Die Schrecken der Nacht (eBook)
368 Seiten
Atlantik Verlag
978-3-455-17140-2 (ISBN)
James Runcie, geboren 1959, ist ein britischer Autor, Fernsehproduzent, Theaterregisseur, Dokumentarfilmmacher und seit 2009 Intendant des Bath Literature Festivals. Sein Vater war Erzbischof von Canterbury, aber nicht detektivisch tätig. Runcie lebt mit seiner Frau in Edinburgh. Einige der Geschichten um Sidney Chambers wurden für das britische Fernsehen verfilmt. Im Atlantik Verlag erschien zuletzt Die Vergebung der Sünden(2019).
James Runcie, geboren 1959, ist ein britischer Autor, Fernsehproduzent, Theaterregisseur, Dokumentarfilmmacher und seit 2009 Intendant des Bath Literature Festivals. Sein Vater war Erzbischof von Canterbury, aber nicht detektivisch tätig. Runcie lebt mit seiner Frau in Edinburgh. Einige der Geschichten um Sidney Chambers wurden für das britische Fernsehen verfilmt. Im Atlantik Verlag erschien zuletzt Die Vergebung der Sünden(2019).
Cover
Titelseite
Widmung
Die Schrecken der Nacht
Liebe und Brandstiftung
Mörderische Ostern
Der Hattrick
Das Unschärfeprinzip
Ein Treffen in Berlin
Über James Runcie
Impressum
Die Schrecken der Nacht
Wenn der Tag über dem Dorf Grantchester sich verabschiedet, schüren seine Bewohner Feuer im Kamin, ziehen die Vorhänge zu und versperren die Türen vor der gefährlichen Dunkelheit. Die Schwärze dort draußen ist ein memento mori, ein nächtlicher Bote aus jenem düsteren Land, von dem kein Reisender je zurückkehrt.
Doch Canon Sidney Chambers verspürte keine Angst. Er mochte Winternächte. Es war der 8. Januar 1955. In der Ferne lag Cambridge wie zweidimensional unter dem trügerischen Zauber des Mondes. Die Silhouetten der Collegegebäude wirkten vor dem dunkelnden Himmel wie aus einem Märchenbuch und ließen Sidney an gefangene Prinzessinnen denken, an Ritter, die in gefährlichem Auftrag durch die Wälder unterwegs waren, und an Holzfäller, die Nachschub für die Feuerstellen der großen mittelalterlichen Hallen heranschleppten. Der Fluss Cam war zu Eis erstarrt, in dem abgebrochene Äste, verstreute Zweige und welkes Laub steckten. Auf dem Geländer der Clare Bridge saßen runde weiße Kugeln, die aussahen wie Schneebälle eines Riesen. Südlich davon, jenseits des weiß überpuderten Rasens, leuchtete der Schnee auf dem Dach und den Türmchen der King’s College Chapel in einem intensiven Weiß. Der Wind jagte um das alte Gemäuer und wehte weiße Schwaden auf die Gesimse und Fensterkreuze. Die Bleiglasfenster wirkten düster und schienen auf etwas zu warten – eine neue Reformation vielleicht, einen Luftangriff oder gar das Ende der Welt. Nur hin und wieder drang ein Geräusch durch die Stille der Nacht – ein Auto fuhr vorbei, ein Betrunkener krakeelte, man hörte die Schritte der Aufseher, die ihre Runden machten. In Corpus Christi, Sidneys College, hingen Eiszapfen an den Regenrinnen, und dicke Schneeplatten rutschten von den Traufen des Old Court. An den Geländern lehnten Fahrräder mit vom Raureif überpuderten Speichen. Es war ein Abend, an dem man die Vorhänge zuzog, sich einen Grog machte und im Lieblingssessel am Kamin ein gutes Buch las, den treuen Hund zu Füßen.
Sidney hatte sich mit seinem Freund Inspector Keating im Eagle zwei Bier gegönnt und war jetzt auf dem Heimweg. Es war nach zehn, und die meisten Studenten saßen in ihren Colleges fest. Bis Mitternacht erhielten sie nach Zahlung einer Verspätungsgebühr noch Einlass durch den Pförtner, danach kamen sie auf legalem Wege nicht mehr in ihre Häuser. Wer in den frühen Morgenstunden auf sein Zimmer wollte, musste sich als Fassadenkletterer betätigen. Sidney hatte als Student einmal diesen Weg gewählt – etwa zehn Jahre bevor er Pfarrer von Grantchester geworden war, war er von der Free School Lane über den Zaun an der St. Bene’t’s Church, an einer Regenrinne hoch, über die Dächer und das Gewächshaus und durch ein offenes Fenster der Master’s Lodge geklettert. Kurz nach diesem Abenteuer hatte Sidney erfahren, dass die Route bekannter war, als er geahnt hatte, und dass Sophie, die Tochter des Rektors, häufig ihr Fenster offen ließ in der Hoffnung auf ein kleines nächtliches Techtelmechtel. Das verbotene Nachtklettern galt als großer Jux und war in Cambridge zum Sport geworden. Zwiebeln wurden über das Schrägdach der theologischen Fakultät gerollt, Regenschirme auf dem schwankenden Turm der Old Library deponiert, und ein kanadischer Student in King’s arbeitete an dem Plan, eine Ziegenherde auf sein Collegedach zu treiben.
Die Gefahr, entdeckt und früher oder später relegiert zu werden, hatte Sidney davon abgehalten, sich weiter an solchen Aktivitäten zu beteiligen, aber Gerüchte über tollkühne Gebäudekletterer waren nach wie vor ein großes Thema in den Gemeinschaftsräumen der Colleges. Die Hochschulbehörde hatte die nächtlichen Patrouillen verstärkt, aber die Studenten setzten noch immer im Namen von Freiheit und Abenteuer ihr Studium aufs Spiel und berieten sich flüsternd darüber, wie sich am besten ein Foto schießen ließe, während sie das Great Gate in Trinity, den New Tower von St. John’s oder die Nordfassade von Pambroke erklommen.
Die größte Herausforderung für die Gipfelstürmer waren die vier achteckigen Türme der King’s College Chapel. In dieser Nacht führte Valentine Lyall, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Corpus, eine Expedition auf einen der Türme an, was fatale Folgen haben sollte.
Sidney horchte auf, als er auf der King’s Parade einen Tumult hörte, und bog von der Bene’t Street nicht wie gewohnt nach links, sondern nach rechts ab. Lyall war einer der bekanntesten Kletterer an der Hochschule. In seiner Begleitung befanden sich Kit Bartlett, sein Doktorand, ein blonder, durchtrainierter Cambridge Blue, und Rory Montague, ein eher untersetzter Student im dritten Jahr, der die Expedition mit der Kamera für die Nachwelt festhalten sollte.
Alle drei trugen Rollkragenpullover und Turnschuhe. Die Klettertour sollte in zwei Phasen vor sich gehen – von der Straße bis zum Dach und vom Dach auf den Nordostturm. Lyall übernahm die Führung, indem er seine Hände zwischen die Befestigungsklemmen des Blitzableiters schob und sich nach oben zog. Über die Schulter hatte er sich zwei Seilrollen gehängt. Mit den Füßen stemmte er sich gegen die Wand.
Die Studenten folgten mit Taschenlampen und schoben sich nach kurzer Pause auf einem breiten abschüssigen Sims zwischen zwei Wänden hoch. Der steinerne Flansch, gegen den sie die Füße stemmten, war zehn Zentimeter breit. Sidney sah, wie einer der Kletterer innehielt und zu dem schmiedeeisernen Gitter heruntersah. Er befand sich fünfzehn Meter über dem Boden und hatte noch zwölf vor sich.
Die Aufseher waren schon zur Stelle. »Kann ihnen jemand nachgehen?«, fragte Sidney.
»Das wäre lebensgefährlich«, hieß es. »Wir notieren die Namen, wenn sie runterkommen. Kann sein, dass sie gar nicht aus diesem College sind. Vermutlich haben sie sich versteckt gehalten, während die Pförtner ihre Runde machten. Das muss aufhören, Canon Chambers. Für die da oben mag es ein Jux sein, aber uns gibt man die Schuld.«
Die Kletterer versammelten sich am Sockel des achteckigen Turmes, der in sechs Stufen vom Dach aufragte. Die ersten Abschnitte boten keine größeren Schwierigkeiten, denn das steinerne Maßwerk bot genug Haltegriffe, aber danach wurde es kritisch. Lyall umrundete den Sockel und entdeckte über dem ersten Überhang mehrere Lücken in einer Kreuzrose, die er wie eine kurze Leiter nutzen konnte. Er war jetzt über dreißig Meter vom Boden entfernt.
Er kletterte weiter bis zu dem schachbrettartigen Mauerwerk knapp unter der Spitze. »Vorsicht, Leute«, rief er den anderen zu, »das Gemäuer hier ist mürbe. Seht zu, dass ihr an drei Stellen Halt habt, mit zwei Händen und einem Fuß oder einer Hand und beiden Füßen.«
Rory Montague verlor die Nerven. Am zweiten Überhang merkte er, dass er über fünfzehn Zentimeter keinen Halt mit den Händen hatte. »Das schaffe ich nicht«, erklärte er.
Bartlett redete ihm gut zu. »Nicht aufgeben. Nimm die Knie zu Hilfe. Halt dich dicht an den Stein. Lehn dich nicht zurück.«
»Ich werde mich hüten.«
»Es sind nur noch drei Meter.«
Lyall war schon auf dem zweiten Überhang. »Wir brauchen ein Foto.«
»Nicht jetzt«, zischte Bartlett.
»Hilfe!« rief Montague. »Ich komme nicht weiter.«
»Schau nicht nach unten.«
»Es ist stockfinster.«
Lyall leuchtete ihm mit der Taschenlampe. »Halt dich rechts, da ist eine Regenrinne.«
»Und wenn sie nachgibt?«
»Wird sie schon nicht.«
»Sie hört aber vor der Brüstung auf.«
»Dann sind es nur noch zwanzig, dreißig Zentimeter.«
»Ich brauche das Seil«, rief Montague hoch.
»Moment.« Lyall hatte die letzte Brüstung erreicht, hielt sich mit beiden Händen daran fest und zog sich hoch, bis er mit den Füßen die oberste Spalte im Mauerwerk erreichen konnte.
Bartlett folgte, und die beiden warfen das Seil nach unten. Montague fing es auf und machte sich an die letzte Steigung.
Sidney war ein Stück an der Nordseite des Kirchenschiffs weitergegangen, um besser sehen zu können. Schnee fiel ihm in die Augen, während die fernen Gestalten dort oben vor dem Licht des Mondes und der Taschenlampen wie Schattenrisse wirkten. »Wenn sie fallen, gibt es nichts, was sie auffangen könnte«, sagte er.
»Die fallen nie«, sagte einer der Aufseher.
»Der Abstieg ist bestimmt noch schwieriger«, vermutete Sidney.
»Wenn sie erst mal zurück auf dem Dach sind, gehen sie innen durch – das heißt wenn sie einen Schlüssel haben, und das ist ihnen zuzutrauen.«
»Und Sie warten dann unten?«
»Unterm Dach können sie sich verstecken, bis sie glauben, dass die Luft rein ist. Letztes Jahr waren zwei stundenlang drin. Da haben wir einfach das Treppenhaus von außen versperrt und gewartet, bis der Hunger sie uns in die Arme getrieben hat.«
»Einen anderen Fluchtweg gibt es nicht?«
»Bisher hat niemand einen gefunden.«
Der Wind hatte sich gelegt. Lyall gab Rory Montague Anweisungen für den Abstieg: »Halt dich am Seil fest und lass dich langsam herunter. Stütz dich mit den Füßen an der Rosette ab und halt dich dann links. Da sehen wir dich zwar nicht, aber wir spüren dich.«
Alles lief gut, bis Montague mit einem Fuß ins Leere trat. »Mist!« Er stieß sich von der Wand ab und hing nun mit dem ganzen Gewicht am Seil.
»Was zum Teufel machst du da?«, rief Lyall.
»Ich hab keinen Halt mehr für die Füße.«
»Nimm eine Hand zu Hilfe, ich kann nicht dein ganzes Gewicht halten.«
»Ich brauche beide Hände am Seil, mit einer schaffe ich es...
| Erscheint lt. Verlag | 11.4.2017 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Die Grantchester Mysteries Reihe |
| Übersetzer | Renate Orth-Guttmann |
| Verlagsort | Hamburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
| Schlagworte | Cambridge • Detektiv • England • Ermittler • Grantchester • Hobbydetektiv • Hobbyermittler • Krimi • Kriminalfall • Kriminalroman • Krimireihe • Krimiserie • Landhauskrimi • Pfarrer • Spannungsroman • Verbrechen • Weihnachtskrimi |
| ISBN-10 | 3-455-17140-0 / 3455171400 |
| ISBN-13 | 978-3-455-17140-2 / 9783455171402 |
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