Der Sympathisant (eBook)
528 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-20789-2 (ISBN)
Im April 1975 wird eine Gruppe südvietnamesischer Offiziere unter dramatischen Bedingungen aus Saigon in die USA geflogen. Darunter ein als Adjutant getarnter kommunistischer Spion. In Los Angeles soll er weiterhin ein Auge auf die politischen Gegner haben, ringt jedoch immer mehr mit seinem Doppelleben, den Absurditäten des Spionagewesens, der Konsumgesellschaft und seiner eigenen Identität: 'Ich bin ein Spion, ein Schläfer, ein Maulwurf, ein Mann mit zwei Gesichtern. Da ist es vielleicht kein Wunder, dass ich auch ein Mann mit zwei Seelen bin.'
Ein literarischer Polit-Thriller über den Vietnamkrieg und seine Folgen, eine meisterhafte Aufarbeitung über die Missverständnisse zwischen Kapitalismus und Kommunismus, ein schillerndes Werk über das Scheitern von Idealen, ein bravouröser Roman über die universelle Erfahrung von Verlust, Flucht und Vertreibung.
Jetzt von HBO verfilmt: Eine »lebenssprühende, glaubwürdige und doch oft kühne« Adaption, »die dem brillanten Roman des ausführenden Produzenten Nguyen in Anspruch und Ausführung in nichts nachsteht.« (Time Magazine)
Viet Thanh Nguyen, geboren 1971 in Südvietnam, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California in Los Angeles. Für sein Romandebüt, den internationalen Bestseller »Der Sympathisant« (Blessing, 2017), erhielt er 2016 den Pulitzer-Preis und den Edgar Award.
ERSTES KAPITEL
ERSTES
KAPITEL
Ich bin ein Spion, ein Schläfer, ein Maulwurf, ein Mann mit zwei Gesichtern. Da ist es vielleicht kein Wunder, dass ich auch ein Mann mit zwei Seelen bin. Ich bin kein missverstandener Mutant aus einem Comicheft oder Horrorfilm, obwohl mancher mich als solchen behandelt hat. Ich besitze einfach die Fähigkeit, alles von zwei Seiten zu betrachten. Manchmal schmeichele ich mir selbst, indem ich mir sage, dies sei ein Talent, auch wenn es zugegebenermaßen nichts Besonderes ist, ist es vielleicht das einzige Talent, das ich habe. Wenn ich allerdings länger darüber nachdenke, warum ich nicht anders kann, als die Welt so zu betrachten, frage ich mich, ob man dabei überhaupt von Talent sprechen kann. Schließlich bezeichnet ein Talent etwas, das man nutzt, und nicht etwas, von dem man benutzt wird. Ein Talent, das man nicht nutzen kann, das einen im Griff hat, ist zugestandenermaßen gefährlich. Aber in dem Monat, mit dem dieses Geständnis beginnt, erschien mir meine Art, die Welt zu betrachten, noch eher ehrenwert als gefährlich, wie das anfangs manchmal so ist mit den Dingen, die gefährlich sind.
Der fragliche Monat war der April, der grausamste Monat. Es war der Monat, in dem ein Krieg, der schon sehr lange gedauert hatte, langsam zu Ende ging. Wie es eben mit Kriegen so ist. Es war ein Monat, in dem sich für jeden Menschen in unserer kleinen Ecke der Welt alles entschied, der den meisten Menschen im Rest der Welt aber nichts bedeutete. Es war ein Monat, der zugleich das Ende eines Krieges und der Anfang des … nun ja, »Frieden« ist nicht das passende Wort, oder, mein lieber Kommandant? Es war ein Monat, als ich hinter den Mauern einer Villa, in der ich seit fünf Jahren gelebt hatte, auf das Ende wartete. Hinter Mauern, in denen braun glitzernde Glasscherben steckten und die eine Krone aus rostigem Stacheldraht trugen. Ich hatte mein eigenes Zimmer in der Villa, so wie ich mein eigenes Zimmer in Ihrem Lager habe, Kommandant. Natürlich lautet die korrekte Bezeichnung für mein Zimmer »Einzelzelle«. Und statt einer Putzfrau, die jeden Tag sauber macht, haben Sie mir einen Wachmann mit Babygesicht zur Verfügung gestellt, der gar nichts sauber macht. Aber ich beklage mich nicht. Damit ich mein Geständnis aufschreiben kann, muss es nicht sauber sein, nur ruhig.
Nachts war es in der Villa des Generals sehr ruhig, tagsüber jedoch nicht. Ich war der einzige von den Offizieren des Generals, der mit ihm unter einem Dach lebte, der einzige Junggeselle in seinem Stab und sein zuverlässigster Berater. Bevor ich ihn morgens den kurzen Weg zu seinem Büro fuhr, frühstückten wir zusammen und analysierten am einen Ende des Esstisches aus Teakholz Kriegsberichte, während seine Frau am anderen Ende eine disziplinierte Gruppe aus vier Kindern beaufsichtigte, die achtzehn, sechzehn, vierzehn und zwölf Jahre alt waren. Ein Stuhl blieb immer frei für die in Amerika studierende Tochter. Nicht jeder mochte sich vor dem Ende gefürchtet haben, der General jedoch tat es klugerweise. Er war ein dünner Mann mit hervorragender Körperhaltung, ein kriegserfahrener Soldat, der sich seine vielen Orden wirklich verdient hatte. Kugeln und Granatsplitter hatten dafür gesorgt, dass er nur noch über neun Finger und acht Zehen verfügte, doch um den Zustand seines linken Fußes wussten nur seine Familie und enge Vertraute. Nichts hatte je seinen Ehrgeiz gebremst, außer sein Verlangen nach einer exzellenten Flasche Burgunder. Er trank sie nur mit Kameraden, die sich davor hüteten, Eiswürfel in ihren Wein zu kippen. Er war Epikureer und Christ, in dieser Reihenfolge, ein Mann des Glaubens, der an die Gastronomie und an Gott, an seine Frau und seine Kinder glaubte, und an die Franzosen und Amerikaner. Seiner Ansicht nach waren sie uns weitaus bessere Vormunde als die anderen ausländischen Svengalis, die unsere Brüder im Norden und auch einige im Süden hypnotisiert hatten: Karl Marx, Wladimir Iljitsch Lenin und der Große Vorsitzende Mao. Nicht, dass er jemals einen dieser Weisen gelesen hatte! Es war meine Aufgabe als sein Adjutant und ihm zuarbeitender Nachrichtenoffizier, ihn mit Zitaten zu versorgen, die etwa aus dem Kommunistischen Manifest oder Maos Kleinem Roten Buch abgekupfert waren. Es lag an ihm, die passende Gelegenheit zu finden, um sein Wissen über die Gedankenwelt des Feindes zu demonstrieren. Die Lieblingsfrage des Generals, die er stellte, wann immer es ihm nötig erschien, war ein Lenin-Plagiat: Meine Herren, sagte er dann und klopfte resolut mit den Fingerknöcheln auf den fraglichen Tisch, »Was tun?« Dem General zu erklären, dass diese Frage eigentlich aus Nikolai Tschernyschewskis gleichnamigen Roman stammt, erschien irrelevant. Wer kennt heute noch Tschernyschewski? Es war Lenin, der zählte, der Mann der Tat, der die Frage aufgegriffen und sich zueigen gemacht hatte.
In diesem düstersten aller Aprilmonate hatte der General, der auf die Frage, was zu tun sei, sonst immer etwas zu tun fand, keine Antwort mehr. Der Mann, der an die mission civilisatrice und den American Way glaubte, wurde schließlich vom Virus des Zweifels erfasst. Von Schlaflosigkeit geplagt, wanderte er in seiner Villa umher wie ein grünlich bleicher Malariapatient. Seit ein paar Wochen zuvor im März unsere Nordfront zusammengebrochen war, tauchte er ständig in meinem Büro oder in meinem Zimmer in der Villa auf, um mir bruchstückhafte, doch immer düstere Neuigkeiten zu übergeben. Ist das zu fassen, rief er dann aus, worauf ich abwechselnd mit: Nein, General! oder Unglaublich! reagierte. Wir konnten nicht glauben, dass Anfang März die freundliche, malerische Kaffeestadt Ban Me Thuot erobert worden war. Wir konnten nicht glauben, dass unser Präsident Thieu, auf dessen Namen man nur noch spucken konnte, unseren das Hochland verteidigenden Truppen unerklärlicherweise den Rückzug befohlen hatte. Wir konnten nicht glauben, dass Da Nang und Nha Trang gefallen waren oder dass unsere Soldaten Tausende Zivilisten hinterrücks erschossen hatten, als diese wie von Sinnen versuchten, auf Lastkähnen und Booten zu fliehen. In der Zurückgezogenheit meines Büros machte ich pflichtgemäß Fotos von diesen Berichten, die Man, meinem Führungsoffizier, gefallen würden. Obwohl sie auch mir gefielen, schließlich waren sie Anzeichen für die unausweichliche Erosion des Regimes, rührte mich unwillkürlich die Not dieser armen Menschen. Mein Mitgefühl war vielleicht nicht korrekt, politisch gesehen, aber wenn sie noch lebte, wäre meine Mutter eine von ihnen gewesen. Sie war eine arme Frau und ich ein armes Kind, und niemand fragt arme Menschen, ob sie Krieg wollen. Genauso wenig hatte irgendwer diese armen Menschen gefragt, ob sie lieber vor der Küste in der Hitze verdursten oder von den eigenen Soldaten ausgeraubt und vergewaltigt werden wollten. Wenn diese Tausenden noch lebten, sie hätten genauso wenig fassen können wie wir, dass die Amerikaner – unsere Freunde, unsere Wohltäter, unsere Beschützer – kein Geld mehr schicken wollten. Und was hätten wir mit dem Geld gemacht? Wir hätten Munition, Benzin und Ersatzteile gekauft für die Waffen, Flugzeuge und Panzer, die uns die gleichen Amerikaner gratis überlassen hatten. Sie hatten uns die Spritzen geschenkt, und jetzt versagten sie uns perverserweise den Stoff. (Für nichts, murmelte der General, musst du so teuer bezahlen wie für das, was man dir gratis anbietet.)
Nach unseren Unterredungen und Mahlzeiten zündete ich dem General seine Zigarette an. Er starrte ins Leere und vergaß, an der Lucky Strike zu ziehen, die langsam zwischen seinen Fingern verglomm. Mitte April, als ihn die glühende Asche aus seinen Tagträumen riss, da stieß er ein Wort aus, das er hätte für sich behalten sollen, und Madame mahnte die kichernden Kinder zur Ruhe und sagte: Wenn du noch länger wartest, dann kommen wir nicht mehr raus. Sag Claude, er soll sofort einen Plan ausarbeiten. Der General tat so, als hörte er Madame nicht. Sie hatte das Gehirn eines Abakus, das Rückgrat eines Kasernenhofschleifers und noch nach fünf Kindern den Körper einer Jungfrau. All das steckte in einer Hülle, die unsere am Beaux-Arts-Stil geschulten Maler dazu inspirierte, mit den pastellfarbensten ihrer Wasserfarben und den verwaschensten ihrer Pinselstriche zu arbeiten. Kurz gesagt, sie war die ideale vietnamesische Frau. Ob dieses Glücks war der General zeitlebens sowohl dankbar als auch verängstigt. Er knetete die Spitze seines verstümmelten Fingers, schaute mich an und sagte: Ich glaube, es ist an der Zeit, Claude um einen Plan zu bitten. Erst als er aufhörte, seinen versehrten Finger zu betrachten, schaute er Madame an, die bloß eine Augenbraue hob. Gute Idee, General, sagte ich.
Claude war unser zuverlässigster amerikanischer Freund. Unser Verhältnis war so intim, dass er mir einmal anvertraut hatte, er sei zu einem Sechzehntel Neger. Aha, hatte ich – so voll mit Bourbon wie er – gesagt, das erklärt, warum Ihre Haare so schwarz sind, Sie so schön braun werden und den Cha-Cha-Cha so tanzen können wie einer von uns. Beethoven, sagte er, sei ebenfalls hexidezimaler Abstammung gewesen. Dann sagte ich, das erklärt, warum Sie »Happy Birthday« singen können wie niemand sonst auf der Welt. Wir kannten uns seit über zwanzig Jahren, seit er mich 1954 auf einem Flüchtlingsschiff entdeckt und meine Talente erkannt hatte. Ich war ein altkluger Neunjähriger gewesen, der schon ziemlich gut Englisch konnte, und zwar wegen eines avantgardistischen amerikanischen Missionars. Claude arbeitete angeblich in der Flüchtlingshilfe. Jetzt stand sein Schreibtisch in der...
Erscheint lt. Verlag | 14.8.2017 |
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Übersetzer | Wolfgang Müller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Sympathizer |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Antikriegsroman • Apocalypse Now • Doppelidentität • eBooks • Flüchtlingsschicksal • Heimweh • Identitätssuche • Kommunismus • Konsumgesellschaft • Laos • Los Angeles • Migration • Okzident • Orient • Paris • Philippinen • Politthriller • Roman • Romane • Saigon • Siebzigerjahre • Spionage • Thriller • USA • Vietnam |
ISBN-10 | 3-641-20789-4 / 3641207894 |
ISBN-13 | 978-3-641-20789-2 / 9783641207892 |
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Größe: 2,3 MB
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