, schrieb Lilo, dürft ihr euch nicht entgehen lassen. Dagegen schrumpfen eure Essener Songtage zum Kindergarten. Wohnen könnt ihr bei uns, lernt ihr auch mal NY kennen. Joe Cocker und Joan Baez, mehr als dreißig Bands – ist das nichts?

Ja, das war was! Wir blieben brav zu Hause, und das Einzige, was wir mitkriegten, war Tims erregte Stimme am Telefon: Lilo habe der Hitzschlag getroffen und sei mit dem Hubschrauber ausgeflogen worden. Ganz verrücktes Wetter. Besonders bei Joe Cocker. Sturm und Regen. Geradezu teuflisch. Und dann Joan Baez bei Blitz und Donner: ›We Shall Overcome‹. Drei Tage lang Wärmegewitter und Dauerregen, das Gelände ein einziger Sumpf. Überall shit and piss. Viel zu wenig Klos für vierhunderttausend Menschen. Aber alles friedlich.

Und Lilo?

Längst wieder ok. Sie habe es wohl nicht ausgehalten in diesem Dreck und Lärm. Schade, dass ihr nicht dabei wart.

Das fanden wir nicht. Unser Ziel stand ja ohnehin fest. Die Ewige Stadt.

Aber Gott ist doch tot, seufzte ich mit gespieltem Ernst.

Ach was, sagte Hugo. Der ist nicht totzukriegen. Der ist sowenig tot wie ein Gedicht, wenn es nicht gelesen wird. Es kann jederzeit wieder lebendig werden, bei jedem Lesen, bei jedem An-ihn-Denken.

Egal wie?

Egal wie. Noch Nietzsche mit seinem Gott ist tot hielt ihn lebendig. Jeder Atheist, jeder, der ihn leugnet oder bekämpft, belebt ihn.

Aber die Gleichgültigen, fiel ich dem Freund ins Wort.

Selbst die müssen ihre Gleichgültigkeit benennen, Hugo zog die Mundwinkel nach unten. Selbst im Linksliegenlassen, im Totschweigen ist er noch da. Gott, sagte Hugo in seinem für gewisse feierliche Zwecke bestimmten Tonfall, Gott ist wie ein Gedicht. Wir müssen das Alte immer neu lesen. So halten wir das Gedicht lebendig. Und unseren Deo auch. Das werden wir genauestens überprüfen. Andiamo a Roma!

Rom glühte, als wir in Fiumicino landeten. Unser Hotelzimmer in Trastevere war karg. Aus dem klapprigen Wandschrank roch es nach Mottenkugeln. Sittsam aufgedeckt lag das breite Hotelbett, es nahm fast das ganze Zimmer ein. Neben der Tür ein Gipsengelchen, vorm Bauch ein winziges Weihwasserbecken, ganz wie im Dondorfer Schlafzimmer der kleinen Hildegard.

Wir stießen die Fenster auf. Die Zweige einer Platane reichten fast bis an das Fenster heran, Wind trieb trockene Platanenfrüchte zwischen die gusseisernen Füße der Gasttische. Gelbe Staubfahnen jagten sich über den Platz, eine Katze sprang unter den Holzbänken hervor, Tauben rauschten auf, ihre korallenroten Füße und das malvenfarbene grünschillernde Gefieder schienen in der grellen Sonne aufzulodern.

Hugo stand hinter mir, und ich konnte seinen Männerkörper riechen, die tintenfarbenen Halbmonde unter den Achseln, seinen Schweiß einatmen, das Pulsen des Blutes unter der leicht gebräunten Haut, dazu drang durchs offene Fenster die Nachmittagshitze, gedämpft durch die Schatten der Platane im Wind, der den Vorhang aus vergilbter Spitze klatschend auf und nieder schlug, als drängten Licht und Wind unter den tanzenden Zweigen zu uns hinein, in uns hinein, Hilla und Hugo, nichts als Licht und Wind, nichts sonst in diesem Zimmer, in dieser Welt, Hilla und Hugo, zwei Sonnenflecken, die zu einem verschmolzen, außerhalb dieses unabwendbaren Vorwärtsgleitens der Zeit, bis von draußen ein schrilles Kinderstimmchen hereindrang: Mamaa!

Unser Blick ging über einen kleinen Brunnen in der Mitte des Platzes auf eine unscheinbare Kirche mit einem schweren glattgehobelten Portal, ein Geistlicher im schwarz wehenden Gewand kehrte ihr eilends den Rücken, hinter einer rotvioletten abgenutzten Ziegelmauer waren zwischen zwei mageren Bäumchen Wäschestücke zum Trocknen ausgespannt. An der Mauer klebten Plakate, Hammer und Sichel, geballte Fäuste, das Wort dazu schauten wir im Lexikon nach: sciopero. Streik. Es würde uns nicht zum letzten Mal begegnen.

Aus dem Fenster nebenan trillerte ein Kanarienvogel, trällerte mich ins Wohnzimmer von Cousine Maria, zum Hänsjen, ihrem Trost, nachdem der Verlobte sie wegen ihres Brustkrebses hatte sitzen lassen. Jetzt war sie glücklich mit ihrem Heiner, und Hänsjen zwitscherte bei der Schwiegermutter.

Ein Eisverkäufer rollte sein Wägelchen auf den Platz, Kinder liefen aus allen Richtungen herbei, drängten sich um den Kasten und schauten gespannt zu, wie der Eismann einen der blitzenden Deckel, einem Chinesenhut gleich, abhob, den Arm bis zum Ellenbogen in ein Loch vergrub und gleich darauf einen zartrosa, grünen oder gelben Klumpen Eis auf ein Pappstückchen drückte. Ganz so, wie ich es aus meinen Kindertagen kannte. Uralt und erwachsen kam ich mir vor, hier in der fremden Stadt, der geliebte Mann so nah, dass mir die Hitze seines Körpers in den Rücken glühte; auch mir rann der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinab, stickig, heiß war es wie in einem Treibhaus, wo ich – vor wie vielen Jahren – beinah den ersten Kuss geküsst hätte. Warum kamen mir ausgerechnet hier, wo alles neu und aufregend war, ständig Bilder von früher dazwischen?

Komm, sagte ich, andiamo.

Wir machten uns auf den Weg. Doch weit kamen wir nicht.

Vieni qua, vieni qua! Einladend winkten uns ein paar junge Männer, die auf Holzbänken an langen Tischen vor dem Hotel saßen, zu sich heran. Sonnenverbrannte Gesichter, beneidenswert blitzende Zähne, krause Locken. Federico, dachte ich, und wie der Gastarbeiter aus Sizilien der kleinen Hilla sonntagnachmittags bei den Weiden am Rhein mit einer Bürste, so wohlig weich, wie sie zu Hause keine jemals gespürt hatte, zärtlich durchs Haar gefahren war, wieder und wieder.

Wie in einer Kölner Kneipe gehörte man auch hier gleich dazu, sogar mitessen durften wir; weiches weißes Brot schob man uns zu, grüne und schwarze Oliven, kleingehackte Zwiebeln mit Knoblauch vermischt, vollgesogen mit Öl, das uns die Finger hinablief. Später gab es dicke weiße Bohnen, wie sie die Großmutter samstags in Buttermilch gekocht hatte, hier schwammen sie in Öl und Zitrone und schmeckten köstlich wie zu Hause.

Später setzten sich die Frauen zu uns, tobten Kinder um uns herum. Einer der Männer verschwand und kam mit einer Gitarre zurück, auch dem Pfarrer machten wir Platz, der leichte Wein ließ uns schweben, und alle miteinander trieben wir Bella Bimba, Marina, Santa Lucia himmelwärts.

So also konnte man auch arm sein: braungebrannt, singend, sich lachend auf die Schultern schlagend, konnte Maria! rufen und mit der leeren Flasche winken, karierte offene Hemden tragen oder einfach nur ärmellose Trikots. Der Vater, dachte ich, der Vater in Trastevere, einer von ihnen, das wär’s. Ora et labora, dachte ich. Bete und arbeite. Wie in Dondorf. Aber hier kam sichtbar noch ein Drittes dazu. Gaudete! Freut euch. Diese Armut war eine furchtlose Armut.

Felice notte!, wünschte man sich, wünschten auch wir, als wir aufbrachen und das letzte Stück des öltriefenden Brotes der Katze zukommen ließen, die uns lange zutraulich beobachtet hatte. Sie lief uns nach und musste, unwillig miauend, vor der Türe bleiben.

Draußen war es nun so still, dass endlich auch das heitere Plätschern des kleinen Brunnens zu uns ins Zimmer hinaufsang. Im Licht einer Straßenlaterne warf die Platane ihre bewegten Schatten an die Zimmerdecke, ein zuckender Tanz von Armen und Beinen, die sich zusammenballten, auflösten, neu umschlangen und wieder von vorn. Einander mit müden Händen und Zungen liebkosend, konnten wir uns kaum sattsehen an diesem unaufhörlichen Gewimmel, dieser magischen Vielzahl der Schatten, bis wir die sonnengedörrten Läden vor die offenen Fenster klappten, und dann taten wir es, so schön wir es konnten.

Wir standen zeitig auf am nächsten Tag. Einfach raus und schauen. Fischen gehen, nannten wir das. Warfen die Augen aus wie Angeln, sammelten ein, was uns zufiel, einen struppigen Hund, einen Marmorengel, Kinder auf dem Weg zur Schule, Frauen, die Fenster aufstießen, auf winzigen Balkonen Gemüse putzten und Schlager aus den Radios mitsangen.

Rom war, wo auch immer wir hinschauten, schön. Vor allem genoss ich die verlässlich begrenzte Freiheit der Plätze. Ihre jahrhundertealte steinerne Umarmung meines freien Schreitens, meines freien Blicks, von nichts als von Schönheit begrenzt, menschengemachter Schönheit.

Weißt du, sagte ich zögernd zu Hugo, ich habe den Eindruck, ich wäre hier ununterbrochen am Lernen.

Am Lernen? Hugos Staunen verstärkte meine Unsicherheit.

Ja, antwortete ich noch verhaltener, nicht nur sehen und Eindrücke sammeln. Lernen. Als wollte mir jeder Stein dieser Ewigen Stadt etwas beibringen.

Und was?

Weiß ich nicht. Das Leben vielleicht. Immer da. Und schon vorbei.

Da hilft nur eines! Hugo legte mir den Arm um die Schultern. Hier hast du beides.

Damit wir es hinter uns hatten, wie beim Eislauf die Pflicht vor der Kür, machten wir uns am ersten Tag auf in den Petersdom. Pfadfindertrupps und Pfarrgemeinden unter der Obhut ihrer Hirten, Frauenvereine und deutsche Reisegruppen, die Leiter mit schwarz-rot-goldenem Fähnchen voran, bevölkerten den Platz, junge Priester, umflossen von schweren Düften, wehten schwarz und schlank...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2017
Reihe/Serie Die Geschichte der Hilla Palm
Die Geschichte der Hilla Palm
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1968er • 1970er • 68er-Generation • Anne Gesthuysen • Aufstiegsgeschichte • Autobiografie • Bildungsroman • Carmen Korn • Deutsche Gegenwartsliteratur • eBooks • Entwicklungsroman • Epos • Frauenliteratur • Frauenroman • Hannelore-Greve-Literaturpreis • Hilla Palm • Jugendrevolte • Köln • Nachkriegsdeutschland • Revolution • Rheinland • Roman • Romane • Sittenbild der BRD • SPIEGEL-Bestseller • Spiegel-Bestseller-Autorin • Studentenbewegung • Studentenrevolution • Tetralogie • Töchter einer neuen Zeit • Weibliche Emanzipationsgeschichte
ISBN-10 3-641-21572-2 / 3641215722
ISBN-13 978-3-641-21572-9 / 9783641215729
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