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Die Einkreisung (eBook)

Der Roman zur Netflix-Serie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
736 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-18541-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Einkreisung - Caleb Carr
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Das Psychogramm eines Mörders
New York 1896: Unter Polizeichef Theodore Roosevelt kommt es zu einem grauenvollen Mord, der sich als Teil einer ganzen Mordserie erweist. Mit den Ermittlungen wird Dr. Kreisler beauftragt, ein Vorläufer Sigmund Freuds. Gegen erbitterte Widerstände gelingt es ihm, mittels eines detaillierten Psychogramms den Mörder einzukreisen.

Caleb Carr ist in der Lower East Side von Manhattan aufgewachsen und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2024 in Cherry Plain, New York. Er studierte Geschichte an der New York University und hat am Bard College gelehrt. Sein erster Roman 'Die Einkreisung' wurde ein internationaler Erfolg und in über zwanzig Sprachen übersetzt. 2018 wurde das Buch als Netflix Serie mit Daniel Brühl in der Hauptrolle verfilmt. Als Journalist veröffentlicht der Katzenliebhaber zahlreiche Artikel in The Washington Post, The New York Times und in The Wall Street Journal zu historischen Themen.

KAPITEL 3

Eigenartig, wie lange ich brauchte, um das Bild, das sich mir bot, zu erfassen. Doch das war alles so vollkommen falsch, so irrwitzig, so … verzerrt – wie hätte man das auch schneller begreifen sollen?

Auf dem Metallsteg befand sich der Körper einer jungen Person. Ich sage »Person«, weil zwar die sekundären Geschlechtsmerkmale die eines halbwüchsigen Jungen waren, aber die Bekleidung (zu sehen war nur ein Unterkleid, dem ein Ärmel fehlte) sowie das Make-up auf ein Mädchen oder vielmehr auf eine Frau hindeuteten, und zwar eine von zweifelhaftem Ruf. Das unglückliche Geschöpf hatte die Handgelenke auf dem Rücken zusammengebunden, die Beine waren zu einer knienden Haltung gebogen, und zwar so, dass das Gesicht gegen den eisernen Laufsteg gepresst wurde. Aber was mit dem Körper geschehen war …

Das Gesicht wies keine Spuren von Schlägen auf – die Schminke schien unberührt –, aber wo einst Augen gewesen waren, sah man jetzt nur noch blutige Höhlen. Aus dem Mund ragte ein unkenntliches Stück Fleisch. Quer über die Kehle zog sich ein breiter Schnitt, der jedoch kaum blutete. Der Unterleib war geradezu zerfetzt worden, sodass man die inneren Organe erahnen konnte. Die rechte Hand war glatt und sauber abgeschlagen. Eine klaffende Wunde im Schritt bot die Erklärung für den Mund – die Genitalien waren abgetrennt und dem Opfer zwischen die Zähne gestopft worden. Auch die Hinterbacken fehlten, mit großen, breiten Schnitten abgesäbelt wie von einem Metzger.

In den ein oder zwei Minuten, die ich brauchte, um die Einzelheiten aufzunehmen, wurde um mich herum plötzlich alles schwarz, und was ich zuerst für das Stampfen eines Dampfers hielt, war in Wirklichkeit das Dröhnen meines Blutes in meinen Ohren. Etwas Galliges stieg mit einem Mal in mir auf, daher drehte ich mich rasch um und hängte meinen Kopf über das Geländer.

»Commissioner!«, schrie Connor und stürzte aus dem Wachtturm. Aber Theodore war schon mit einem Sprung bei mir.

»Beruhige dich, John«, hörte ich ihn sagen, während er mich mit seiner drahtigen, aber erstaunlich kräftigen Boxerstatur stützte. »Tief durchatmen.«

In diesem Augenblick hörte ich einen lang gezogenen Pfiff von Flynn, der offenbar noch immer auf den Toten starrte. »Da sieh mal einer an«, sagte er ungerührt. »Giorgio alias Gloria, dich hat einer ganz schön fertiggemacht, was? Tja, du wirst keinen mehr einwickeln.«

»Ach, Sie kennen dieses Kind, Flynn?«, fragte Theodore, während er mich gegen die Mauer des Wachtturms lehnte. Das Karussell in meinem Kopf wurde allmählich langsamer.

»Allerdings, Commissioner.« In dem trüben Licht schien es, als würde Flynn grinsen. »Kind kann man das hier allerdings nicht nennen, wenn es nach seinem Benehmen geht. Familienname Santorelli, Alter, na ja, sagen wir so um die dreizehn. Giorgio hieß es ursprünglich, aber als es anfing, in der Paresis Hall zu arbeiten, nannte es sich Gloria.«

»Es?«, fragte ich und wischte mir dabei mit der Manschette meines Rocks den kalten Schweiß von der Stirn. »Warum sagen Sie immer wieder ›es‹?«

Flynns Grinsen wurde noch breiter. »Ja, wie würden Sie denn zu so was sagen, Mr. Moore? Ein Mann war es ja wohl nicht, so wie es sich aufführte – aber als Frau hat Gott es auch nicht erschaffen. Von dieser ganzen Brut spreche ich immer nur als ›es‹.«

Theodore stemmte seine zu Fäusten geballten Hände in die Hüften; ihm war klar geworden, was für ein Bursche dieser Flynn war. »An Ihrer philosophischen Analyse der Situation bin ich nicht interessiert, Sergeant. Der Junge hier war in jedem Fall ein Kind, und dieses Kind wurde ermordet.«

Flynn gluckste und starrte wieder auf die Leiche. »Ist wohl kaum zu bestreiten, Sir.«

»Sergeant!« Theodores Stimme, die im Gegensatz zu seinem freundlichen Aussehen immer etwas scharf wirkte, klang jetzt noch barscher, als er den nun strammstehenden Flynn anfuhr. »Kein Wort mehr von Ihnen, außer Sie werden gefragt! Ist das klar?«

Flynn nickte; aber seine leicht gekräuselte Oberlippe verriet die höhnische Ablehnung, die alle lang gedienten Polizeibeamten dem Commissioner, der in knapp einem Jahr das Polizeihauptquartier und die gesamte Hierarchie auf den Kopf gestellt hatte, entgegenbrachten. Theodore konnte das nicht entgangen sein.

»Nun denn«, bemerkte er nun, wobei seine Zähne auf eine charakteristische Weise schnalzten, als ob er sich jedes Wort aus dem Munde meißeln müsste. »Sie sagen, der Junge hieß Giorgio Santorelli und hat in der Paresis Hall gearbeitet – das ist Biff Ellisons Etablissement am Cooper Square, nicht wahr?«

»Ganz recht, Commissioner.«

»Und wo hält sich Mr. Ellison Ihrer Meinung nach in diesem Moment auf?«

»In diesem … Na, sicher in der Paresis Hall, Sir.«

»Dann gehen Sie dorthin, und richten Sie ihm aus, dass ich ihn morgen früh in der Mulberry Street erwarte.«

Flynn verlor seinen amüsierten Gesichtsausdruck. »Morgen? Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Commissioner, aber Mr. Ellison ist nicht der Mann, der das gut aufnehmen wird.«

»Dann verhaften Sie ihn eben«, erwiderte Theodore, wandte sich ab und starrte hinüber nach Williamsburg.

»Verhaften? Wenn wir alle Bar- oder Nachtklubbesitzer verhaften wollten, nur weil einer von ihren Strichern überfallen oder umgebracht wurde, dann könnten wir gleich …«

»Es würde mich interessieren, die wahren Gründe für Ihren Widerstand zu erfahren«, bemerkte Theodore, der hinter seinem Rücken die Fäuste öffnete und schloss. Dann trat er ganz nahe an Flynn heran und musterte ihn durch seine Brillengläser. »Ist Mr. Ellison nicht eine Ihrer Hauptquellen für Schmiergeld?«

Flynn riss die Augen weit auf, brachte es aber fertig, sich zu straffen und die gekränkte Unschuld zu spielen. »Mr. Roosevelt, ich bin seit fünfzehn Jahren bei der Polizei, Sir, und ich glaube, ich weiß, wie diese Stadt funktioniert. Man kann einen Mann wie Mr. Ellison nicht einfach belästigen, nur weil so ein mieser kleiner Einwanderer das bekommt, was er verdient hat!«

Das war zu viel, und glücklicherweise wusste ich das, denn wäre ich nicht im selben Moment auf Theodore zugeschossen, um seine Arme festzuhalten, dann hätte er Flynn sicher blutig geschlagen. Aber es fiel mir nicht leicht, ihn zu bändigen. »Nein, Roosevelt, nicht!«, zischte ich ihm ins Ohr. »Genau darauf warten diese Brüder doch, und du weißt das! Wenn du einen Mann in Uniform angreifst, fordern die deinen Kopf, und dann kann dir auch der Bürgermeister nicht mehr helfen!«

Roosevelt entspannte sich schwer atmend, während Flynns Grinsen zurückkehrte. Detective Sergeant Connor und der Streifenpolizist hatten keine Anstalten gemacht, in das Geschehen einzugreifen. Sie hingen zwischen den Stühlen: Auf der einen Seite war da die mächtige städtische Reformbewegung, die nach dem, was die Lexow-Kommission (zu deren gewichtigsten Vertretern Roosevelt gehörte) vor einem Jahr über die Korruption im Polizeiapparat bekannt gegeben hatte, New York im Sturm erobert hatte; auf der anderen Seite stand die vielleicht noch größere Macht ebendieser Korruption, die so alt war wie der Polizeiapparat selbst und jetzt hinter den Kulissen abwartete, bis die Öffentlichkeit sich nicht mehr für Reformen interessierte und überall wieder der alte Schlendrian um sich greifen konnte.

»Sie haben die Wahl, Flynn«, erklärte Roosevelt und klang nun erstaunlich gelassen. »Ellison in meinem Büro oder Ihre Dienstmarke auf meinem Schreibtisch. Morgen früh.«

Mürrisch gab Flynn den Kampf auf. »Sehr wohl, Commissioner.« Er machte auf dem Absatz kehrt, bewegte sich in Richtung Stiegenhaus und murmelte dabei etwas von einem »verdammten Frackmatz, der den Polizisten spielt«. In diesem Moment erschien einer der Bullen, die unterhalb des Turmes Wache hielten, und verkündete, der Wagen des Coroners sei angekommen und bereit, die Leiche abzutransportieren. Roosevelt wies ihn an, noch ein paar Minuten zu warten, und schickte dann Connor und den Streifenpolizisten fort. Wir beide waren jetzt allein auf dem Steg, abgesehen von den grässlichen Überresten eines jener unzähligen verlassenen, verzweifelten jungen Menschen, die der finstere, elende Ozean von Mietskasernen, der sich von hier weit nach Westen erstreckte, immer wieder ausspie. Gezwungen, sich irgendwie über Wasser zu halten, waren diese Kinder in einer Weise auf sich allein gestellt, wie es sich jemand, der die Gettos von New York City im Jahre 1896 nicht kannte, auch nicht annähernd ausmalen konnte.

»Kreisler meint, der Junge wurde heute am frühen Abend ermordet«, erklärte Theodore nach einem Blick auf das zerknitterte Papier in seiner Hand. »Irgendetwas mit der Körpertemperatur. Der Mörder könnte also noch in der Nähe sein. Ich lasse die Gegend gerade von ein paar Männern durchkämmen. Es gibt noch einige weitere medizinische Details … und dann diese Nachricht.«

Damit reichte er mir das Papier, und ich sah, was Kreisler offenbar in nervöser Erregung in Blockschrift darauf notiert hatte: »ROOSEVELT: FURCHTBARE FEHLER SIND BEGANGEN WORDEN. ICH STEHE AM VORMITTAG ZUR VERFÜGUNG, AUCH MITTAGESSEN WÄRE MÖGLICH. WIR MÜSSEN SOFORT BEGINNEN – ES GIBT EINEN ZEITPLAN.« Ich gab mir Mühe, einen Sinn herauszulesen.

»Irgendwie ärgerlich, dass er gar so geheimnisvoll tut«, war schließlich das Einzige, was mir einfiel.

Theodore rang sich ein Lächeln ab. »Ja, das dachte ich auch. Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was er meint. Es hat mit der Untersuchung der Leiche zu tun. Hast du eine...

Erscheint lt. Verlag 14.5.2018
Übersetzer Hannelore Neves
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Alienist
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte Buch zur Serie • Daniel Brühl • eBooks • Forrest Gump • Freud • Historische Kriminalromane • Historische Romane • Netflix • Netflix Serie • New York • the alienist • Thriller • Tom Hanks • True Detective
ISBN-10 3-641-18541-6 / 3641185416
ISBN-13 978-3-641-18541-1 / 9783641185411
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