Dark Matter. Der Zeitenläufer (eBook)
416 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-17142-1 (ISBN)
Blake Crouch hat sich bereits als erfolgreicher Autor von Kurzgeschichten und Spannungsromanen einen Namen gemacht. Seine »Wayward Pines«-Trilogie wurde zudem mit verschiedenen Hollywoodstars als TV-Serie verfilmt. Der große internationale Durchbruch gelang ihm dann mit dem Roman »Dark Matter. Der Zeitenläufer«, der auf Anhieb zum Bestseller und in zahlreiche Länder verkauft wurde. Blake Crouch lebt mit seiner Familie in Colorado.
ZWEI
Ich spüre, dass mich jemand an den Füßen packt.
Während Hände sich unter meine Achseln schieben, sagt eine Frau: »Wie hat er es aus dem Würfel geschafft?«
Ein Mann antwortet: »Keine Ahnung. Schau, er kommt zu sich.«
Ich öffne die Augen, nehme aber nichts als verschwommene Bewegungen wahr. Und Licht.
Der Mann bellt: »Bringt ihn verdammt noch mal hier raus.«
Ich will etwas sagen, aber die Worte fallen mir wirr und formlos aus dem Mund.
Die Frau sagt: »Dr. Dessen? Können Sie mich hören? Wir werden Sie jetzt auf eine Liege heben.«
Ich schaue zu meinen Füßen, und das Gesicht des Mannes rückt in mein Blickfeld. Er starrt mich durch das Sichtfenster eines Schutzanzugs mit Atemluftversorgung an.
Zu der Frau hinter meinem Kopf sagt er: »Eins, zwei, drei …«
Sie heben mich auf eine Krankentrage und fixieren mich mit gepolsterten Gurten an Handgelenken und Fußknöcheln.
»Nur zu Ihrem Schutz, Dr. Dessen.«
Dreizehn oder fünfzehn Meter über mir sehe ich die Decke vorbeiziehen.
Wo zum Teufel bin ich? In einem Hangar?
Eine Erinnerung blitzt auf – eine Nadel, die in meinen Hals eindringt. Mir wurde etwas injiziert. Das hier ist irgendeine verrückte Halluzination.
Aus einem Funkgerät krächzt es: »Bergungsteam, bitte melden. Ende.«
Die Frau sagt mit aufgeregter Stimme: »Wir haben Dessen. Wir sind unterwegs. Ende.«
Ich höre das Quietschen rollender Räder.
»Verstanden. Erste Zustandseinschätzung? Ende.«
Die Frau greift nach unten, sie trägt Latexhandschuhe und aktiviert irgendein Messinstrument, das mir mit Klettverschluss um den linken Arm geschnallt wurde.
»Puls: hundertfünfzehn. Blutdruck: hundertvierzig zu zweiundneunzig. Temperatur: siebenunddreißig Komma sechzehn. Sauerstoffsättigung: fünfundneunzig Prozent. Gamma: null Komma siebenundachtzig. Geschätzte Ankunftszeit: dreißig Sekunden. Ende.«
Ein Summen erschreckt mich.
Wir gehen durch eine langsam sich öffnende Doppeltür, die aussieht wie eine Tresortür.
Mein Gott.
Bleib ruhig. Das ist alles nicht real.
Die Räder quietschen schneller, drängender.
Wir sind in einem mit Plastik ausgekleideten Korridor, gegen das gleißende Licht der Neonröhren an der Decke muss ich die Augen zukneifen.
Die Türen knallen hinter uns mit einem unheilvollen Scheppern zu, wie die Tore eines Gefängnisses.
Man schiebt mich in einen Operationssaal in Richtung einer eindrucksvollen Gestalt, die tatsächlich einen Druckanzug trägt und unter einer Reihe von Operationslampen steht.
Er lächelt mich durch sein Sichtfenster an und sagt, so als würde er mich kennen: »Willkommen zurück, Jason. Meinen Glückwünsch. Sie haben es geschafft.«
Zurück?
Ich kann nur seine Augen sehen, aber sie erinnern mich an niemanden, den ich je getroffen habe.
»Spüren Sie irgendwelche Schmerzen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Wissen Sie, woher Sie die Schnitte und Quetschungen in Ihrem Gesicht haben?«
Kopfschütteln.
»Wissen Sie, wer Sie sind?«
Ich nicke.
»Wissen Sie, wo Sie sind?«
Kopfschütteln.
»Erkennen Sie mich?«
Kopfschütteln.
»Ich bin Leighton Vance, Vorstandsvorsitzender und medizinischer Leiter. Wir sind Kollegen und Freunde.« Er hält eine chirurgische Schere in die Höhe. »Ich muss Sie aus diesen Sachen schneiden.«
Er entfernt das Messinstrument, macht sich über meine Jeans und die Boxershorts her und wirft sie in einen Metallbehälter. Während er mein Hemd aufschneidet, starre ich in die Lampen, die auf mich herunterbrennen, und versuche, nicht in Panik zu geraten.
Aber ich bin nackt und auf eine Bahre geschnallt.
Nein, sage ich mir, ich halluziniere nur, dass ich nackt und auf eine Bahre geschnallt bin. Nichts von dem hier ist real.
Leighton nimmt den Behälter mit meinen Schuhen und meiner Kleidung und gibt ihn jemandem hinter mir, den ich nicht sehen kann. »Alles untersuchen.«
Ich höre Schritte, eilige Schritte.
Eine Sekunde bevor Leighton meinen Unterarm desinfiziert, registriere ich den scharfen Geruch von Isopropylalkohol.
Er zurrt eine Aderpresse knapp über meinem Ellbogen fest.
»Ich nehme nur ein bisschen Blut ab«, sagt er und nimmt eine Spritze mit großer Nadel von der Instrumentenschale.
Er ist gut. Ich spüre nicht einmal den Einstich.
Danach schiebt Leighton die Krankentrage zu einer Glastür am anderen Ende des Operationssaals. An der Wand daneben ist ein Touchscreen befestigt.
»Gerne würde Ihnen sagen, dass jetzt der angenehme Teil kommt«, sagt er. »Wenn Sie zu desorientiert sind, um sich an das zu erinnern, was gleich passieren wird, ist das wahrscheinlich das Beste.«
Ich möchte nachfragen, aber mir fehlen noch immer die Worte. Leightons Finger wirbeln über den Touchscreen. Die Glastür geht auf, und er schiebt mich in eine Kammer, die gerade groß genug für die Trage ist.
»Neunzig Sekunden«, sagt er. »Sie werden es überstehen. Es hat noch keinen der Probanden getötet.«
Ein pneumatisches Zischen ist zu hören, dann gleiten die gläsernen Türflügel zu.
In die Decke eingelassene Lampen verströmen ein kaltes Blau.
Ich verdrehe den Hals.
Die Wände zu beiden Seiten sind bedeckt mit einer komplexen Anordnung von Düsen.
Ein feiner, eiskalter Nebel strömt aus der Decke und hüllt mich vom Kopf bis zu den Zehen ein.
Mein Körper verspannt sich, auf meiner Haut bilden sich Tröpfchen, die gefrieren.
Während ich zu zittern anfange, beginnen die Wände der Kammer zu brummen.
Ein weißer Dampf tröpfelt mit einem anhaltenden Zischen aus dem Düsen, das lauter und immer lauter wird.
Der Dampf strömt.
Dann spritzt es.
Gegenläufige Strahlen prallen über mir zusammen und hüllen die Kammer in einen dichten Nebel, sodass ich die Deckenbeleuchtung kaum noch erkennen kann. Wo er meine Haut berührt, explodieren die gefrorenen Tropfen. Es ist eine einzige Qual.
Die Ventilatoren laufen nun gegenläufig.
Binnen fünf Sekunden ist das Gas aus der Kammer, in der sich ein merkwürdiger Geruch breitmacht, er erinnert mich an die Luft an einem Sommernachmittag kurz vor einem Gewitter – Blitze ohne Regen, Ozon.
Die Reaktion des Gases mit der eiskalten Flüssigkeit auf meiner Haut hat einen zischenden Schaum erzeugt. Er brennt, als würde ich mich in einem Säurebad befinden.
Ich ächze, reiße an den Gurten und frage mich, wie lange das noch so weitergehen soll. Meine Schmerzgrenze ist hoch, aber das hier liegt genau auf der Grenze zwischen Lass-es-aufhören und Bring-mich-um.
Meine Gedanken rasen mit Lichtgeschwindigkeit.
Gibt es überhaupt eine Droge, die so etwas zustande bringt? Die Halluzinationen und Schmerzen in einer solch entsetzlichen Klarheit hervorruft?
Alles erscheint zu intensiv, zu real.
Was, wenn es tatsächlich passiert?
Ist das irgendeine verdammte CIA-Scheiße? Bin ich in einer geheimen Klinik, in der man mit Menschen experimentiert? Wurde ich deswegen entführt?
Wunderbar warmes Wasser schießt mit der Wucht eines Feuerwehrschlauchs von der Decke und reißt den quälenden Schaum mit.
Das Wasser versiegt, und aus den Düsen strömt heiße Luft, die meine Haut trifft wie brennender Wüstenwind.
Der Schmerz verschwindet.
Ich bin hellwach.
Die Tür hinter mir geht auf, und die Trage, auf der ich liege, wird herausgezogen.
Leighton schaut auf mich herunter. »War doch gar nicht so schlimm, oder?« Er schiebt mich durch den Operationssaal in ein angrenzendes Patientenzimmer und löst die Haltegurte an meinen Füßen und Händen.
Er zieht sich Latexhandschuhe über und richtet mich auf der Trage auf. Mir wird schwindelig, und die Welt dreht sich, bevor schließlich alles wieder an die richtige Stelle rückt.
Er betrachtet mich.
»Besser?«
Ich nicke.
In dem Zimmer befinden sich ein Bett und eine Kommode, auf der ein Stapel ordentlich zusammengelegter Kleidungsstücke liegt. Die Wände sind gepolstert. Es gibt keine scharfen Kanten. Während ich an den Rand der Trage rutsche, fasst Leighton mich am Oberarm und hilft mir beim Aufstehen.
Meine Beine sind wie Gummi, nutzlos.
Er führt mich zum Bett.
»Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich anziehen können. Ich komme wieder, wenn ich die Laborergebnisse habe. Es wird nicht lange dauern. Ist es Ihnen recht, dass ich kurz rausgehe?«
Endlich finde ich meine Stimme wieder: »Ich verstehe nicht … ich weiß nicht, wo ich …«
»Die Desorientiertheit geht vorüber. Ich werde Ihren Zustand genau überwachen. Wir helfen Ihnen da durch.«
Er schiebt die Trage zur Tür, bleibt aber auf der Schwelle stehen und schaut durch sein Sichtfenster noch einmal zu mir. »Es ist wirklich gut, dich wiederzusehen, Bruder. Komme mir vor wie bei der Weltraummission, als Apollo 13 zur Erde zurückkehrte. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«
Die Tür schließt sich hinter ihm.
Drei Sperrriegel rasten ein, und es klingt wie drei Schüsse.
Ich stehe vom Bett auf und gehe auf unsicheren Füßen zur Kommode.
Ich bin so schwach, dass ich mehrere Minuten brauche, um die Sachen anzuziehen – eine ordentliche Hose, ein Leinenhemd, kein Gürtel.
Eine Überwachungskamera dicht über der Tür beobachtet mich.
Zurück zum Bett. Während ich in diesem sterilen, stillen Zimmer sitze, versuche ich meine letzte konkrete Erinnerung heraufzubeschwören. Allein der Versuch fühlt sich an, als würde ich drei Meter vom Ufer entfernt ertrinken. Ein paar Erinnerungsfetzen liegen noch auf dem Strand, und ich kann sie sehen, kann...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2017 |
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Übersetzer | Klaus Berr |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dark Matter |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | alternative realität • Dark Matter • Das Schwarze Buch • Der Marsianer • eBooks • Endlose Möglichkeiten • Physik • Quantenphysik • Schwarzes Buch • spiegel bestseller • Thriller • Unendlichkeit • unmögliche Liebe • Was wäre, wenn • Wissenschaft • zeitenläufer |
ISBN-10 | 3-641-17142-3 / 3641171423 |
ISBN-13 | 978-3-641-17142-1 / 9783641171421 |
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