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Das Wundersame in der Unwirtlichkeit. (eBook)

Neue Vorlesungen.
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
128 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490585-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Wundersame in der Unwirtlichkeit. -  Marlene Streeruwitz
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Technische Möglichkeiten und künstliche Intelligenz verändern nicht nur unseren Umgang mit der Welt, sie formatieren auch unseren Blick auf Kunst und Literatur neu. Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit wurde längst durch jenes der digitalen Kunstproduktion abgelöst, in dem gigantische Medienunternehmen Weltmacht beanspruchen. »Technische Aliens werden Romane schreiben können. Welche Romane sollen das sein? Welche Literatur könnte das sein?« Das zu bestimmen ist unsere Aufgabe. Marlene Streeruwitz verbindet in ihren Poetikvorlesungen eine kritische Analyse von Kunst und Gegenwart und formuliert ein Plädoyer für den Aufruhr in der Literatur.

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019), die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021), der Roman »Tage im Mai.« (2023) sowie die Bände »Handbuch für die Liebe.« sowie «Handbuch gegen den Krieg.« (2024).  Literaturpreise (u.a.): Mara-Cassens-Preis 1996 Österreichischer Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999 Hermann-Hesse-Literaturpreis 2001 (für 'Nachwelt') Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002 Bremer Literaturpreis 2012 Franz-Nabl-Preis 2015 Preis der Literaturhäuser 2020 Wiener Buchpreis 2023

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019), die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021), der Roman »Tage im Mai.« (2023) sowie die Bände »Handbuch für die Liebe.« sowie «Handbuch gegen den Krieg.« (2024).  Literaturpreise (u.a.): Mara-Cassens-Preis 1996 Österreichischer Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999 Hermann-Hesse-Literaturpreis 2001 (für "Nachwelt") Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002 Bremer Literaturpreis 2012 Franz-Nabl-Preis 2015 Preis der Literaturhäuser 2020 Wiener Buchpreis 2023

Denen […], die Lust auf einen klugen Diskurs haben, die gern mitdenken, wird es ein intellektuelles Vergnügen sein.

[…] diese klugen Vorlesungen sollten Pflichtlektüre sein für alle.

Frozen II.


Das zweite Kapitel des Romans Malina von Ingeborg Bachmann beginnt mit Leseanleitungen.[2]

Die zweite Überschrift Der dritte Mann fungiert als Inhaltsangabe. Innertextlich bedeutet dieser Titel, dass es in diesem Kapitel nach Ivan und Malina um einen dritten Mann gehen wird. Mittels des bestimmten Artikels des Titels wird dieser dritte Mann als Gegenstand des Textes fixiert. »DER dritte Mann.« Wir befinden uns in einer Zählstruktur. Der erste Mann. Der zweite Mann. Der Dritte.

Diese Zählstruktur führt die Zahl drei als christologisch-magisches Prinzip ein. Dieses Prinzip strukturiert den Text auf allen Ebenen dieser insgesamt 35 Traumerzählungen und 10 Wacherzählungen. Zunächst gilt das für das Erzähl-Ich sowohl in den Wach- wie auch in den Traumerzählungen. Das Erzähl-Ich muss also Handlungen dreimal wiederholen. Und dann auf der Ebene der erzählten Motive. Zum Beispiel. In der 29. Traumerzählung gelangen 3 Blutstropfen des Erzähl-Ichs an den Krokodilen des triumphalen Paars aus Vater und viel jüngerer Frau vorbei ins Schwarze Meer.

In der übergeordneten Struktur der Anordnung werden die Traumerzählungen in dreifache Wiederholungen gegliedert. So finden wir die 1. Traumerzählung dreimal variiert vor. Diese 1. Erzählung wird in der 15. und 28. Traumerzählung wiederaufgenommen und so über den gesamten Text ausgebreitet. Die 1. Traumerzählung ist in der Logik dieser Struktur dem Text ganz wörtlich zugrunde gelegt. Und. In Vollendung dieser Struktur erfüllt sich das in diesen Erzählungen aufgenommene Motiv des »Friedhofs der ermordeten Töchter« in der 35. und letzten Traumerzählung (S. 175).

Das Erzähl-Ich stellt darin fest, alles verstanden zu haben. In der darauffolgenden 10. und letzten Wacherzählung erweitert das Erzähl-Ich diese Aussage und sagt nun: »Es ist nicht mein Vater. Es ist mein Mörder.« (S. 235) Der Verursacher. Der Täter ist benannt.

Diese Abfolge stellt die formale Grundstruktur des Gesamttextes her. Wenn das Motiv der dreifachen Wiederholungen in den Traumerzählungen vollendet ist, dann kann das Motiv in die Wacherzählung gezogen werden. In der 9. Wacherzählung (S. 232), die nach der 35. Traumerzählung eingereiht ist, steht Malina am offenen Fenster, und draußen regnet es, wie das in den Traumerzählungen vom großen Fenster und dem Ausblick auf den See und die Friedhöfe der ermordeten Töchter im »düsteren Gewölk« angekündigt ist. Die Natur ist der kommentierende Chor zum Geschehen.

»Malina soll nach allem fragen.«, beginnt der Text und gibt damit die Auswahl der Sinneinheiten an diese Figur ab (S. 174). Aber. Schon im nächsten Satz wird diese Übergabe des Inhalts zurückgenommen. »Ich antworte aber, ungefragt«. Das Erzähl-Ich gibt seine Ambivalenz zu erkennen. Es wird Antworten geben. Aber. Das Erzähl-Ich wird nach eigenem Maß antworten und so erzählen. Das nachgestellte »aber« bringt einen drohenden Aspekt ein. Malina soll nur nach allem fragen, er wird die Antworten schon bekommen. »Ich antworte aber«. Malina soll sich nicht wundern. Er soll sich in Acht nehmen. Soll sich vor den Antworten fürchten.

»Ungefragt«. Doppelpunkt. Als erste Antwort löst das Erzähl-Ich Ort und Zeit auf. Ein abstrakter Rahmen wird aufgebaut. Ein abstrakter Rahmen ist das, in den die Traumerzählungen eingehängt werden. Diese Erzählungen spielen im »Überall und Nirgends«, und Zeit gebe es gar nicht mehr, legt das Erzähl-Ich fest.

Gleich danach heißt es dann: »Aber ich bestimme: Es sind die Träume von heute Nacht.« Wieder verweist ein Doppelpunkt auf die Aussage hin. »Es sind die Träume von heute Nacht.« wird als Programm festgelegt. Die konkreten Träume von heute Nacht bekommen aber durch den abstrakten Rahmen Geltung im »Überall und Nirgends« und in einer unbestimmten Zeit. »Die Zeit ist nicht heute. Die Zeit ist überhaupt nicht mehr, denn es könnte gestern gewesen sein, lange her gewesen sein, es kann wieder sein, immerzu sein, es wird einiges nie gewesen sein.« (S. 174)

So außerzeitlich oder eigentlich immerzeitlich werden die Traumerzählungen exemplarisch. Der abstrakte Rahmen hebt das Figurative der Traumerzählungen und das Konkrete der Wacherzählungen auf eine Ebene immerwährender Gültigkeit. Eine Allgültigkeit wird hergestellt. Eine Immerzeitlichkeit wird behauptet.

Die Herrschaft des christlichen Gottes beruht auf solchen Zuständen. Und. Das Märchen erzählt sich in einer ebensolchen Überzeitlichkeit und Allerörtlichkeit.

Im vorliegenden christlichen Märchen bleiben die Figuren in diese abstrakten Umstände aufgespannt. Innerhalb dieser Aufspannung können Orte und Zeiten gewechselt werden. Die Gesetze der Physik sind ausgesetzt. Die Körper können viele Male sterben und den Tod erleiden. Das können sie, weil sie in die Zeit selbst aufgespannt sind und so immer leben. Das können sie, weil sie überall existieren und deshalb an einem Punkt dieser Existenz verlustig gehen können, sie bleiben dennoch im Überall. Alles ist genau so, wie es in der Einleitung angekündigt ist. Die Figuren entkommen sich selbst nicht. Keine Verwandlung oder Probezeit erlaubt einen Ausweg aus der christlichen Bestimmung in eine nichtchristliche Verzauberung, wie sie der dinglichen Welt hier zur Verfügung gestellt wird.

Im zweiten Absatz des Textes. Das Erzähl-Ich gibt an, zu antworten und im Antworten zu bestimmen. Wieder gibt ein »aber« die Valenz an. Wie schon mit dem »aber« im zweiten Satz des Textes. Wir haben die Möglichkeit, das »aber« von »Aber ich bestimme« wieder als Abtönungspartikel zu lesen. Als restriktiv adversative Konjunktion. Oder wir stufen dieses »aber« als nebenordnende Konjunktion ein. Aber. Diese beiden »aber« sind Auskünfte des Erzähl-Ichs über sich selbst. »Ich antworte aber«. »Aber ich bestimme«. Vom vorwurfsvollen Abtönungspartikel zur Konjunktion. Das Erzähl-Ich positioniert sich damit ansteigend bestimmter und vorwurfsvoll selbstbewusster. Vom zweiten Satz zum zweiten Absatz wird uns ein winziges Ansteigen der Selbstgewissheit dieses Erzähl-Ichs vorgeführt. Damit ist die Richtung der Entwicklung des Erzählens des Erzähl-Ichs angegeben. Das Programm vorgelegt.

Eine innere Auktorialität entwickelt. Und. Das Erzähl-Ich weiß das alles in der Gegenwärtigkeit kollektiver Erinnerungsformen zu erzählen, von denen das Märchen eine ist. Oder das biblische Gleichnis, das in der Predigt aufgenommen und zu einer moralischen Schlussfolgerung weitergeführt wird.

Mit der Ankündigung »Es sind die Träume von heute Nacht.« wird die Abstraktion vollendet. Im »Immerzu« und »Überall« herrscht immerwährendes »heute Nacht«. Nur das Erzähl-Ich kann durch diese Zustände führen. Der Leser und die Leserin müssen dem Erzähl-Ich blind folgen. Niemand sonst weiß überhaupt etwas über diese Zustandswelt.

Nun. Traumerzählungen sind reinste Fiktion. Sei es, dass in der Erzählung eines realen Traums eine Rekonstruktion des Erfahrenen erfolgt. Also die Wiederherstellung einer Erinnerung fiktional vorgenommen wird. Niemand kann vollkommen sichergehen, etwa die Reihenfolgen der Ereignisse in einem geträumten Traum richtig wiederzugeben. Vage und komplexe Erinnerung wird in die Erzählung zusammengefügt. Dann. Die Binnensetzung von Zeit und Raum in der Traumerzählung wird Auskunft darüber geben, ob wir uns im Traum selbst befinden oder einer Nacherzählung des Traums folgen. Und. Der Traum hat keine festgelegte Erzählform und benötigt keine vernünftige Erklärung oder Begründung. Ja. Im Gegenteil. Jeder Vernunftzusammenhang ist sistiert. Jeder Erzählzusammenhang flutend. Es gibt keine Merkmale, die so etwas wie eine Wahrheit oder eine Wahrscheinlichkeit des Traums bestätigen könnten. So ist für die Psychoanalyse jede Traumerzählung je eine Wahrheit, wobei die Form der Erzählung in diese Wahrheit eingerechnet werden muss. Und. Um ebendiese vollkommen normlose Wahrheit geht es in den vorliegenden 35 Traumerzählungen von »heute Nacht« im »Überall und Nirgends«. Das Erzähl-Ich hat bestimmt, dass die 35 Traumerzählungen als Antworten auf nichtgestellte Fragen diese spezifische Wahrheit vermitteln werden. Ja. Die besondere Wahrheit in Bezug auf diesen angekündigten dritten Mann wird zum Vorschein gebracht werden. Malina wird dann alles wissen, wonach er fragen sollte.

»Der dritte Mann« im Titel verweist zusätzlich auch auf den gleichnamigen Film. Für eine Wiener Person damals wie heute ist dieser Film sehr wichtig. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass das zerbombte Wien des Jahres 1949 Schauplatz dieses Hollywood-Films war.

Das war damals eine Sensation. Das war Anerkennung einer Realität. Die Ausstellung der Zerstörung Wiens als Filmkulisse, in der die alliierten Mächte ihrem Geschäft der Besatzung Österreichs nachgehen. Die damalige österreichische Realität ist zum Hintergrund degradiert. Die Wiener und Wienerinnen spielen unbedeutende Nebenrollen. Die Degradierung des Staats ist in Szene gesetzt, und gleichzeitig wird dem Opfermythos Österreichs durch Auslassung jedes Österreichbezugs Platz gelassen. Das Anschauen dieses Films in den fünfziger Jahren muss diesen Aspekt der erniedrigenden Entfremdung von der eigenen Landschaft mit sich...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Digitalität • Internet • Kultur • Literatur • Literaturwissenschaft • Poetikvorlesungen • Praxis • Roman • Theorie
ISBN-10 3-10-490585-1 / 3104905851
ISBN-13 978-3-10-490585-3 / 9783104905853
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