Die Zweisamkeit der Einzelgänger (eBook)
416 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31722-0 (ISBN)
Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
2.
Es war noch erstaunlich warm draußen, und wir spazierten scheinbar ziellos durch die Stadt. Durch Bielefeld. Ich hatte mir die Flaschenhälse zwischen die Finger geklemmt, drei pro Hand. Sie lächelte und sagte nur ein einziges Wort: »Biertatzen.« Es war angenehm, neben ihr zu gehen. Unsere Schrittlängen verstanden sich gut. Wir setzten uns auf eine Bank, auf der in breiter Sprühdosenschrift Sachbeschädigung verboten stand, ich reihte die Flaschen vor uns auf und wir aßen die entwendeten Hähnchenschnitzel. Geschickt ploppte ich an einer scharfkantigen Metallstrebe der Rückenlehne die beiden Kronkorken hinunter und bekam dafür einen anerkennenden und doch auch belustigten Blick mit einseitig hochgezogener Augenbraue. Sie sagte »Oh hauahauaha«, nahm das Bier und trank mit geschlossenen Augen, wobei sie Ober- und Unterlippe wie ein Kleinkind über den Flaschenhals stülpte. So suggelte sie die halbe Flasche leer. »Ahhhh.« Andauernd wirkte das, was sie tat oder wie sie mich ansah, wie ein Zitat von etwas anderem. Sie machte nicht nur ›Ahhhh!‹ wie jemand, der durstig mehrere Schlucke Bier getrunken hat. Sie machte ›Ahhhh!‹ wie jemand, der jemanden nachmacht, der ›Ahhhh!‹ macht.
Sie spuckte auf ihre Serviette: »Entschuldige, ich kann das nicht länger mitansehen. Du bist ja noch total geschminkt.« Und eh ich mich wegdrehen oder etwas sagen konnte, war sie an mich herangerückt und wischte mir mit einem nassen Zipfel am Augenlid herum. »Keine Sorge, ich mach das täglich bei mir. Halt mal still.« Akribisch reinigte sie mir die Augen. Sie roch gut, sehr dezent nach sich selbst und nach etwas anderem. Aber da war wieder dieses rauchige Kratzen in meinem Hals, diese Nervosität im Rachen, ein Kribbeln im Kehlkopf, ein nicht wegzuschluckender Aschegeschmack. »Siehst ja bisschen transig aus. Ob Bielefeld die richtige Stadt für solche Aufmachungen ist, wage ich zu bezweifeln. Oder ist das etwa Absicht?«
Da hatte sie tatsächlich ins Schwarze getroffen. Ich mochte es, mich nicht vollständig abzuschminken und nach der Vorstellung mit Lidstrich und dunklen Wimpern herumzulaufen. »Nee, aber das ist immer so mühsam«, rechtfertigte ich mich. »Bist du fertig?« »Gleich.« Immer wieder sah ich, wie ihre Zungenspitze reptilienschnell zwischen den Lippen hervorschoss und die schon arg verschmierte Serviette einspeichelte. Ich roch ihre Spucke in meinem Gesicht. »So, guck mich mal an. Ja, besser. Wie wäre es mit einer Zigarette?« »Gerne.«
Es war mir trotz massiver Widerstände meines durch viele Jahre Sport, ja Hochleistungssport, trainierten Körpers gelungen, mich von einem reinen Gelegenheitsraucher zu einem stabilen Gewohnheitsraucher zu steigern. Anfänglich war meine kerngesunde Physis geradezu entrüstet, wenn ich rauchte. Mir wurde übel, meine Lunge krampfte sich empört zusammen, jedes Lungenbläschen rief und jede Bronchie brüllte ›Was machst du denn da? Spinnst du? Lass das!‹, und mein im Kleinkindmodus stecken gebliebener Geschmackssinn meldete ›Alarmstufe Rot‹. Mein Vater hatte jahrzehntelang Roth-Händle geraucht, und seine Krankheit, sein viel zu früher Tod hatte sicherlich auch mit den außerordentlich starken Zigaretten zu tun gehabt. Diese Tatsache zu ignorieren, wider besseres Wissen zu rauchen, war ein Genuss für mich, ein Vernunfttrotz, der im Laufe der nächsten Wochen und Monate noch auf andere Lebensbereiche übergreifen sollte. Das Falsche zum Richtigen umzuwidmen, wurde zu einer echten Obsession.
»Es tut mir leid, dass ich voll verpasst habe, dich zu fragen, wie du eigentlich heißt. Jetzt ist das ja fast schon peinlich.« Sie gab mir eine Zigarette und sagte: »Oh wie schön, jetzt kann ich einen der ganz großen Sätze des zwanzigsten Jahrhunderts sagen: Hast du mal Feuer?« Ich klopfte mir auf die Hosentaschen: »Nee, Mist.« »Ich aber.« Sie griff in die Tasche ihres Mantels, eines schwarzen secondhand verlebten Trenchcoats, dessen Kragen sie aufschlug. Sie hielt mir das brennende Feuerzeug hin, machte ein detektivisches Gesicht, zog die eine Augenbraue hoch, Zigarette im Mundwinkel, und blies cool den Rauch über die Kragenkante. Das mochte ich sofort sehr an ihr, dass sie in jedem Augenblick spielbereit war, dass sie all die Klischees, die uns umgeben, die uns niederzudrücken drohen, durch ihre rastlosen Volten, ihre ironischen Verspiegelungen unschädlich machte. »Also, sagst du mir deinen Namen?« »Rate mal.« »Was?« »Das heißt: Wie bitte!« »Wie bitte?« »Rate mal.« »Das ist unmöglich. Wie soll das gehen?« »Na komm, das schaffst du schon. Welcher Name passt zu mir?« »Mein Gott!«, rief ich in den laternenhellen Nachthimmel, in dem lichtverwirrt eine Amsel zwitscherte, »es gibt eine Million Namen. Wie soll ich ausgerechnet deinen erraten?« »Wir kennen uns doch schon eine Ewigkeit. Versuch es mal.« »Wie soll das gehen? Das ist absurd!« Sie wandte sich ab: »Siehst du, hab ich dir doch gesagt. Der Typ ist voll der Langweiler!« »Also gut. Ich versuche es.« Ich trank einen Schluck, knibbelte am Etikett der Flasche herum und sagte: »Rumpelstilzchen!« Sie unterdrückte ein kleines Lächeln, das sah ich sehr wohl. »Sehr witzig. Los, sag mir, wie ich heiße.« Sie meinte es wirklich ernst. »Gut, du musst mir aber ein bisschen Zeit geben.« »Na klar. Nous sommes jeunes et nous avons le temps éternel. Hauptsache, du schaffst es.« »Bevor ich es versuche, möchte ich dich noch darüber informieren, dass ich absolut kein Französisch spreche.« »Ist doch egal. Ich versteh auch nicht alles, was du redest. Los, jetzt sag mir endlich, wie ich heiße.«
Was wusste ich über sie? So gut wie nichts. Sie konnte nicht tanzen, hatte Probleme mit Treppen. Aber aus motorischen Auffälligkeiten auf Namen zu schließen, war müßig. Fällt eine Hannelore eher die Treppe herunter als eine Rita? Einzig und allein ihre französischen Einwürfe, die für mich perfekt muttersprachlich geklungen hatten, ließen eventuell den Schluss zu, dass sie etwas mit Frankreich zu tun hatte. Was für eine magere Fährte, aber die einzige Spur weit und breit. Welche französischen Namen kannte ich? Ich musste etwas Besonderes finden, das nicht zu bizarr war. Sieht man aus wie der Name, den man hat? Kann schon vorkommen. Aber ich war immer eher erstaunt darüber, wie ein zu hundert Prozent unsäglicher Name durch seinen Namensträger entschärft, ja veredelt werden konnte, und ohne die geringste Irritation sagt man dann ›Hallo Herbert‹ oder ›Hallo Detlef‹. Mir war klar, dass ich ihn nicht erraten konnte, aber ich nahm mir vor, wenigstens einen Namen zu nennen, der ihr schmeicheln, der ein Kompliment sein würde. Da entzündete ein herumstiebender Neuronenfunke meine Erinnerung. Meine Eltern hatten eine Schallplatte besessen, auf der eine Frau französische Chansons sang. Ihr dichtes schwarzes Haar rahmte das kleopatrahaft frei geschnittene Gesicht ein, die Augen dramatisch geschminkt. Ich machte mich auf die Suche nach dem Namen, formte mit der Zunge in meinem geschlossenen Mund Buchstabe für Buchstabe des Alphabets. Schon oft war ich durch diese Methode auf Verschollenes gestoßen. So als wäre die Zunge ein Fühler des Gehirns, der durch das Abtasten der Anfangsbuchstaben den gesamten Namen enttarnt. Ich war schon bei H angekommen, ohne auch nur den Hauch einer Verbindung zwischen Zunge und Namenslücke gespürt zu haben, als es bei J eine heftige Rückkoppelung gab. Ich hängte rein phonetisch verschiedene zweite Buchstaben an. Je – Ja – Jo – Ju? – Ju? Peng! Treffer: Juliette Gréco.
»Okay, ich hab einen Namen.« Sie warf die Zigarette weg, setzte sich aufrecht hin, bereit für ihre Sommernachtstaufe. Ich zögerte kurz, war überrascht, dass ich es nun tatsächlich für möglich hielt, ihren richtigen Namen gefunden zu haben. Ich versuchte ihn so französisch wie möglich auszusprechen: »Juliette.« Weder sah sie mich an noch sagte sie etwas. Wie nach einer erschütternden Diagnose saß sie da, den Rücken erbärmlich gekrümmt. Nach einer Weile schüttelte sie kraftlos den Kopf. Sollte ich mich jetzt wirklich dafür schämen, dass es mir nicht gelungen war, ihren Namen zu erraten? Ich kannte sie erst seit circa hundert Minuten, und schon sollte ich für eine derart herbe Enttäuschung verantwortlich sein? »Ja, tut mir leid.« Ich zündete mir eine nächste Zigarette an, während sie leise zum Gehweg sprach: »Gibt halt keine Wunder.« »Tja. Ich sag ja, es tut mir leid.« Wir schwiegen. Da richtete sie sich auf: »Versuch es noch mal. Na los, eine Chance gebe ich dir noch.« Ich imitierte einen flehentlichen Tonfall, wimmerte: »Bitte, Schluss jetzt damit. Es ist unmöglich!« »Quatsch. Schau mal, einen Namen kannst du jetzt schon mal ausschließen. Das macht es doch wesentlich leichter. Du bist gar nicht so schlecht gewesen!« »Ach wirklich? Wie wäre es mit: Jutta?« »Komm, nicht gemein werden.« Sie boxte mich auf den Oberarm, und ich war mir sofort sicher, dass sie mindestens einen älteren Bruder haben musste, so treffsicher fand sie die Stelle am Muskel, die schmerzte. Wir wurden beide ein wenig hysterisch, was ich ganz angenehm fand.
»Also los, nutze deine letzte Chance. Mein Gott, stell dich doch nicht so blöd an. Das kann doch nicht so schwer sein. Spuck endlich meinen Namen aus!« Ich hielt mir die Hände vor das Gesicht und rief in die Handflächen: »Äääähhhh – Judith!« »Stimmt.« Ich wandte mich ihr zu, ruckartig, und spürte den Alkohol. »Quatsch, oder? Das kann nicht dein Ernst sein! Du heißt Judith?« Sie sah mich bestürzt an, die Nasenflügel ihrer eingedrückten Nase bebten so, wie ich das noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Es sah eher aus wie ein Trick, mit...
Erscheint lt. Verlag | 9.11.2017 |
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Reihe/Serie | Alle Toten fliegen hoch |
Alle Toten fliegen hoch | Alle Toten fliegen hoch |
Zusatzinfo | 1 s/w-Abbildung |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | ach • Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke • Ach diese Lücke diese entsetzliche Lücke • Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke • Alle Toten fliegen hoch Teil 4 • Amerika • Bestseller • diese entsetzliche Lücke • diese Lücke • Hamster im hinteren Stromgebiet • Joachim Meyerhoff Reihe • Liebe • Meyerhoff Autobiografie • Provinz • Schauspieler • SPIEGEL-Bestseller • Theaterstück • Theaterstück • Wann wird es endlich wieder so • Wann wird es endlich wieder so wie es nie war? • Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war • wie es nie war • Wiener Burgtheater |
ISBN-10 | 3-462-31722-9 / 3462317229 |
ISBN-13 | 978-3-462-31722-0 / 9783462317220 |
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