Das Spiel der Götter 16 (eBook)
784 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-20272-9 (ISBN)
Mit dieser komplexen epischen Fantasy-Saga wurde Steven Erikson zu einem der bedeutendsten Vertreter der modernen Fantasy.
Steven Erikson, in Kanada geboren, lebt heute in Cornwall. Der Anthropologe und Archäologe feierte 1999 mit dem ersten Band seines Zyklus Das Spiel der Götter nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Einstieg in die Liga der großen Fantasy-Autoren.
Prolog
Ebene von Elan, westlich von Kolanse
Erst kam das Licht und dann die Hitze.
Er kniete auf dem Boden und legte den brüchigen Stoff vorsichtig in immer neue Falten, denn er wollte sichergehen, dass der Säugling nicht der Sonne ausgesetzt war. Er zupfte die Kapuze zurecht, bis schließlich ein kaum mehr als faustgroßes Loch blieb, in dem das Gesicht des kleinen Mädchens nur ein grauer Fleck in der Dunkelheit war. Dann hob er sie sanft auf und legte sie sich in die linke Armbeuge. Nichts von dem, was er tat, bereitete ihm Mühe.
Sie lagerten in der Nähe des einzigen Baums weit und breit, aber nicht darunter. Es war ein Gamleh-Baum, und die Gamlehs waren zornig auf Menschen. Gestern in der Abenddämmerung hatten unzählige aufgeregt flatternde graue Blätter an seinen Zweigen gehangen, zumindest, bis sie näher herangekommen waren. Heute Morgen waren die Zweige kahl.
Rutt stand da und blickte nach Westen, während er den Säugling festhielt, den er Gehalten genannt hatte. Die Gräser waren farblos. An manchen Stellen waren sie vom trockenen Wind weggescheuert worden, einem Wind, der den Staub um ihre Wurzeln weggeweht und die blassen Knollen freigelegt hatte, so dass die Pflanzen verdorrten und starben. Manchmal blieb Geröll zurück, wenn der Staub und die Knollen verschwunden waren. Und manchmal auch nur Grundgestein, schwarz und zerfurcht. Die Ebene von Elan verlor die Haare, aber das war etwas, das Badalle vielleicht sagen würde, die grünen Augen auf die Worte in ihrem Kopf gerichtet. Sie verfügte über eine besondere Gabe, das stand außer Frage, aber wie Rutt wusste, war manche Gabe in Wirklichkeit ein Fluch.
Badalle kam auf ihn zu; ihre sonnenverbrannten Arme waren so dünn wie Storchenhälse, die herunterhängenden Hände mit Staub überzogen; sie wirkten neben ihren dürren Oberschenkeln übergroß. Sie pustete die Fliegen weg, die ihren Mund verkrusteten, und sagte in ihrem typischen Singsang:
»Rutt hält Gehalten
Wickelt sie gut
Am frühen Morgen
Und steht dann auf …«
»Badalle«, sagte er, obwohl er wusste, dass sie mit ihrem Gedicht noch nicht fertig war, und genauso wusste er, dass sie sich nicht drängen lassen würde. »Wir leben noch.«
Sie nickte.
Diese wenigen Worte von ihm waren zu einem Ritual geworden, auch wenn in diesem Ritual immer noch ein bisschen Überraschung, eine leichte Ungläubigkeit mitschwang. Die Necker waren letzte Nacht besonders schlimm gewesen, aber die gute Nachricht war, dass sie die Väter vielleicht endlich hinter sich gelassen hatten.
Rutt rückte den Säugling, den er Gehalten genannt hatte, auf seinem Arm zurecht, dann setzte er sich auf geschwollenen Füßen humpelnd in Bewegung. Nach Westen, ins Herz der Ebene von Elan.
Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu sehen, dass die anderen ihm folgten. Zumindest die, die es noch konnten. Die anderen würden von den Neckern geholt werden. Er hatte nicht darum gebeten, der Kopf der Schlange zu sein. Er hatte um überhaupt nichts gebeten, aber er war der Größte und vielleicht auch der Älteste. Vielleicht war er dreizehn, es könnte aber auch sein, dass er vierzehn war.
Hinter ihm sagte Badalle:
»Und er fängt an zu gehen
An diesem Morgen
Mit Gehalten in den Armen
Und sein gerippter Schwanz
Der schlängelt sich
Wie eine Zunge
Von der Sonne.
Du brauchst die längste
Zunge
Wenn du nach Wasser
Suchst
Wie es die Sonne so gerne macht …«
Badalle beobachtete ihn einige Zeit, beobachtete, wie die anderen sich ihm anschlossen. Sie würde sich schon bald zum gerippten Schwanz gesellen. Sie pustete die Fliegen weg, aber natürlich kamen sie gleich wieder zurück, sammelten sich um die Geschwüre, die ihre Lippen dick machten, hopsten nach oben, um an ihren Augenwinkeln zu lecken. Früher einmal war sie eine Schönheit gewesen, mit ihren grünen Augen und den langen blonden Haaren, die wie goldene Tressen ausgesehen hatten. Aber mit Schönheit kann man sich nur für gewisse Zeit ein Lächeln erkaufen. Wenn die Speisekammer leer ist, wird die Schönheit schmutzig. »Und die Fliegen«, flüsterte sie, »verleihen dem Leiden ein Muster. Und Leiden ist hässlich.«
Sie beobachtete Rutt. Er war der Kopf der Schlange. Und er war auch ihre Reißzähne, aber Letzteres war nur ihr ganz persönlicher Witz.
Diese Schlange hatte vergessen, wie man aß.
Sie war bei denen gewesen, die aus dem Süden heraufgekommen waren, aus Korbanse, Krosis und Kanros. Sogar von den Otpelas-Inseln. Sie alle hatten ihr Zuhause verlassen – Häuser und Wohnungen, die nur noch leere Hüllen waren. Manche waren genau wie sie an der Küste des Pelasischen Meeres entlanggewandert und dann zum westlichen Rand von Stet, das einst ein großer Wald gewesen war, und dort hatten sie die hölzerne Straße gefunden, die sie manchmal Stumpfstraße nannten. Bäume waren in flache Scheiben geschnitten und die Scheiben dann in den Boden gehämmert worden, in Reihen, die weiter und immer weiter führten. Andere Kinder kamen aus Stet selbst; sie waren den alten Flussbetten gefolgt, die sich durch den grauen Wirrwarr aus zerschmetterten umgestürzten Bäumen und kranken Sträuchern wanden. Es gab Anzeichen dafür, dass Stet einst ein Wald gewesen war und sein alter Name – Stetwald – zu ihm gepasst hatte, aber Badalle war nicht gänzlich überzeugt – alles, was sie sehen konnte, war ein zerfurchtes Ödland, zerstört und verwüstet. Nirgendwo standen noch Bäume. Sie nannten die Straße Stumpfstraße, aber zu anderen Zeiten war sie die Waldstraße, und auch das war ein persönlicher Witz.
Natürlich hatte irgendjemand jede Menge Bäume gebraucht, um die Straße zu machen, also war da früher vielleicht wirklich ein Wald gewesen. Aber jetzt war er weg.
Am nördlichen Rand von Stet, dort, wo es an die Ebene von Elan grenzte, waren sie auf eine weitere Kolonne aus Kindern gestoßen, und einen Tag später war noch eine zu ihnen gestoßen, von oben aus dem Norden, direkt aus Kolanse, und an der Spitze dieser Kolonne war Rutt gewesen. Der Gehalten getragen hatte. Er war groß, mit herausstehenden Schultern, Ellbogen, Knien und Knöcheln, und die Haut um die Gelenke herum war schlaff und gedehnt. Er hatte große, leuchtende Augen. Er hatte immer noch alle Zähne, und wenn der Morgen dämmerte, war er da, jeden Morgen – am Kopf der Schlange. Die Reißzähne – der Rest folgte ihm einfach.
Sie alle glaubten, dass er wusste, wo er hinging, aber sie fragten ihn nicht, denn der Glaube war wichtiger als die Wahrheit, die besagte, dass er genauso verloren war wie alle anderen.
»Jeden Tag hält Rutt Gehalten
Und hält sie
Eingewickelt
In seinem Schatten.
Es ist schwer,
Rutt nicht zu lieben
Aber Gehalten tut es nicht
Und niemand außer Rutt
Liebt Gehalten.«
Visto war aus Okan gekommen. Als die Hungernden und die knochenhäutigen Inquisitoren auf die Stadt zumarschiert waren, hatte seine Mutter ihm gesagt, dass er weglaufen sollte, Hand in Hand mit seiner Schwester, die zwei Jahre älter war als er, und sie waren die Straßen entlanggerannt, zwischen brennenden Gebäuden hindurch, und Schreie hatten die Nacht erfüllt, und die Hungernden hatten Türen eingetreten und Leute nach draußen gezerrt und schreckliche Dinge mit ihnen gemacht, während die Knochenhäutigen zugeschaut und gesagt hatten, es sei notwendig, das alles sei notwendig.
Sie hatten seine Schwester von ihm weggerissen, und ihr Schrei hallte immer noch durch seinen Schädel. Seit damals plagte er ihn jede Nacht auf der Straße des Schlafs, von dem Augenblick, da ihn die Erschöpfung übermannte, bis zu dem Moment, wenn er im bleichen Angesicht der Morgendämmerung aufwachte.
Er war eine Ewigkeit lang gerannt, so kam es ihm vor, nach Westen und weg von den Hungernden. Hatte gegessen, was er konnte, und war immer durstig gewesen, und als er die Hungernden abgehängt hatte, waren die Necker aufgetaucht, große Meuten ausgezehrter Hunde mit rotgeränderten Augen, die sich vor überhaupt nichts fürchteten. Und dann die Väter, ganz in Schwarz gehüllt, die über die zerlumpten Lager auf den Straßen herfielen und Kinder stahlen, und einmal waren er und ein paar andere auf einen ihrer älteren Übernachtungsplätze gestoßen und hatten mit eigenen Augen die kleinen, geborstenen, grau und blau gesprenkelten Knochen in den Kohlen der Feuerstelle gesehen und auf diese Weise begriffen, was die Väter mit den Kindern machten, die sie sich holten.
Visto erinnerte sich daran, wie er den Stetwald zum ersten Mal gesehen hatte, eine Reihe kahler Hügel voller herausgerissener Baumstümpfe und Wurzeln, die ihn an einen der Friedhöfe erinnerten, die die Stadt umgaben, die seine Heimat gewesen war, und die aufgegeben worden war, nachdem das letzte Stück Vieh geschlachtet worden war. Und genau in jenem Moment, als Visto auf das geblickt hatte, was einst ein Wald gewesen war, war ihm klar geworden, dass die ganze Welt jetzt tot war. Es war nichts mehr übrig, und es gab keinen Ort mehr, wohin man gehen konnte.
Und dennoch trottete er weiter, einfach nur noch eins von vielen Kindern; es mussten Zehntausende sein, vielleicht sogar noch mehr, eine Straße aus Kindern, viele Meilen lang, und für alle, die unterwegs starben, kamen neue hinzu, die ihren Platz einnahmen. Er hätte nie gedacht, dass es so viele Kinder gab. Sie waren wie eine große Herde, die letzte große Herde, die einzige Nahrung und Nahrungsquelle für die letzten,...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2018 |
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Reihe/Serie | Das Spiel der Götter | Das Spiel der Götter |
Übersetzer | Tim Straetmann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dust of Dreams (The Malazan Book of the Fallen 09, Part 1) |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Assassinen • Brandon Sanderson • eBooks • Epos • Esslemont • Fantasy • Für Leser von George R.R. Martin • George R. R. Martin • High Fantasy • Intrigen • Joe Abercrombie • Malazan • Schicksal |
ISBN-10 | 3-641-20272-8 / 3641202728 |
ISBN-13 | 978-3-641-20272-9 / 9783641202729 |
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