Und es schmilzt (eBook)
512 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490395-8 (ISBN)
Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Auch ihr zweiter Roman, »Ich bin nicht da«, war ein großer Erfolg. Mit ihrem dritten Roman, »Der ehrliche Finder«, hat sie ein ganzes Land aufgewühlt.
Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Auch ihr zweiter Roman, »Ich bin nicht da«, war ein großer Erfolg. Mit ihrem dritten Roman, »Der ehrliche Finder«, hat sie ein ganzes Land aufgewühlt. Helga van Beuningen ist die Übersetzerin von Margriet de Moor, A. F. Th. van der Heijden, Marcel Möring, Cees Nooteboom u.a. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Martinus-Nijhoff-Preis, dem Helmut-M.-Braem-Preis und dem Else-Otten-Preis. 2021 wurde ihr der Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW verliehen.
Lize Spit, ein Name den man sich leicht merken kann – und merken sollte.
Lize Spit hat ein Präzisionswerk abgeliefert.
Die Debütantin Lize Spit beherrscht das Spannungshandwerk mit beklemmender Perfektion. […] Das alles liest sich so schmerzhaft neu, wie nie da gewesen.
Wenn der Leser versteht, was sie vorhat, ist es schon zu spät, um sich aus den Fängen dieses starken, nervenzehrenden Buches zu befreien.
Wir dürfen nicht abstumpfen, sondern brauchen Texte wie die von Lize Spit, die uns hinabführen in das Reich des Bösen.
Die 28-Jährige seziert sprachlich bravourös das ganze Dorf und seine Bewohner und schafft Bilder, die einen nicht mehr verlassen.
Selten liest man eine so gnadenlos präzise Analyse der Dynamik von sexueller Gewalt wie in diesem Roman.
Ein Debütroman, der einschlägt wie eine Granate.
4. Juli 2002
Die Stimme des Nachrichtensprechers kommt aus dem Garten. Es ist Donnerstag. Es gibt so viele Staus, dass es praktischer wäre, die Orte aufzuzählen, an denen der Verkehr reibungslos fließt. Dann folgt ein Hinweis, demzufolge die nächsten Tage heiß werden. Nach dem Wetterbericht läuft »Underneath your clothes«. Die Klänge werden vom Flügelflappen auffliegender Vögel übertönt.
Vielleicht liegt es daran, dass ich endlich mal gut geschlafen habe, oder an der Musik, die jede Bewegung stimmig macht, jedenfalls scheint es zum ersten Mal seit dem Winter so, dass ich am richtigen Ort aufwache. Vor mir liegt ein noch unberührter Sommer. Die Kirchturmuhren werden über die Dauer jeder Stunde wachen, niemand wird die Zeiger beschleunigen oder verlangsamen, nicht einmal Laurens und Pim. Zum ersten Mal seit Jans Beerdigung beruhigt mich dieser Gedanke. Ich muss einfach dem angegebenen Tempo folgen, und alles wird gut.
Ich setze mich in meinem Hochbett auf. Sehe erst jetzt Tesje neben ihrem Bett stehen. Das kurze struppige Haar klebt ihr am verschwitzten Kopf. Sie inspiziert ihr Oberlaken, schaut, ob es zu beiden Seiten des Betts exakt gleich lang überhängt.
»Hast du heute Nacht geschlafen?«, frage ich.
Sie nickt.
Es ist ein perfekter Tag für Monsterbälle.
Auf dem Weg zu meinem Fahrrad begegne ich Vater. Er raucht, während er mit einigem Stolz den Elf-Uhr-Nachrichten lauscht, die klar und laut aus dem Radio kommen, das er vorhin in die Krone des Kirschbaums gehängt hat, um die Krähen zu verjagen. Er lehnt am Anbau hinter dem Haus, den wir »das Arbeitshaus« nennen, obgleich dort nie gearbeitet wird.
Der Stau Richtung Küste hat sich wegen zwei schwerer Unfälle auf der E 40 noch nicht aufgelöst, ich habe inzwischen in beiden Socken eine Fünfzig-Cent-Münze versteckt. Mit jedem Schritt rutscht das Geld weiter nach unten.
Vater nimmt die bis zum Filter heruntergerauchte Kippe aus dem Mund, tritt sie mit dem Pantoffel aus, hebt sie auf.
Er trägt eine schwarze Jeans. Früher war dies seine Arbeitshose, aber jetzt hat sie keine gute Passform mehr. Gleich oberhalb der Knie beult sie sich, die Folge seines bevorzugten Sitzes, in der Hocke, neben der Bierkiste.
»Eva«, sagt er.
Er dreht sich um und bedeutet mir, ihm zu folgen. Aus seinem Mund hört sich mein Name manchmal wie ein Befehl an, manchmal wie eine Frage, selten wie etwas, das zu mir gehört.
Ich folge Vater ins Arbeitshaus. Die Münzen rutschen an meinen Knöcheln entlang zu den Füßen.
Mutter hatte die Bezeichnung »Arbeitshaus« vorgeschlagen, als sie dieses Haus kauften und jedes leere Zimmer noch die Freiheit hatte, alles zu werden, solange sie es nur oft genug wiederholten. Vater würde hier großartige Dinge verrichten. Den Garten pflegen, die Hecke schneiden, einen Komposthaufen anlegen, das Badezimmer umbauen. Letzteres war von den Vorbesitzern als Kinderschlafzimmer genutzt worden und hatte eine Tapete mit kleinen Bären. In der Mitte des Raums hat Vater eine halbhohe Wand aus Hohlblocksteinen gemauert, um ein Waschbecken daran aufzuhängen. Die Wände sollten gefliest werden, sobald Geld dafür da war. Jolan fand heraus, dass die Löcher in den Backsteinen prima Halter für Zahnbürsten abgaben.
»Sehr praktisch, für die Zwischenzeit«, beschloss Mama.
Jolan hatte damals bereits berechnet: Es gibt keine Zeit zwischen Zeit.
Überall in der Werkstatt liegen leere Bierdosen und anderes Gelump herum. Die Innenwände sind mit Pilzen überzogen. Die meisten wachsen schief auf ihrem Stiel, so dass sie unter dem Hutrand hervorlugen können, um mit eigenen Augen zu sehen, was hier in all den Stunden eigentlich getrieben wird.
Vater wirft seine ausgetretene Kippe in eine der Dosen, in denen noch eine Pfütze steht.
»Sonst beschwert die sich wieder.« Er deutet auf die Tür, die ins Haus, in die Küche führt.
Vaters Schultern sind oben eingedellt, es erweckt den Eindruck, dass seine Achseln zu schwer sind. So stehen wir da und sehen uns an, in einem Arbeitshaus, das übersät ist mit allen möglichen Werbegeschenken, die der Getränkehandel Peters beim Kauf von Maes-Pils-Kisten dazugibt – blaue Schirmmützen, blaue aufblasbare Biertabletts, blaue Strandbälle.
Ob Vater sieht, was ich sehe: dass dies zu einem Warenlager mit potentiellen Tombolapreisen geworden ist?
Mein Blick fällt auf die Bohrmaschine, die nicht bei den anderen Geräten an der Decke hängt, sondern auf einem Regal liegt, das erst kürzlich zusammengeschraubt und in der Wand verankert worden ist. Es war das einzige Mal, dass die Maschine benutzt wurde. Schwer zu sagen, was was möglich gemacht hat: der Bohrer das Regal oder das Regal den Bohrer.
Alle diese Geräte sind nicht aus der Luft gefallen. Wir wohnen nicht weit vom ALDI entfernt – etwas zu weit zu Fuß, aber gut erreichbar mit dem Rad. Jedes Jahr gibt es dort etwas, was Väter noch nicht besitzen. Auf der Brücke über die Autobahn, die unser Dorf vom Nachbardorf trennt, kann man sie regelmäßig dahinschlingern sehen: Mütter mit Laubsägen, MEDION-Massagearmen, Heckenscheren und Grillzangen am Fahrradlenker.
Diese Bohrmaschine haben wir Vater vor einem Jahr geschenkt. Seine Freude war besonders groß, solange das Ding noch eingepackt auf dem Büfett lag. Nach dem Auspacken hat er sie auf einen Stapel gebügelter Küchenhandtücher gelegt. Dort blieb sie liegen, bis sich die Vorbereitungen für seinen nächsten Geburtstag nicht länger aufschieben ließen.
»Eine Bohrmaschine wird während ihrer gesamten Lebensdauer im Durchschnitt nur elf Minuten lang benutzt«, sagt Vater.
»Das ist wenig«, sage ich.
Ich schaue, ob das Preisschild noch am Karton klebt, um die Kosten pro Sekunde berechnen zu können. Das kann ich dann Pim und Laurens erzählen. Es könnte sie interessieren.
»Schau, Eefje. Das wollte ich dir zeigen.«
Vater deutet auf eine Schlinge, die am mittleren Holzbalken unter dem Dach baumelt, neben der Heckenschere.
»Man sieht nicht, wie schwierig es ist, so etwas richtig aufzuhängen, oder?«
Ich reagiere mit einem Achselzucken. Sowohl bei Dingen, die ihnen egal sind, als auch bei solchen, die ihnen alles andere als egal sind, für die sie aber nicht die richtigen Worte finden, reagieren Menschen mit einem Achselzucken. Jedes Mal denke ich, dafür müsste unbedingt ein anderer Körperteil gewählt werden, notfalls eine andere Gebärde. In der Anatomie der Achseln gibt es, im Gegensatz zu den Augenbrauen, nicht genug Spielraum für Nuancen.
»Das kann nicht jeder knüpfen«, sagt er, »es muss in genau der richtigen Höhe hängen.«
»Das sehe ich«, sage ich. »Und was ist die richtige Höhe?«
Meine Frage findet kein Gehör.
»Bei einem falschen Knoten muss man leiden. Du willst doch nicht, dass ich leide?«
Ich blicke wieder auf die Schlinge und schüttele den Kopf.
»Falls man nicht tief genug fällt, bricht das Genick nicht. Dann dauert es lange. Und falls man aus zu großer Höhe fällt, zerreißt es einem das Genick, das will man den Menschen, die einen finden, nicht antun. Oder?«
»Nein, will man nicht«, sage ich.
Vater hat eine Kappe auf. Der Schweiß der letzten Tage ist in sie eingezogen und getrocknet. Das Salz hat weiße Schlangenlinien in Höhe seiner Stirn hinterlassen. Je wärmer die Tage, umso höher die Linie, die zurückbleibt.
Er sieht mich schweigend an, setzt die Kappe ab, kontrolliert, ob etwas Besonderes an ihr ist. Er sieht es nicht. Die Kappe landet wieder auf seinem Kopf, jetzt mit dem Schirm nach hinten.
Ich kann nur denken: Dieser Mann ist mein Vater. Er ist älter als Durchschnittsväter, weil er erst spät eine Frau kennenlernte, die Kinder von ihm wollte. Er arbeitet bei einer Bank, macht da Dinge, über die er nie im Detail spricht und nach denen andere auch nie fragen, weil die Leute nun mal davon ausgehen, solange jemand von sich aus nichts sagt, gebe es auch nichts zu erzählen. Um zu seinem Arbeitsplatz zu kommen, muss er jeden Tag – auch bei Regen – zu einer Bushaltestelle radeln, um dann eine halbe Stunde im Bus zu sitzen. An diesen Tagen verdient er gerade genug, um seine Familie, die keine Fragen stellt, unterhalten und das Dach über ihren Köpfen bezahlen zu können, an dem er die Geschenke aufhängen kann, die sie von seinem Geld kaufen, ohne dass er das wollte.
Ich bin die älteste Tochter dieses Mannes, also darf ich jetzt nicht einfach nicken oder irgendeine Antwort geben, ohne zu wissen, was genau er vorhat.
Ich zwinge etwas auf mein Gesicht. Kein Lächeln. Kein Mitleid. Verständnis vielleicht, obgleich ich nicht weiß, wie das, in eine Grimasse übertragen, aussehen müsste.
»Du denkst genau wie deine Mutter, dass dieser alte Trottel nie ernst meint, was er sagt. Dass dieser alte Trottel hier nicht den Mut dazu hat?«
Vater sagt immer »deine Mutter«, und Mama tut das Gleiche, wenn sie von Papa spricht, dann sagt sie »dein Vater«. Das ist nicht ganz fair. So versuchen sie, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie so tun, als wäre ich diejenige, die sie ausgesucht hat.
»Möchtest du, dass ich es dir demonstriere?«
Er greift nach der wackligen Leiter, klappt sie genau unter der Schlinge auseinander und steigt die Stufen hinauf. Nach der dritten beginnt die Leiter gefährlich zu kippeln. Ich trete näher, stelle mich seitlich daneben, um das Ding zu sichern. Die Münzen rutschen ganz nach unten, bis unter meine Fußsohlen. Die Elf-Uhr-Nachrichten sind zu Ende, es folgt Werbung.
»Zahlen Sie nicht zu viel. Wenn...
Erscheint lt. Verlag | 24.8.2017 |
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Übersetzer | Helga van Beuningen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 90er Jahre • Alkoholismus • Anspruchsvolle Literatur • Belgien • Bovenmeer • Brüssel • Coming-of-age • Depression • Dorf • Eisblock • Erwachsenwerden • EVA • Familie • flämische Literatur • Flandern • Freundschaft • Heimat • Heimkehr • Het Smelt • Jolan • Jugend • Laurens • Literatur • Lize Spit • Niederländische Literatur • PIM • Rätsel • Selbstmord • Suizid • Tesje • Trauma • Vergangenheit • Vergessen • Vergewaltigung • Verrat |
ISBN-10 | 3-10-490395-6 / 3104903956 |
ISBN-13 | 978-3-10-490395-8 / 9783104903958 |
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