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Wörterbuch der Unruhe (eBook)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403813-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wörterbuch der Unruhe -  Ralf Konersmann
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In seinem großen Erfolg ?Die Unruhe der Welt? ging Ralf Konersmann der Frage nach, wie die abendländische Kultur die Unruhe zu lieben gelernt hat. In seinem neuen ?Wörterbuch der Unruhe? erweitert er nun auf Basis ungenutzter Quellen und neuer Schwerpunkte seine Untersuchungen und unternimmt essayistische Streifzüge zu den Orten, an denen die Unruhe Gestalt annimmt und sich uns als normalste Sache der Welt präsentiert: von »Arbeit« über »Coolness« und »Unbehagen« bis zur »Zerstreutheit«. Es sind funkelnde, brillant formulierte Begriffsreportagen zu der Frage, welcher Argumentationslinien und Überredungsstrategien sich die Unruhe bedient, um uns so sehr für sich einzunehmen. Das ?Wörterbuch? - so kann man sagen - ergänzt den Blick auf die Unruhe der Welt um den Blick auf die Welt der Unruhe. »Es gibt nichts Beruhigenderes als ein Wörterbuch.« Roland Barthes

 Ralf Konersmann, geboren 1955, ist Professor für Philosophie und Publizist. Bis März 2021 war er Direktor des Philosophischen Seminars an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist Wissenschaftlicher Beirat mehrerer philosophischer Zeitschriften und war Gründungsmitglied der Hamburger Akademie der Wissenschaften sowie Mitherausgeber des »Historischen Wörterbuchs der Philosophie«. Im S. Fischer Verlag hat er zuletzt das »Wörterbuch der Unruhe« (2017) veröffentlicht, für das er den Tractatus-Essaypreis des Philosophicum Lech verliehen bekommen hat, sowie den großen Erfolg »Die Unruhe der Welt« (2015).

 Ralf Konersmann, geboren 1955, ist Professor für Philosophie und Publizist. Bis März 2021 war er Direktor des Philosophischen Seminars an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist Wissenschaftlicher Beirat mehrerer philosophischer Zeitschriften und war Gründungsmitglied der Hamburger Akademie der Wissenschaften sowie Mitherausgeber des »Historischen Wörterbuchs der Philosophie«. Im S. Fischer Verlag hat er zuletzt das »Wörterbuch der Unruhe« (2017) veröffentlicht, für das er den Tractatus-Essaypreis des Philosophicum Lech verliehen bekommen hat, sowie den großen Erfolg »Die Unruhe der Welt« (2015).

ein Schatzkästchen, in dem man kramt, um sich zu amüsieren, um sich zu bilden, um mal richtig schön Pause zu machen.

ein großer Wurf

ein ganz und gar aussergewöhnliches Buch

Einleitung: Die Unruhe des Wörterbuchs


Wir alle haben unsere Lektionen gelernt. Aber was heißt hier schon lernen? Die Unruhe ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, ohne dass wir uns hätten anstrengen müssen. Um in die Welt der Unruhe hineinzufinden, hat es vollkommen ausgereicht, sich nicht zu widersetzen.

*

Die Wörter und Gedankenströme, von denen wir uns haben einnehmen lassen, sprechen eine deutliche und jedermann geläufige Sprache. Sie versichern uns, dass noch nicht aller Tage Abend ist und jeder es schaffen kann;

dass wir dranbleiben und aus jeder Krise gestärkt hervorgehen;

dass es so, wie es ist, nicht bleiben muss und dass das Bessere der Feind des Guten ist.

Sie ermahnen uns, dass wir den Mut nicht sinken lassen, dass wir vorwärtskommen müssen und dass, wer nicht kämpft, schon verloren hat;

dass wir in die Gänge kommen müssen und es eilig haben;

dass die Uhr tickt und es kein Zurück gibt;

dass wir nichts versäumen und nicht trödeln dürfen;

dass wir mithalten müssen und den Anschluss nicht verlieren wollen;

dass man etwas aus sich machen, dass man vorankommen und öfter mal was Neues anfangen muss;

dass wir uns immer wieder neu erfinden;

dass wir die Hände nicht in den Schoß legen;

dass wir mit der Zeit gehen und am Ball bleiben;

dass das Beste noch kommt;

dass wir niemals aufgeben und immer wieder aufstehen;

dass wir nicht einrosten, nicht trödeln, nicht stillstehen, kein Moos ansetzen, den Kopf nicht hängen lassen …

So viel unbeirrbare Geschäftigkeit, die inmitten einer Welt der Ironien, des gewohnheitsmäßigen Hinterfragens und der distanzierenden Gänsefüßchen den Blick auf den Glutkern eines arglos gelebten Glaubens freigibt – eines Glaubens, den selbst die Ungläubigen teilen. Und der Chor der Engel, der all dies mit gütigem Lächeln verfolgt, antwortet auch und spricht: »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.«[1]

 

Die Erlösungsformeln der Unruhe sind Verdichtungen, die weitläufige Gedankenhintergründe spontan zusammenziehen. Sie bewegen sich leicht wie Gerüchte, die von Mund zu Mund fliegen, und kommen uns dabei so selbstverständlich vor, als wären sie vom Himmel gefallen. Allgegenwärtig und jederzeit abrufbar, sorgen die Klugheitsregeln des Alltagslebens für jenes Einvernehmen mit der Welt, das wir Kultur nennen und dessen Fortbestand wir, indem wir sie aufgreifen und tausendfach variieren, immer neu bestätigen. Für den aufmerkenden Zuhörer sind diese Formeln vielsagend und sogar sprechend, weil sie unbefangen hervortreten lassen, was es mit den Routinen der Unruhe auf sich hat. Die Unruhe – das ist nicht nur die geläufige Sprache der Komparative, nicht nur die routinierte Zielstrebigkeit und Eile, mit der wir dieses oder jenes hinter uns bringen, nicht nur die Promptheit, mit der wir vorankommen wollen, nicht nur die Sehnsucht nach offenen Horizonten, nicht nur der Abwehrzauber gegen Ödnis und Ereignislosigkeit, nicht nur die Schnelllebigkeit der Moden, das Brennen der Neugierde oder die Aufgewühltheit, die uns am Ende des Tages nicht loslässt. Die Unruhe ist all dies und noch mehr: der rote Faden im Gewebe der westlichen, der von Europa ausgegangenen und längst schon den gesamten Globus umspannenden Kultur.*

Nichts geschieht hier heimlich oder im Verborgenen. Wie in der berühmten Geschichte von Edgar Allan Poe über den entwendeten Brief* liegt alles, worauf es ankommt, für jedermann sichtbar offen zutage. Der Konsens der Unruhe ist mit Händen zu greifen und braucht, eben weil das Einvernehmen total ist, weder überprüft noch gerechtfertigt zu werden. Und ebenso, in diesem Klima der Vertrautheit und der fraglosen Akzeptanz, dienen uns jene eingespielten Automatismen, dient uns jenes Abc der Gemeinplätze und Verhaltensregeln als Kompass, der uns durch den Tag führt und sagt, wie das moderne Leben gelebt sein will. Das Hintergrundgeflüster der Unruhe besiegelt, was uns verbindet und worüber wir uns einig sind. Tatsächlich tritt uns die Kultur, die wir Tag für Tag mit Leben füllen, nur gelegentlich in Gestalt der Hochkunst entgegen, als Feierabendbeschäftigung und alltagsferne Exotik; weitaus verbindlicher artikuliert sich ihr Eigensinn in den Glaubenssätzen der Alltagsmoral, in ihrer Grammatik und Intonation. Zusammen bilden diese Sätze ein Gehäuse aus Signalwörtern, aus Bildern und eingefleischten Gedankenverbindungen, die nur allzu vertraut sind und für die Fertigkeit des gemeinsam geteilten Grundglaubens einstehen. Kultur ist nichts, was wir haben; in ihr zeigt sich und finden wir bestätigt, was wir sind.

*

Der Konformismus der Unruhe ist von Augenblicken getragen, in denen innere Überzeugung und kulturelle Konvention, Ich und Welt, emphatisch verschmelzen und Worte zu Fleisch werden. Wir dürfen uns dieses Einvernehmens sogar da sicher sein, wo wir unsicher geworden sind und zweifeln. Ist nicht die Unruhe, die all die alten Träume vom Glück und von der Zufriedenheit an sich gerissen hat, eine zutiefst zweideutige Angelegenheit, ist sie nicht zugleich Hektik, Unrast, Atemlosigkeit, mit einem Wort: Ist die Unruhe, von der wir uns haben ergreifen lassen, nicht auch eine Plage?

Seit rund sechzig Jahren klagen die Menschen über Stress, seit der Jahrtausendwende über Burnout. Die Diagnosen seien unscharf, heißt es von fachmedizinischer Seite, und so werden die Beschreibungen der Krankheitsbilder fortlaufend nachjustiert. Dennoch erfüllt gerade diese Vagheit ihren Zweck. Nicht nur gibt sie der diffusen Unzufriedenheit vieler Einzelner einen Namen, sie verhilft auch dem Zeitalter zu seiner Formel, in dem das Empfinden der Unruhe zur Massenerscheinung geworden ist. Burnout und Stress gelten, wie vor hundert Jahren die Nervosität, als Zeichen der Zeit.

Es ist interessant zu sehen, wie viel Aufmerksamkeit die Symptomatologie der Aufmerksamkeitsstörungen in diesen Jahren erfahren hat. Seit der Popularisierung des Stresses*, also etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts, rollen die schnell fertigen, schon im Blick auf ihre Medientauglichkeit gestellten Diagnosen in Wellen über das Publikum hin, um von dort auf die Wissenschaften zurückzuwirken und die Aktivitäten der Forschung anzuheizen. Wie einst die Theologisierung, die aus der Unruhe des Menschen zunächst die Verdammnis und dann die Chance der irdischen Bewährung herauslas, erweist sich auch die Psychologisierung der Unruhe als eine bestimmte Art, sich die Dinge zurechtzulegen. Die einschlägigen und überreich kommentierten Befunde – Nervosität, Burnout, ADHS, digitale Amnesie … – orientieren sich an dem, was sich mit den Instrumenten normaler Wissenschaft ermitteln, objektiv erfassen und therapeutisch ausrichten lässt. Unter diesen Bedingungen erscheint schließlich die Unruhe als Angelegenheit vor allem der nervlichen Konstitution und des gestörten Triebapparats: als etwas, das so nicht sein sollte und leider nicht nach Wunsch funktioniert. Der Mensch ist unruhig wie eine Uhr überdreht oder ein Wasserhahn tropft.

Die geläufigen Beschreibungen der Unruhe sind Präparate eines auf Anwendung bedachten Wissens, und als solche, das heißt als Beiträge zur Leidensminderung, halte ich sie für gerechtfertigt. Das Spezifikum der Unruhe, ihre Tragweite, ihre Präsenz, ihre Funktion als Kulturmacht ist jedoch in diesen Bildern der klinischen Diagnostik, die zugleich marktgerechte Etikettierungen sind, auch nicht annähernd erfasst. Mit dem vorliegenden Wörterbuch möchte ich deshalb vorschlagen, es einmal anders zu versuchen: auf dem Umweg über die genealogische Rekonstruktion. Die Genealogie will hinter die Routinen der aktuellen Problemwahrnehmung zurückgehen, um an die Anreizsysteme, an die Erwartungen und Phantasien heranzukommen, die einst der Unruhe die Bahn freigegeben haben. Was mich interessiert, ist weniger die Symptomatologie der inneren Unruhe, die mit Joseph Conrad und Fernando Pessoa ihre detailsensiblen Schilderer längst gefunden hat.* Was mich interessiert, ist die weit weniger auffällige, da mit der Wirklichkeit der westlichen Kulturen verschmolzene Phänomenwelt der moralischen Unruhe*. Das Interesse an der moralischen Unruhe geht über Befindlichkeitsfragen hinaus und erweitert das Blickfeld um das Ganze der menschlichen Situation. Im Alltag bleibt dieses Umfeld unscheinbar; es gehört zu den Gegebenheiten, vor deren Hintergrund sich das Geflimmer all der Ereignisse abspielt, denen unsere Aufmerksamkeit eigentlich gehört. Und doch ist die Unruhe immer da gewesen. Die übliche Delegation des Problems an die fachwissenschaftlichen Experten ist deshalb, wie ich meine, im gegebenen Fall nicht angebracht. Im Fall der Unruhe sind wir alle Experten – Kenner und Komplizen zugleich.

Die Frage ist also: Wie sind wir in diese moralische, in diese einerseits gefeierte, andererseits beklagte Unruhe hineingekommen? Wie, auf welchen Wegen und aufgrund welcher Erwartungen ist die westliche Kultur dazu übergegangen, überlieferte Regeln als Reglementierungen, Hemmungen als Hindernisse, Bindungen als Behinderungen, Vereinbarungen als Fesselungen zu kommunizieren, die es je eher desto besser aus dem Weg zu räumen gilt? Kurz: Wie ist es zugegangen, dass wir, obgleich wir offensichtlich an ihr leiden, zu Enthusiasten der Unruhe geworden sind?

Anders als jene repräsentativen Werte, wie sie bei offiziellen Anlässen, in Festreden und Grundsatzerklärungen angeführt werden, ist die Unruhe in den Kellerregionen des halb Gewussten und halb...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Arbeit • Beschleunigung • Coolness • Entwicklung • Essay • Faulsein • Flexibilität • fließen • Gelassenheit • Kain • Krise • Kritik • Kultur • Langeweile • Maß • Mode • Muße • Neugierde • Paradies • Ruhe • Schicksal • Sitzen • Stillstand • Trägheit • Umherirren • Unbehagen • Unruhe • Veränderung • Warten • Zerstreuung
ISBN-10 3-10-403813-9 / 3104038139
ISBN-13 978-3-10-403813-1 / 9783104038131
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