Trutz (eBook)
500 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75092-6 (ISBN)
In seiner Chronik der Lebensläufe zweier Familien bündelt Christoph Hein die vergebliche Hoffnung auf eine Existenz in Freiheit. Ihm ist ein Jahrhundertroman gelungen: ein Jahrhundert umgreifend, ein Jahrhundert widerspiegelnd, ein Jahrhundert verstehbar zu machen und nachzuerleben.
»In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit.« Mit diesem Satz beginnt eine Recherche über zwei Männer, über den Schriftstellers Rainer Trutz und Waldemar Gejm, einen Professor für Mathematik und Linguistik an der Lomonossow-Universität, der seit Jahren ein neues Forschungsgebiet entwickelt: die Mnemotechnik, die Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung. Doch der Nationalsozialismus in gleicher Weise wie der Stalinismus werden Trutz wie Gejm sehr bald zum Verhängnis: Der Deutsche, aus Nazideutschland geflohen, wird in einem sowjetischen Arbeitslager erschlagen. Die Umschwünge der Politik des Genossen Stalin führen im Falle Gejm zur Deportation mit anschließendem Tod. Nur die beiden Söhne, Maykl Trutz und Rem Gejm, überleben und begegnen sich Jahrzehnte später, im wiederhergestellten Deutschland und machen fast dieselben Erfahrungen wie ihre Väter ...
<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle <em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind <em>Spiegel</em>-Bestseller.</p>
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut. Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.
In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit. Ich wollte mir eine längere Fahrt mit der S-Bahn ersparen, gleichzeitig die Chance nutzen, eine der Direktorinnen des Bundesarchivs Lichterfelde in einem kleinen Kreis ansprechen zu können, ohne in ihrem Archiv offiziell um einen Gesprächstermin zu bitten, eine Bitte, die man mir dort möglicherweise abschlagen würde.
Im Gebäude der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur war eine Veranstaltung zur wechselvollen Geschichte der deutsch-russischen Verhältnisse im letzten Jahrhundert unter dem Titel Feindliche Freunde für den zwölften Februar angekündigt. Eine stellvertretende Direktorin des Bundesarchivs wollte über neue, in ihren Besitz gelangte Dokumente zu dieser leidvollen Beziehung sprechen. Das Thema interessierte mich nur am Rande, ich war mit anderen Dingen beschäftigt, aber die Möglichkeit, eine leitende Dame des Bundesarchivs in einer, wie ich hoffte, kleinen Runde zu treffen, verlockte mich, an jenem Montagnachmittag in die Kronenstraße zu gehen, mir ihre Ausführungen scheinbar interessiert anzuhören, um sie dann mit einem Anliegen zu belästigen, mit einer Anfrage, worüber nur eine Person der oberen Etage des Bundesarchivs eine Entscheidung fällen konnte.
Ich war seit mehr als einem Jahr dabei, die seltsamen Umstände des Todes eines Terroristen zu erhellen, der von einer Hundertschaft Grenzpolizisten ergriffen werden sollte, dabei durch eine Kugel ums Leben kam, doch war trotz mehrerer Prozesse nie aufzuklären, wer den tödlichen Schuss abgegeben hatte, der Gesuchte selbst oder einer der Beamten. Die Staatsanwälte und Richter mussten eine Hundertschaft von Grenzpolizisten befragen sowie, ungeachtet ihrer Amtsgewalt und der Befugnis, von allen Behörden Auskunft notfalls zu erzwingen, und trotz ihrer Unabhängigkeit, die Aussagen der einhundert Grenzpolizisten, die den Auftrag hatten, einen des Terrorismus Verdächtigen festzunehmen, hinnehmen, dass von diesen einhundert Beamten in dem Augenblick, wo der Verdächtige durch eine Pistolenkugel starb, nicht ein einziger zu dem Festzunehmenden blickte, sondern alle abgelenkt waren und daher nichts bezeugen konnten. Vor Gericht konnte sich keiner der Grenzpolizisten an den genauen Ablauf erinnern, und die Beteiligten sagten aus, sie hätten in dem Moment, als der Schuss fiel, woanders hingeschaut. Alle mit dem Fall befassten Gerichte mussten sich trotz erheblicher Bedenken mit diesen Auskünften und einem non-liquet, der Feststellung der Beweislosigkeit, zufriedengeben. Einen Tag nach dem tödlichen Schuss trat der Innenminister zurück, zwei Tage später wurde der Generalbundesanwalt entlassen. Der Rücktritt, so wurde der Öffentlichkeit mitgeteilt, erfolge aus persönlichen Gründen, die Entlassung stehe in keinem Zusammenhang mit dem vom Gericht aufzuklärenden Geschehen. Eine vom Gericht beantragte Vernehmung des zurückgetretenen Ministers wie des entlassenen Bundesanwalts unterblieb, da beiden Personen die Aussagegenehmigung verweigert wurde.
Gern wäre ich im Amtszimmer des Richters dabei gewesen, als er in der Gerichtsakte die Einstellung des Verfahrens gegen die Beschuldigten wegen Nichterweislichkeit einer Beweisbehauptung notierte, als er sein non-liquet eintrug, es ist nicht klar. Zwei der mit diesem Fall befassten Richter waren bereit, mit mir zu sprechen, beide waren mittlerweile pensioniert, doch sie vermochten keine zusätzlichen Fakten und Hintergründe zu benennen, die über die in den Gerichtsakten festgehaltenen hinausgingen. Einer der Ruheständler sagte, in keinem seiner Prozesse sei er entwürdigender vorgeführt worden, der Staat habe zugelassen, dass seine garantierte Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive zur Farce verkam.
Ich war als Mann ohne jede Amtsgewalt chancenlos und hatte keinerlei Aussicht, mehr Licht als die Staatsanwälte und Richter in dieses Dunkel zu bringen, hoffte jedoch, im Bundesarchiv in der Finckensteinallee ein paar Akten zu finden, die weiterhelfen könnten, aber gleichzeitig wusste ich, dass ich dort sehr gute, sehr gewichtige Gründe vorbringen musste, damit man mir eine solche Akteneinsicht gewährte. Ein freundliches Gespräch und viel Charme würde mir eventuell die so sorgsam verschlossene Tür öffnen. Da der Schlüssel für diese Tür in der Direktionsetage lag, musste ich dahin vordringen, und nur deswegen ging ich an jenem Montag zu diesem mich wenig interessierenden Vortrag. Ich war sogar eine halbe Stunde früher in dem prachtvollen Gebäude in der Hoffnung, die hohe Dame vielleicht vor ihrem Referat sprechen zu können.
Tatsächlich sah ich sie im Foyer der Stiftung, einen Prosecco in der Hand, plauderte sie mit der Gastgeberin. Als diese ihr das leere Glas abnahm, um es zum Tresen zu bringen, stellte ich mich vor und sprach kurz mein Anliegen an. Die Gastgeberin kam zurück, die Archivchefin entschuldigte sich und bat darum, bis nach der Veranstaltung zu warten, um ihr dann meinen Wunsch zu erläutern. Beide Damen verschwanden hinter einer Tür.
Die neuen Dokumente, die die Archivarin dem Publikum mit Overheadfolien präsentierte, erschienen mir belanglos. Es waren keine sensationellen Erkenntnisse, die eine Neubewertung der geschichtswissenschaftlichen Sicht auf das letzte Jahrhundert erforderlich machten, und was daran unbekannt war, überraschte nicht, sondern blieb im Rahmen des Erwartbaren.
Die Zuhörer folgten den Ausführungen mäßig interessiert. Ein älterer Herr, er saß eine Reihe vor mir, zwei Stühle weiter, schien der Einzige zu sein, der genau zuhörte und von ihrer Rede gefesselt war, jedenfalls schrieb er ununterbrochen mit und füllte die Seiten eines Schreibblocks für Stenotypisten. Die Gastgeberin, die Hausherrin der Stiftung, erhob sich nach dem Vortrag, applaudierte stehend, dankte der Archivarin und fragte, ob es Fragen oder Wortmeldungen gäbe. Da sich niemand meldete, wollte sie die Veranstaltung mit einer Einladung für alle Anwesenden zu einem Glas Prosecco, Saft oder Wasser beenden, als der ältere Herr aufstand und um das Wort bat.
Die beiden Damen am Podium nickten erfreut und forderten ihn auf zu sprechen.
»Verzeihung, aber es waren einfach zu viele Fehler in Ihrem Vortrag, verehrte Dame«, begann er und listete dann acht oder neun gravierende Unstimmigkeiten auf.
Die Referentin wurde abwechselnd blass und rot während seiner Bemerkungen, dann fasste sie sich und sagte, als der Mann zum Schluss kam und sich wieder hinsetzte, erkennbar erregt, der Herr würde sich irren, alle Daten und Fakten wären kontrolliert worden, Archivare würden, bevor sie die kleinste Kleinigkeit herausgeben, alles wieder und wieder überprüfen.
Die Frau neben mir murmelte etwas von einem Klugscheißer, der sich wichtig machen wolle, und die Hausherrin sagte, um die Referentin zu beruhigen, lächelnd, es sei bei ihrer Stiftung an der Tagesordnung, dass nicht alle Besucher mit den Ausstellungsexponaten oder den wissenschaftlichen Referaten einverstanden seien. Es gebe halt die Ewiggestrigen, die einem untergegangenen Staat nachtrauerten und sich daher gegen die ihnen unangenehme Wahrheit sperren.
»Ich trauere einigen Menschen nach, ja, einigen von ihnen sogar sehr«, widersprach ihr der ältere Herr, der sich erneut erhoben hatte, »jedoch gewiss keinem untergegangenen Staat, keinem einzigen. Aber die Wahrheit muss bleiben, und für Sie, eine Archivarin, sollte nichts als die Wahrheit zählen. Sie können meine Korrekturen überprüfen, alle. Einige sogar hier, auf der Stelle. Ich sehe, Sie haben den großen Schmitz auf Ihrem Tisch liegen, diesem Standardwerk werden Sie wohl keine Schnitzer unterstellen. Lesen Sie dort die Ausführungen zum Militärgeld. In der DDR wurde es erst 1980 gedruckt, aber nie verwandt, das vergleichbare Geheimgeld der Bundesrepublik druckte man Anfang der sechziger Jahre und stellte diese Aktion 1981 ein.«
Die Gastgeberin versuchte ihn zu unterbrechen: »Sehr geehrter Herr, ich hatte die Veranstaltung bereits beendet. Wir können das ja alles bei einem Glas besprechen.«
»Nein, bitte schlagen Sie den Schmitz auf. Seite vierhundertzweiunddreißig, der letzte Absatz, schauen Sie es sich an. Lesen Sie es bitte vor.«
Verärgert und irritiert schlug die Referentin das vor ihr liegende Buch auf und blätterte darin.
»Seite vierhundertzweiunddreißig«, wiederholte der Mann, »unten, der letzte Absatz. Lesen Sie bitte die Zeilen vor.«
Hochrot gestand die Archivarin, wohl einen Fehler gemacht zu haben, doch der ältere Herr gab keine Ruhe und sagte, mit Hilfe des großen Schmitz könnte sie gleich noch einen weiteren Irrtum korrigieren, denn nach dem Geheimen Zusatzprotokoll im deutsch-sowjetischen ...
Erscheint lt. Verlag | 26.3.2017 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bücher Bestseller 2017 • Familie • Gedächtnistraining • Jahrhundertroman • Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 • Mitteleuropa • Nationalsozialismus • Neurolinguistik • Prix du Meilleur livre étranger 2019 • romane bestseller 2017 • Russland • Samuel-Bogumił-Linde-Preis 2019 • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • spiegel bestsellerliste • ST 4864 • ST4864 • suhrkamp taschenbuch 4864 |
ISBN-10 | 3-518-75092-5 / 3518750925 |
ISBN-13 | 978-3-518-75092-6 / 9783518750926 |
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