Die Überfahrt (eBook)
512 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490132-9 (ISBN)
Mats Strandbergs Horror-Debüt »Die Überfahrt« wurde in Schweden wie in Deutschland zum Überraschungsbestseller und machte ihn auf einen Schlag berühmt. Mit »Das Heim« und »Die Konferenz« hat sich Strandberg erneut auf alle skandinavischen Bestsellerlisten geschrieben.
Mats Strandbergs Horror-Debüt »Die Überfahrt« wurde in Schweden wie in Deutschland zum Überraschungsbestseller und machte ihn auf einen Schlag berühmt. Mit »Das Heim« und »Die Konferenz« hat sich Strandberg erneut auf alle skandinavischen Bestsellerlisten geschrieben. Antje Rieck-Blankenburg, Jahrgang 1962, übersetzt aus den skandinavischen Sprachen und hat u.a. Arne Dahl, Jens Lapidus, Elias Palm und Jan Wallentin ins Deutsche übertragen. Sie lebt in Bühl und Frankfurt am Main.
Der spannende Horror-Roman von Mats Strandberg erinnert an die Bücher von Steven King - nichts für zarte Gemüter!
...Strandberg führt seine Figuren und deren Gefühlswelten sehr geschickt, fein und mit Liebe zum Detail ein. [...] Das ist richtig gut gemacht.
Tolle Figuren, eine Spannung die sich immer höher schraubt, ein Buch wie ein fieser Kinofilm. Klasse.
Muss diesen Sommer mit auf jede schwedische Fähre: Vampire machen die Kreuzfahrt des kleinen Mannes zur Hölle.
Für mich ein absolut hervorragendes Unterhaltungsbuch, ganz großes Kino, mit wirklich allem drum und daran, aber auf eine Fähre kriegt mich jetzt keiner mehr.
Wenn ein Autor mit den Größen der Literatur verglichen wird, so muss dem Leser schon etwas geboten werden. Und das tut dieses Buch.
Am Roman [...] fasziniert, dass er Figuren schildert, die aus dem Leben gegriffen sind. Dabei wirkt die Ostseefähre als Schauplatz der Handlung ebenso originell wie unheimlich.
Wer dieses Buch gelesen hat, setzt so schnell keinen Fuß mehr auf ein Schiff ...
Marianne
Noch fast eine Stunde bis zur Abfahrt. Sie könnte es sich immer noch anders überlegen. Könnte ihren Koffer nehmen und ihn den ganzen Weg zurück durchs Terminal rollen, den Kai entlang, sich auf die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn stellen, zurück zum Hauptbahnhof und von dort den ganzen Weg nach Hause zurück nach Enköping fahren. Sie könnte versuchen, diese völlig idiotische Idee zu vergessen. Irgendwann wird sie vielleicht sogar über den gestrigen Abend lachen können, als sie zu Hause in ihrer Küche gesessen hatte und die Stimmen aus dem Radio das monotone Ticken der Wanduhr nicht übertönen konnten. Sie hatte ein Glas Rioja zu viel getrunken und beschlossen, dass es ihr jetzt reichte. Woraufhin sie ein weiteres Glas trank und sich entschied, etwas dagegen zu tun. Den Tag zu nutzen. Das Abenteuer zu suchen.
Ja, irgendwann einmal kann sie vielleicht darüber lachen. Doch Marianne bezweifelt das. Es ist schwer, über sich selbst zu lachen, wenn man niemanden hat, der mitlacht.
Wie war sie eigentlich auf diese Schnapsidee gekommen? Am frühen Abend hatte sie diese Werbung im Fernsehen gesehen – mit festlich gekleideten Menschen, die aussahen wie du und ich, nur fröhlicher –, aber das kann wohl kaum der Grund dafür sein. Das hier ist doch ganz und gar nicht ihr Ding.
Sie hatte die Fahrkarte gekauft, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Sie war so aufgeregt, dass sie trotz des Weins kaum einschlafen konnte. Das Gefühl hielt den ganzen Vormittag an, während sie sich die Haare färbte, den ganzen Nachmittag, während sie packte, und schließlich den ganzen Weg bis hierher. Als hätte das Abenteuer schon begonnen. Als hätte sie vor sich selbst fliehen können, indem sie vor ihrem Alltag floh. Doch jetzt starrt sie ihr Spiegelbild an, ihr Kopf ist schwer wie Blei, und die Reue packt sie, verstärkt noch den Kater, den sie ohnehin schon hat.
Marianne beugt sich vor und wischt etwas zerlaufene Mascara weg. Im bläulichen Schein der Neonröhren in der Damentoilette des Fährterminals sehen die Tränensäcke unter ihren Augen grotesk aus. Sie weicht zurück und fährt sich mit den Fingern durch die praktische Pagenfrisur. Kann noch immer den Duft des Haarfärbemittels riechen. Sie sucht in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift, zieht mit geübten Bewegungen ihre Lippen nach und presst sie dann aufeinander. Schluckt die dunkle Wolke hinunter, die sich in ihrem Inneren breitmacht und sie zu verschlingen droht.
In einer der Toilettenkabinen hinter ihr betätigt jemand die Spülung, und die Tür wird geöffnet. Marianne streckt sich und streicht ihre Bluse glatt. Zusammenreißen, sie muss sich zusammenreißen. Eine dunkelhaarige junge Frau in einer ärmellosen knallrosafarbenen Bluse kommt heraus und stellt sich vor das Waschbecken neben ihr. Marianne betrachtet die weiche Haut an den Armen der jungen Frau. Die Muskeln, die sich darunter abzeichnen, als sie sich die Hände wäscht und nach einem Papierhandtuch streckt. Sie ist zu mager. Ihre Gesichtszüge sind so kantig, dass sie fast maskulin wirken. Doch Marianne nimmt an, dass viele Leute sie als attraktiv bezeichnen würden. Zumindest als sexy. Auf einem ihrer Schneidezähne glitzert ein kleiner Diamant. Rosafarbener Strass auf den Potaschen ihrer Jeans. Marianne merkt selbst, wie sie sie anstarrt, und schaut rasch weg. Doch die junge Frau verschwindet hinaus ins Terminal, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.
Marianne ist unsichtbar. Sie fragt sich, ob sie tatsächlich selbst einmal so jung gewesen ist.
Es ist schon so lange her. In einer anderen Zeit, einer anderen Stadt. Damals war sie mit einem Mann verheiratet, der sie liebte, so gut er konnte. Die Kinder waren noch klein und lebten nach wie vor in dem Glauben, dass sie eine Art Halbgöttin wäre. Sie hatte einen Job, bei dem sie jeden Tag Bestätigung und Anerkennung erhielt. Und ihre Nachbarn boten ihr jedes Mal eine Tasse Kaffee an, wenn sie zufällig vorbeikam.
Kaum vorstellbar, dass es Tage gab, an denen Marianne davon träumte, mal allein zu sein. Nur ein paar Stunden, um ihren Gedanken nachzuhängen, was ihr damals wie ein Luxus vorkam.
Was das angeht, schwimmt sie heutzutage geradezu in Luxus. Zeit ist buchstäblich das Einzige, was sie hat.
Marianne kontrolliert, ob auch kein Lippenstift auf ihre Zähne geraten ist. Wirft einen Blick auf den kleinen Rollkoffer, der neben ihr steht, ein Geschenk des Buchklubs, dessen Mitglied sie ist.
Sie hängt sich den Daunenmantel über den Arm, umfasst entschlossen den Griff ihres Rollkoffers und verlässt die Damentoilette.
Im Terminal ist der Geräuschpegel hoch. Einige Leute haben sich schon in die Warteschlange vor der Absperrung gestellt, wo sie anstehen, um an Bord gelassen zu werden. Sie schaut sich um. Stellt fest, dass sie sich mit ihrer rosafarbenen Bluse und dem knielangen Rock viel zu förmlich gekleidet hat. Die meisten Frauen im Alter um die sechzig tragen eher wie Teenager Jeans und Kapuzenjacke oder auch körperbetonte Kleider mit tiefem Ausschnitt – oder aber genau das Gegenteil, indem sie ihre Körper in formlosen Tuniken oder zeltähnlichen Kleidern verstecken. Marianne gehört keiner dieser Gruppen an. Sie sieht aus wie eine zugeknöpfte pensionierte Arzthelferin. Was sie letztlich auch ist. Sie zwingt sich zu der Erkenntnis, dass viele der anderen Frauen älter und auch hässlicher sind als sie selbst. Sie hat ebenfalls ein Recht darauf, hier zu sein.
Marianne steuert die Bar am anderen Ende des Terminals an. Die Räder ihres Rollkoffers dröhnen so laut, als versuche sie eine Dampfwalze über den Steinfußboden zu manövrieren.
Als sie die Theke erreicht, lässt sie ihren Blick über glänzende Flaschen und Bierzapfhähne schweifen. Die Preise stehen mit Kreide auf schwarze Tafeln geschrieben. Marianne bestellt einen Kaffee mit Baileys und hofft, dass er an Bord etwas günstiger sein wird. Haben die Bars Taxfree-Preise? Das hätte sie vorher nachschauen sollen. Warum hat sie das nicht getan? Sie bekommt ihr Getränk in einem hohen Duralex-Glas von einer jungen Frau mit glitzernden Piercings in Lippen und Augenbrauen gereicht. Auch sie würdigt Marianne keines Blickes, woraufhin deren schlechtes Gewissen, weil sie kein Trinkgeld gegeben hat, ein wenig nachlässt.
Ganz hinten an der Stirnseite des mittels einer Glasfront abgetrennten Bereichs ist ein Tisch frei. Marianne zwängt sich mit ihrem lauten Rollkoffer und dem Mantel, der wie eine aufgeplusterte Daunendecke über ihrem Arm hängt, vorsichtig zwischen den Tischen hindurch. Das heiße Glas brennt in ihren Fingern, und der Riemen ihrer Handtasche rutscht ihr von der Schulter und landet in der Armbeuge. Doch schließlich hat sie den Tisch erreicht. Stellt ihr Glas ab. Schiebt den Riemen ihrer Handtasche wieder über die Schulter hoch. Wie durch ein Wunder ist es ihr gelungen, sich mit dem Mantel und allem anderen durch den schmalen Spalt zwischen den Tischen hindurchzuzwängen, ohne etwas umzustoßen. Als sie auf den Stuhl sinkt, ist sie fix und fertig. Sie nimmt einen prüfenden Schluck, doch das Getränk ist keineswegs so heiß wie das Glas, und trinkt dann gieriger. Spürt, wie sich Alkohol, Zucker und Koffein allmählich in ihrem Körper ausbreiten.
Marianne schaut hinauf ins Spiegelglas an der Decke. Richtet sich ein wenig auf. Aus der Vogelperspektive sind die Falten an ihrem Hals nicht zu erkennen, und die Haut spannt sich über ihren Kieferknochen, so dass diese deutlich hervortreten. Das Spiegelglas ist rauchfarben, womöglich wirken ihre Augen deswegen so wach und ihre Gesichtshaut sonnengebräunt. Sie lässt ihre Finger über den Kieferknochen gleiten, bis ihr bewusst wird, dass sie mitten unter Leuten sitzend Nabelschau betreibt. Sie sackt auf ihrem Stuhl zusammen und nimmt einen weiteren Schluck. Fragt sich, wie weit sie noch davon entfernt ist, um als schrullig bezeichnet werden zu müssen. Eines Morgens hatte sie erst an der Bushaltestelle stehend gemerkt, dass sie immer noch ihre Schlafanzughose trug.
Die schwarze Wolke droht sich erneut in ihr auszubreiten. Marianne schließt die Augen. Hört die Leute um sich herum reden und lachen. Außerdem ein lautes Schlürfen, und als sie hinschaut, sieht sie einen kleinen asiatischen Jungen über ein Glas gebeugt sitzen, in dem sich nur noch Eiswürfel befinden. Sein Vater, der mit hochrotem Kopf ein Handy ans Ohr gepresst hält, scheint die ganze Welt zu hassen.
Marianne wünschte, sie würde noch rauchen. Dann könnte sie jetzt auf den Kai hinausgehen und sich eine Zigarette anzünden, um etwas zu tun zu haben. Aber nun ist sie zumindest hier. Inmitten all dieser Geräusche. Und trifft eine Entscheidung. Nein, das hier ist nicht ihr Ding, das ist nicht sie. Aber sie hat es so satt, immer nur sie selbst zu sein.
Sie kann doch jetzt nicht wieder heimfahren. Den ganzen Sommer lang hat sie in ihrer Wohnung gesessen, wo sie die Stimmen, das Lachen und die Musik aus den Nachbarwohnungen, auf den Balkonen, die zum Innenhof hinausgehen, und auf der Straße vor der Küche gehört hat. Das lebendige Treiben, das überall herrschte. Doch in ihrer Wohnung tickt nur die verdammte Wanduhr, während der Kalender mit den Fotos ihrer Enkel, die sie kaum je gesehen hat, die Tage bis Weihnachten zählt. Wenn sie jetzt heimführe, würde sie für immer in ihrer Einsamkeit gefangen bleiben und nie wieder so etwas wie das hier ausprobieren.
Marianne wird plötzlich bewusst, dass einer der Männer vom Nachbartisch sie freundlich anlächelt und versucht, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. Sie tut so, als suche sie etwas in ihrer Handtasche. Die Augen des Mannes wirken in seinem ausgezehrten, verlebten Gesicht riesengroß. Außerdem sind seine Haare für ihren Geschmack viel zu lang. Sie hätte sich ein Buch mitnehmen sollen. In...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2017 |
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Übersetzer | Antje Rieck-Blankenburg |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Blut • Blutsauger • Dark Fantasy • Fähre • Finnland • Gefangen • gruselig • Gruselroman • hoher See • Horror • horror bestseller • Horrorfilm • Horror Roman • Horrorthriller • Justin Cronin • Ostsee • Party • regional • Schweden • Skandinavien • skandinavischer Thriller • Spannung • Stephen King • Tod • Überleben • übernatürlicher Thriller • Urlaub • Vampir • Wasser • Zombie |
ISBN-10 | 3-10-490132-5 / 3104901325 |
ISBN-13 | 978-3-10-490132-9 / 9783104901329 |
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