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Goodbye, Moskau (eBook)

Betrachtungen über Russland
eBook Download: EPUB
2017
224 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-20075-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Goodbye, Moskau - Wladimir Kaminer
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Wladimir Kaminer blickt anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution auf seine alte Heimat und sieht ein Land auf der Suche nach sich selbst. Das kommunistische Experiment ging unter dem Applaus der freien Welt zu Ende, die Menschen aber sind noch da, und sie brauchen eine Perspektive. Der Kapitalismus lockt als neues Erfolgsmodell, doch die Russen suchen unter der harten Sonne des Kapitals vergeblich nach einem schattigen Plätzchen. Überall liegen bereits die Handtücher anderer Länder. Statt Wohlstand, Fortschritt und Freiheit regieren Repression und Angst. Die politische Führung unter Putin beherrscht zwar die alten Techniken des Machterhalts, aber keine zur Gestaltung der Zukunft. Vorbei an Europa hat sie den Weg in die Vergangenheit und die Isolation eingeschlagen. Mehr als genug Stoff also für eine liebevoll verzweifelte Auseinandersetzung mit Russland.

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

Krim

Es geschah schnell und für die Welt überraschend: Plötzlich erschien meine alte Heimat auf den Titelseiten europäischer Zeitungen und zwar in der alten Rolle als Imperium des Bösen. Sie hat einen Teil der Ukraine verschluckt, die Halbinsel Krim, ohne lange daran zu kauen. Der russische Präsident sagte, die Ukraine sei selbst schuld, sie hätte Russland provoziert, mit ihrer Krim direkt vor seiner Nase gewedelt und gedroht, sehr bald in Richtung EU zu verschwinden.

Zwei Monate zuvor hatte der ukrainische Präsident ein Assoziierungsabkommen mit Europa unterschreiben wollen. Der russische Kollege bat ihn höflich und diskret, dies nicht zu tun. Der ukrainische Präsident geriet zwischen zwei Stühle. Er hatte dem Volk das Wahlversprechen gegeben, das Land in Europa zu integrieren. Er konnte auf dieses Abkommen daher nicht verzichten, hatte jedoch Angst, den mächtigen Nachbarn Russland zu verärgern. Er trickste hin und her und unterschrieb nicht. Das aufgebrachte Volk fühlte sich von seinem Präsidenten verraten, versammelte sich auf dem zentralen Platz der Hauptstadt und ging den ganzen Winter hindurch nicht nach Hause. Die Menschen standen trotz Kälte, Drohungen und der Angriffe der Polizei vor dem Parlament. Steine flogen, es wurde mit scharfer Munition in die Menge geschossen, brennende Autoreifen verpesteten die Luft.

»Hau ab, wir wollen dich nicht! Geh zu deinem Freund nach Russland, du Verräter!«, skandierten die Bürger auf dem Platz.

Der ukrainische Präsident fühlte sich in seiner Residenz nicht mehr sicher und war mit den Nerven am Ende. Der Job machte ihm keinen Spaß mehr. Er beschloss zu flüchten, packte in Eile, nahm nur das Nötigste mit und brach mit zehn LKWs und zwei Hubschraubern Richtung Russland auf. Die Ukrainer feierten den Sieg der Revolution. Eine Übergangsregierung wurde gebildet, die Neuwahlen anordnete, welche drei Monate später stattfinden sollten. Da nutzte der russische Präsident das Durcheinander beim Nachbarn und nahm die Krim ein. Während die Ukrainer sich mit der Vorbereitung ihrer Neuwahlen beschäftigten, besetzten über Nacht schweigsame höfliche Menschen mit Maschinengewehren und in den Uniformen der russischen Armee, aber ohne Abzeichen, die Halbinsel. Niemand wurde verletzt, es wurde kaum geschossen. In der gleichen Woche wurde ein Referendum auf der Krim angekündigt. Dabei sprachen sich um die 100 % der Bevölkerung dafür aus, zu Russland statt zur Ukraine gehören zu wollen, in manchen Städten waren es sogar 120 %. Der russische Präsident strahlte im Fernsehen Selbstbewusstsein aus und wies jede Kritik an seinem Vorgehen zurück.

»Die Krim war schon immer Teil unseres Landes gewesen«, erzählte er. Die Tatsache, dass sie zur Ukraine gehörte, bezeichnete er als »historisches Missverständnis«. Er bestritt, irgendwelche Soldaten auf die Krim entsandt zu haben. Die höflichen Uniformierten mit Gewehren seien bloß besorgte Krimbewohner, die sich ihre Uniformen selbst genäht oder in Bekleidungsgeschäften gekauft hätten, meinte er. Gleichzeitig erklärte das russische Fernsehen, dass die Krimbewohner schon immer furchtbar gelitten und sich seit sechzig Jahren geschämt hätten, Ukrainer zu sein, wo sie doch in Wirklichkeit Russen waren und sind.

»Wir wollen russische Werte und russische Rente«, sagten unbewaffnete Krimbewohner. Die bewaffneten Zugezogenen schwiegen höflich und nickten solidarisch. Die Russen feierten die Rückeroberung überschwänglich, große Kundgebungen fanden auf dem Roten Platz statt. »Die Krim gehört uns«, jubelten die Gemäßigten. »Heute die Krim, morgen der Rest der Welt«, setzten die Radikalen einen drauf.

Später gab der Präsident zu, er habe ein wenig gelogen. Es seien schon einige russische Spezialeinheiten als Friedensmissionare auf der Krim.

»Manchmal muss jeder Politiker eine Unwahrheit sagen, das gehört zum politischen Geschäft«, erklärte der russische Präsident. »Die Westler sind doch bloß Heuchler, sie lügen selbst wie geschmiert. Wer es nicht tut, soll als Erster den Stein werfen. Ich sage aber gleich, ich werfe zwei zurück. Wer ist ohne Sünde? Vortreten!«

Die Welt regte sich noch ein wenig auf und ließ den merkwürdigen Mann dann in Ruhe. »Es sind halt Russen, die waren schon immer schräg drauf, haben Stimmungsschwankungen. Morgens sind sie lieb, und gegen Abend werden sie böse. Besser nicht mit dem Bären spielen, wer weiß, was in seinem Kopf vor sich geht«, dachte vielleicht der Westen und schwieg.

Der russische Patriotismus stieg währenddessen ins Unermessliche. Die Bevölkerung vergötterte ihren Präsidenten geradezu in froher Erwartung neuer Siege. Im zentralen Kaufhaus Moskaus bildeten sich kilometerlange Schlangen, um ein mit dem Präsidenten bedrucktes T-Shirt zu ergattern. Es gab davon drei Motive: der Präsident mit nacktem Oberkörper auf einem Bären sitzend, darüber der Spruch »Lass uns reiten«, der Präsident in Militäruniform mit der Unterschrift »Der höflichste Mann der Welt« und derselbe Präsident als »Man in Black« verkleidet. »Er kann deine Gedanken lesen« stand darunter. In russischen Tattoo-Studios wurde sein Profil zu einem besonders beliebten Motiv. Frauen ließen ihn sich hinten auf den Steiß, Männer auf die linke Brust stechen.

Der Präsident freute sich natürlich über die große Zustimmung des Volkes zu seiner Politik. Er plauderte gerne aus dem Fernsehen heraus mit einfachen Menschen. Seine Gespräche unter vier Augen mit dem ganzen Volk dauerten den ganzen Tag. Jeder durfte ihn direkt in der Sendung anrufen, um seine Begeisterung auszusprechen und Fragen zur aktuellen politischen Lage zu stellen. Die meisten Anrufer wollten wissen, wie es nun weiterging.

»Wann nehmen wir die anderen ehemaligen Republiken zurück? Sie werden sicher zu uns gehören wollen?«, fragten die Rentner den Präsidenten. »Was ist mit dem Rest der Ukraine?« »Und was ist eigentlich mit Alaska?« – das sei doch auch von einem unfähigen gierigen Zaren an die Amerikaner verkauft worden. »Wir sollten es schnellstens zurückerobern!«, drängten die Veteranen, die ihre große Heimat, die Sowjetunion, unbedingt zurückhaben wollten.

Der Präsident vermied klare Antworten auf diese Fragen, er bremste die Rentner aus.

»Wozu brauchen Sie Alaska«, lächelte er aus der Glotze, »dort ist es doch so kalt! Lassen Sie uns lieber auf der Krim am Strand liegen, als in Alaska frieren.«

Die Strände der Krim blieben jedoch leer. Das Tourismusgeschäft, die einzige Einnahmequelle der Halbinsulaner, schien vollkommen einzubrechen. Drei Viertel der Touristen waren nämlich früher aus der Ukraine gekommen. Sie durften nun nicht mehr auf die Krim, weil sie offiziell als ein »vom feindlichen Aggressor besetztes Land« galt. Und die Russen, die ein Viertel der Touristen ausmachten, konnten sich die Reise nicht mehr leisten, weil der billigste Weg mit dem Auto oder mit dem Bus durch die Ukraine zu unsicher geworden war.

Die Ukrainer, von der Hinterhältigkeit des Nachbarn anfangs überrascht, haben ihre Meinung über die Russen und ihren Präsidenten schnell korrigiert. Den russischen Präsidenten nannten sie nicht anders als »Arschgeige«, das russische Brudervolk hielten sie für Zombies. Im Internet kursierten Bilder von leeren Stränden auf der Krim und hungrigen Möwen, die zwischen den Steinen verzweifelt nach Essensresten suchten. Keine Touristen weit und breit. Nur hier und da lagen die höflichen schweigsamen Uniformierten. Sie sonnten sich, ohne sich auszuziehen, und gaben ihre Waffen selbst am Strand nicht aus der Hand.

Der russische Präsident rief seine Bevölkerung auf, die Halbinsulaner zu unterstützen und dieses Jahr den Urlaub nicht in Ägypten oder der Türkei, sondern auf der Krim zu machen. Falls sich die Rentner für zwei Wochen Krim entschieden, sollten sie dafür einen Zuschuss vom Staat bekommen. Offiziere, Polizisten, überhaupt alle Staatsangestellten bekämen die Reisekosten von ihrem Arbeitgeber erstattet. Im Internet wurden bereits gefälschte Urlaubsunterlagen, die zur Erstattung notwendig waren, preiswert angeboten. Mit diesem leicht verdienten Geld konnte man auf Zypern billig Urlaub machen. Trotzdem beschwerten sich die Halbinsulaner: kaum Touristen, die Preise im Keller.

Mein Berliner Nachbar Sergej schaute sich diese Bilder an und beschloss spontan, auf die Krim zu fahren.

»Du bist verrückt!«, sagte ich ihm. »Du musst doch bedenken, dass du in ein besetztes Gebiet fährst. Hast du keine Angst, erschossen zu werden?«

Sergej wurde wie ich noch in der Sowjetunion geboren. Als Kind wurde er jedes Jahr während der Sommerferien von seinen Eltern in ein Pionierlager auf der Krim geschickt. Den Urlaub dort konnte er nicht leiden. Bedrückende Hitze, ekliges Essen, laute fremde Kinder und unglaublich viele Urlauber, die auf den Steinen am Ufer saßen und lagen oder im trüben Wasser plätscherten. Sie hockten einander buchstäblich auf den Köpfen. Man konnte keinen Schritt am Strand machen, ohne jemandem auf den Fuß oder den Bauch zu treten. Wie schön wäre es hier ohne die vielen Menschen, hatte Sergej damals gedacht. Nun schien auf der Krim genau die richtige Zeit für Urlauber gekommen zu sein, die gerne alleine am Strand saßen.

»Ich glaube, es wird mir gefallen«, meinte Sergej und fuhr los. Mit seinen zwei Pässen, einem deutschen und einem russischen, erreichte er problemlos die Krim. Mit dem deutschen Pass kam er ohne Visa in die Ukraine, von dort aus gelangte er mit dem russischen Pass auf die Halbinsel. »Bin da«, tippte er mir kurz als Nachricht und verschwand vom Bildschirm, ohne sich noch einmal zu melden. Wir fingen schon an, uns Sorgen zu machen. Zwei...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1917 • eBooks • Oktoberrevolution • Politik • Putin • Russland • Spiegel-Besteller-Autor • Spiegel-Bestseller-Autor • Ukraine
ISBN-10 3-641-20075-X / 364120075X
ISBN-13 978-3-641-20075-6 / 9783641200756
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