Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner »Elfen«-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.
1 BLUTZOLL
Festum,
fünfzehnter Tag im Faramond
Salarin Trauerweide suchte in sich nach dem Klang der Frische und des Aufbruchs. Er vernahm ihn draußen, wo ein Sturm tobte, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Der Elf wollte auf den Ruf der Böen antworten, die gegen die Zeltwand schlugen. Er wollte in das Geheul einstimmen, das ihn an den einsamen, blauäugigen Wolf erinnerte, der sie so lange begleitet hatte. Sogar das Brechen der Baumstämme und das Krachen der umkippenden Wagen stachelten ihn auf, viel Kraft sprach aus diesen Geräuschen. Sie forderten eine Entscheidung, ein entschlossenes Voranschreiten.
Aber Salarin Trauerweide fühlte sich matt. Das Zauberlied, mit dem er Tjorne geheilt hatte, war anstrengend gewesen. Diese endlos vielen kleinen Wunden, die Krebsscheren in die Haut des Mannes geschnitten hatten, erforderten eine andere Art der Konzentration als eine einzige große Verletzung. Aber schlimmer war der Misston zwischen dem auf dem Bett im Blauen Salamander zitternden Tjorne und seinem Freund Tylstyr Hagridson gewesen. Oder waren die beiden gar nicht mehr befreundet? Wenn sich Salarin an die Melodie im Zimmer des Gasthauses erinnerte, verwirrte sie ihn nur immer mehr. Zuneigung schwang darin mit, aber mehr noch Zorn, Schuldbewusstsein, und doch auch Hoffnung. Und kurz vor dem Sturm war Tjorne aus dem Zelt gerannt, wobei er gerufen hatte, dass Beorn der bessere Drachenführer sei.
»Menschen verwirren mich«, flüsterte er.
»Nicht nur dich«, bestätigte Galandel die-von-Ometheon-singt. Die weißhaarige Elfe saß neben ihm in der Nivesenjurte, die unter dem immer heftigeren Ansturm des Windes aus dem Boden zu reißen drohte. Einige Pflöcke lösten sich bereits. Firutin, ein kräftiger Mann, der sie seit seiner Befreiung aus dem Himmelsturm begleitete, versuchte, sie wieder festzudrücken, ohne das Zelt zu verlassen.
Mit Ausnahme der Waldmenschenfrau Irulla war allen anzusehen, dass sie sich vor dem so plötzlich losgebrochenen Unwetter fürchteten. Man suchte die Nähe der anderen, aber während Zidaine Barazklah mit versteinertem Gesicht neben Nirka hockte, stand Tylstyr Hagridson mit Vascal della Rescati und dessen Nichte Leomara zusammen. Waren Tylstyr und Zidaine nun kein Paar mehr?
»Sie sind so schnelllebig«, murmelte Salarin. Die Rosenohren konnten ein Dutzend Dinge auf einmal empfinden. Dabei spielte es keine Rolle, ob sich diese Gefühle widersprachen, geschweige denn, ob sie irgendeinen Bezug zur umgebenden Melodie der Welt hatten. Das prägte ihre Entscheidungen. Sie trafen sie plötzlich und änderten sie ständig.
Passierte das gerade jetzt zwischen Zidaine und Tylstyr? Begannen sie, ein neues Lied zu singen? Und wussten sie selbst, wie es klänge?
In jedem Fall war dies ein Tag, an dem Neues begann. Tjorne hatte Phileassons Ottajasko zornerfüllt verlassen, und wenn Salarin richtig deutete, was bei seinem Eintreffen im Zelt im Gange gewesen war, wollten sich Nirka und Hern’Sen der Ottajasko anschließen. Schwester Shaya hatte gerade angesetzt, die beiden einzuschwören, aber dann war der Sturm aufgekommen, sie war hinausgegangen und Asleif Phileasson und Ohm Follker waren ihr gefolgt.
»Wir wollen zur Sturmherrin Rondra und zum aufbrausenden Efferd beten.« Praioslob stellte sich neben die Feuerstelle und breitete die Arme aus. Die Ärmel seiner roten Tunika hingen so weit herab, dass die Arme Schwingen ähnelten. »Bitten wir die Göttlichen um ihr Erbarmen, damit ihr Zorn uns nicht zerschmettert.«
»In diesem Wind liegt kein Zorn.« Salarin stand auf. »Er ist eine Einladung.«
Der beinahe kahle Geweihte runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«
»Hört ihr es nicht?« Um Bestätigung heischend sah Salarin sich um. Sogar in Galandels grünen Augen stand nur Ratlosigkeit.
»Komm, Schwester.« Er streckte ihr die Hand hin. »Gehen wir hinaus.«
Die anderen verstanden seine Worte nicht, da er das zweistimmige Isdira der Elfen benutzte, wenn er mit Galandel sprach. Als sie seine Hand nahm, sich auf die Füße zog und mit ihm gemeinsam zum Ausgang schritt, wurde ihre Absicht jedoch allen klar.
Salarin hörte, wie sich die Melodien der Menschen in der Jurte vereinten. Das Unwohlsein ob des Unwetters wich der Neugier. Der Elf brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie sich ihnen anschlossen.
Ohm Follker raffte den Umhang mit beiden Händen vor der Brust. Der Sturm riss am braunen, von der langen Reise zerschlissenen Stoff, der um seine Beine flatterte wie eine Fahne. Asleif Phileasson trug seinen Bärenmantel nicht. Er schloss die linke Faust um den elfenbeinernen Griff von Fejris, seinem Breitschwert. Das Gewimmel des hellblonden Haars vor seinem Gesicht strafte der Drachenführer mit Missachtung. Unbeirrt hielt er den Blick seiner eisgrauen Augen auf Shaya Lifgundsdottir gerichtet.
Die kleine Geweihte stand zwanzig Schritt entfernt, mitten auf der Norbardenwiese. Um sie herum schienen unsichtbare Riesenfäuste auf das Gras einzuschlagen. Kurz nur drückten sie es an einer Stelle nieder, und noch während es sich wieder aufrichtete, fuhr der Wind woanders hinein. Ein Elch stakste röhrend umher, wobei er die Packen verlor, die auf seinem Tragegeschirr verschnürt waren. Fluchend folgten ihm drei Männer in honiggelben Gewändern, die sich nicht einigen konnten, ob sie zuerst ihr Lasttier einfangen, die zu Boden gefallene Ware aufheben oder die noch auf dem Rücken befindlichen Bündel sichern sollten. Vor dem Gasthaus Lavaitzis bemühte sich eine Norbardensippe, die Zugtiere von der Deichsel ihres umgefallenen Wagens zu schneiden. Eine plötzliche Bö riss eine Frau von den Beinen und trieb sie zehn Schritt vor sich her, wobei sie sich überschlug wie ein Ballen Steppengras.
Shayas sommersprossiges Gesicht dagegen lächelte. Sie stand mit ausgebreiteten Armen, ähnlich wie Praioslob gerade im Zelt. Das Orange ihrer Robe erschien Salarin so hell, als leuchtete es von innen. Der Sturm zerrte den Stoff mal in die eine, mal in die andere Richtung, aber der Körper der zierlichen Frau schien von der Naturgewalt unberührt zu bleiben. Sie blinzelte noch nicht einmal, wenn der Wind in ihr Gesicht blies. Nur die beiden kupferfarbenen Zöpfe tanzten in der Luft.
»In der Stadt, in der Ingerimm Efferd trotzt,
konnten selbst die Stürme der Zeit
die Spur des Steppenwolfs nicht verwischen.«
Salarin verstand Shayas Worte laut und deutlich, aber nicht, weil sie geschrien hätte. Das Tosen des Sturms umgab sie noch immer, doch es klang, als stünde sie direkt neben ihm und spräche in einem stillen Raum. Ihre Melodie war losgelöst von der Welt des Greifbaren.
»Zerreißt den Schleier der Vergangenheit,
und ihr werdet eine silberne Flamme finden!
Sie ist der eine Schlüssel zu Orima der Allsehenden,
der ihr dereinst begegnen werdet.«
Salarin und Galandel sahen einander verwundert an. Die Stimme der Elfe verwehte im Sturm, aber die Lippenbewegung reichte Salarin, um zu erkennen, welches Wort sie hauchte: »Orima!«
Zu Beginn der Reise war Salarin dieser Name unbekannt gewesen, erst Galandel hatte ihm seine Bedeutung erklärt. Damals, auf der Felsnadel nördlich der Insel der Schneeschrate, wo sie Jahrhunderte auf Gefährten gewartet hatte, die das letzte Stück ihrer Reise mit ihr gingen. Im Heiligtum der alten Götter, wo die vier Statuen mit dem von Kristallen gebündelten Sonnenlicht den Weg nach Ometheon wiesen, zum Himmelsturm. Eines der Bildnisse zeigte Orima, die blinde Göttin, die mit Füllhorn und Schwert das Schicksal zuteilte.
Vor eineinhalb Wochen erst hatte er mehr über sie erfahren, so viel mehr! Von Niamh, der Lichtelfe in ihrem Zauberwald. Sie hatte Orima gekannt, anders, als die Menschen ihre Götter kannten. Noch nicht einmal die Hochgeweihten in ihren pompösen Tempeln kamen den Ewigen so nahe. Niamh und Orima waren Seite an Seite aus dem Licht in die Welt getreten.
Salarin blinzelte und sah auf die Wiese, wo der Wind abflaute. Sein Heulen wurde zu einem Säuseln. Shaya schien aus dem Griff der Mächte entlassen zu sein, die durch sie gesprochen hatten. Sie richtete ihr Gewand. Salarin glaubte, dass sie nach dieser Erfahrung einen Vorwand suchte, einen Moment allein zu sein. Die anderen Gefährten dagegen plapperten wild durcheinander.
Salarin ging ein paar Schritte zur Seite. Auch er suchte Ruhe, um seine Gedanken zu ordnen. Hatte Niamh wirklich berichtet, sie sei gemeinsam mit Orima aus dem Licht getreten? Salarin erinnerte sich daran … und doch wieder nicht. Mit welchen Worten hatte Niamh das beschrieben? Sie hatte Orima mit dem Beinamen Mit-dem-Sternenmal bezeichnet, und damit meinte sie das Geburtsmal, das auch sie selbst und Salarin an der rechten Schulter trugen. Auch von Orimas Rosentempel in Tie’Shianna hatte Niamh berichtet, sie hatte ihn sogar gezeigt, am Grund ihres Sees …
Aber Salarin Trauerweide sah ihn auch anders. So als stünde er davor, als würden die Blätter aus weißem Stein vor ihm in die Höhe wachsen. Doch das konnte nicht sein, dafür hätte er unter Wasser stehen müssen! Sie waren aber doch in einem Boot zu Niamhs Insel gefahren, die sie nach ihrem Geliebten, dem Zaubersänger Oisin, benannt hatte. Aber Salarin sah auch ein Gesicht vor sich, als er an Oisin dachte. Hüftlanges schwarzes Haar, ein spitzes Kinn, die Augen beinahe farblos, wie Bergkristall … Wer war dieser Mann, der ihm überlegen und zugleich milde entgegenlächelte?
»Was hast du?« Besorgt sah Galandel zu ihm hoch. Die Fältchen neben ihren Augen verschwanden jetzt nicht mehr. Das Alter kroch in den Körper der...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2017 |
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Reihe/Serie | Die Phileasson-Reihe | Die Phileasson-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Abenteuer • Bernhard Hennen • Die Phileasson-Saga • Die Wölfin • eBooks • Fantasy • Fantasy-Epos • High Fantasy • Himmelsturm • Magie • nordwärts • Queste • Robert Corvus |
ISBN-10 | 3-641-20071-7 / 3641200717 |
ISBN-13 | 978-3-641-20071-8 / 9783641200718 |
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