Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Flughunde (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
304 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75068-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flughunde - Marcel Beyer
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
(CHF 11,70)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Flughunde sind fledermausähnliche Flattertiere mit hundeartigem Kopf. Für Hermann Karnau sind sie von Kindheit an Sinnbild einer Welt, die vor dem Zugriff fremder Stimmen geschützt ist. Die Stimme ist der Fetisch des Akustikers Karnau, der 1940 den Plan faßt, systematisch das Phänomen der menschlichen Stimme zu erkunden.
Die eine Erzählstimme gehört Hermann Karnau, dessen Namen der Autor einem Wachmann im Berliner Bunker unter der Reichskanzlei entliehen hat. Die andere gehört der achtjährigen Helga, einer Tochter des Propagandaministers. Immer wieder kommt es zu Begegnungen der beiden, zuletzt im April 1945, als Karnau in Berlin ist, um die Führerstimme aufzuzeichnen.
Ein Zeitsprung führt in den Sommer 1992. Hermann Karnau, der nach dem Krieg untertauchen konnte, findet in seinem Plattenarchiv die Stimmen, die Gespräche von Helga und Helgas Geschwistern während ihrer letzten Tage und Nächte wieder. Auch den Kindern hat er die Stimmen - bis zum letzten Atemzug - abgelauscht.

»Der Roman Flughunde macht das Dritte Reich als Medien-Phänomen, als eine Erscheinungsform der akustischen Propaganda und Massensuggestion, zu seinem Thema, personifiziert in der sinistren Gestalt eines Akustikers ... Karnau, das Horch-Ungeheuer, ist der fürchterlichste Roman-Unhold, seit Patrick Süskind in seinem Roman Das Parfum das Geruchsmonster Grénouille erfand, das die Menschen experimentell umbrachte, um ihnen die Gerüche zu rauben.« Sigrid Löffler



<p>Marcel Beyer, geboren am 23. November 1965 in Tailfingen/Württemberg, wuchs inKiel und Neussauf. Er studierte von 1987 bis 1991 Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 Magister artium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Der Autor erhielt zahlreiche Preise, darunter 2008 den Joseph-Breitbach-Preis und 2016 den Georg-Büchner-Preis. Bis 1996 lebte Marcel Beyer in Köln, seitdem ist er in Dresden ansässig.</p>

Marcel Beyer, geboren am 23. November 1965 in Tailfingen/Württemberg, wuchs inKiel und Neussauf. Er studierte von 1987 bis 1991 Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 Magister artium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Der Autor erhielt zahlreiche Preise, darunter 2008 den Joseph-Breitbach-Preis und 2016 den Georg-Büchner-Preis. Bis 1996 lebte Marcel Beyer in Köln, seitdem ist er in Dresden ansässig.

I


Eine Stimme fällt in die Stille des Morgengrauens ein: Zuerst Aufstellen der Wegweiser. Die Pfähle mit dem Hammer tief einrammen in den weichen Erdboden. Mit aller Kraft. Die Schilder dürfen nicht wegsacken.

Die Befehle des Scharführers hallen über das Sportfeld. Auf Fingerzeig lösen sich einige Jungen mit Armbinden aus der Gruppe und machen sich an ihre Arbeit. Alle sind frisch getrimmt, bis auf die Ohren runter, mit ausrasierten Nacken, wo stoppelübersäte Kopfhaut schimmert. Gestoppeltes. Am Ziel wäre man wohl erst, wenn man sie noch kupieren könnte. So sieht die Welpenarbeit heute aus.

Rampen für Rollstuhlfahrer zimmern. Holzstege. Daß alle Krüppel bis in die vorderen Reihen geschoben werden können. Sollte der Regen stärker werden, darf niemand mit den Rädern im Schlamm hängenbleiben.

Die übrigen Befehlsempfänger bleiben unbeweglich stehen, die müden Schemen zittern nicht einmal in dem naßkalten Wetter, aufmerksam verfolgen sie jeden Ruf und jede Geste ihres Einsatzleiters in feuchter brauner Uniform:

Sechs Mann mit Kreidewagen. Linien ziehen entlang der Stege. Wo die Blindenhunde abtreten. Abstand zwischen den Linien sechzig Zentimeter. Schulterbreite plus Hund. Peinlich genau.

Es ist Krieg. Die Stimme schneidet in das Dunkel hinein, weit bis zur Bühne hinauf. Es herrscht eine seltsame Akustik. Allein hier vorn am Rednerpult braucht es sechs Mikrophone: Vier für die Lautsprecherblöcke, welche aus jeder Himmelsrichtung auf das Gelände ausgerichtet werden. Eins dient zum Auffangen von Sonderfrequenzen. Während der Ansprache wird es fortwährend austariert, um bestimmte Effekte der Stimmführung hervorzuheben. Das sechste Mikrophon wird an einen kleinen Lautsprecher unter dem Pult hier angeschlossen, der dem Redner zur Eigenkontrolle dient.

Und zusätzlich werden im Radius von einem Meter weitere Schallempfänger installiert, um einen angemessenen Raumklang zu erzeugen. Sie anzubringen ist eine Kunst für sich. Im Blumenschmuck werden sie versteckt und hinter den Fähnchen postiert, damit das Publikum sie von unten nicht entdecken kann. Doch auch der Ehrengarde und dem Parteivolk im Rücken des Redners sollen sie verborgen bleiben. Wo liegen die schalltoten Ecken in diesem Stadion, wo brechen sich die Wellen an den Rängen, an welchem Widerstand prallen die Irrläufer ab und treffen überraschend wieder auf den Redner selber? Niemand weiß wirklich, ob unsere Berechnungen stimmen. Die Karte deutet manches dunkle Areal nur an.

Für den Gesamtklang ist ein Mikrophon besonders wichtig, das oben im Parteiabzeichen hängt, damit auch der Schall nicht verlorengeht, welcher vom Redner in den Himmel abgestrahlt wird. Die Nacht ist längst vorbei, aber hier draußen herrscht noch immer Dunkelheit. Vom riesigen Emblem über mir lösen sich Regentropfen. Einer schlägt mir ins Gesicht. Verfallenes Licht.

Unten werden die Ordner instruiert: Zuerst Einfahren aller Amputierten. Das Feld wird zügig überquert. An der Markierung anhalten. Beim Schieben volle Aufmerksamkeit. Obacht: Keine Zusammenstöße verursachen.

Da traben auch schon die ersten HJ-Jungen heran. Im Dunstschleier über dem Sportfeld sind sie kaum zu erkennen: Sie schieben leere Rollstühle im Laufschritt vor sich her. Bis zum Mittag soll der gesamte Aufmarsch noch mehrmals geprobt werden, damit der Empfang der Weltkriegskrüppel und Wehrunfähigen reibungslos abläuft. Entlang der Rampen sind Stühle als Hindernisse aufgestellt, während der Proben ersetzen sie das Publikum. Auf den feuchten Holzbohlen gerät ein Junge ins Schleudern und kracht mit seinem Rollstuhl in die Absperrung. Schon wird er angeherrscht: Verdammter, nichtsnutziger Trottel. Wenn dir das heute nachmittag passiert, dann bist du dran. Ein einziger Patzer und es gibt einen Strafappell. Jetzt alles noch einmal von vorne. Alle Mann. Zurück in die Katakomben. Dann zügig auf den Platz.

Wie der Scharführer seine Burschen triezt. Wie können diese Kinder noch vor Tagesanbruch solch ein schrilles Organ über sich ergehen lassen, ohne auch nur einmal zu mucksen? Ergeben sie sich da hinein, ertragen sie zähneknirschend die Erniedrigungen, diese halbstarke Herrenstimme, weil sie ihnen das Gefühl gibt, an einer Bewegung teilzuhaben, aus der sie selber als Herren erwachsen werden? Sind sie der festen Überzeugung, daß sich mit der Zeit eine ebensolche Stimme in ihren jungen Kehlen einpflanzen wird?

Mein Blick bleibt an dem verstörten Jungen hängen, der sich im Abgang unauffällig Knie und Ellbogen reibt. Ich schlage den klammen Mantelkragen hoch, er macht mir eine Gänsehaut, da sich der Stoff an meinen Kehlkopf legt. Und wie kalt meine Finger sind, und steif, die halten die brennende Zigarette kaum. Da erscheinen die Männer mit den Kabelrollen, zwischen den abrückenden Jungen bahnen sie sich einen Weg zur Bühne. Aber bevor hier oben die Leitungen verlegt werden, muß noch jemand mit dem Leiter der Verschönerungsgruppe sprechen, denn das geplante Eichenlaub-Arrangement soll zur Bodentarnung genutzt werden. Alle Kabel werden gut abgeklebt und durch Löcher im Tribünenboden nach unten geleitet. Nach der Ansprache will der Redner zu seinen Hörern hinuntersteigen, und dabei darf ihm nichts im Weg liegen.

Jetzt wird schon die Lichtanlage ausgerichtet. Wir Akustiker liegen etwas hinter der Zeit. Der Scharführer wird auch langsam nervös, denn der Einzug der Blinden gestaltet sich komplizierter als erwartet, und die HJ-Jungen geraten ins Schwitzen: Rollstuhlbremsen anziehen. Die Amputierten stehen unverrückbar fest. Danach die Hunde mit den Blinden. Abgerichtet auf Orientierung an den Kreidelinien. Stöcke sind dabei unterm Arm zu tragen. Abtasten des Bodens erst wieder erlaubt, wenn jeder Blinde auf seiner Position.

Tatsächlich hat man einige Blinde herbeigeschafft, um die Sache durchzuexerzieren. Aber die gehen ihren Schäferhunden durch, manche verheddern sich in der Führleine und drohen in den Dreck zu fallen. Junge Hunde irren vom Weg ab oder bleiben verstört stehen. Mit panischem Einschlag in der Stimme stutzt der Scharführer seine Jungen zusammen: Nachziehen. Nachziehen. Die Hundelinien sofort mit Kreide nachziehen, doppelt und dreifach. Die Tiere erkennen hier ja rein gar nichts.

Ein Blinder hält mitten im Strahl eines Scheinwerfers an und wärmt sich im Licht. Sein Führer zerrt an der Leine. Aber der Mann bleibt standhaft. In den schwarzen Brillengläsern spiegelt sich das grelle Licht. Und blitzt vom Rauchglas direkt in meine Augen.

Jeder Hund kennt seinen Platz. Abstellen des Krüppels. Dann Kehre vorn herum. Nicht auf der Stelle wenden. Nicht um den Rücken des Blinden herum. Beginn des Abgangs mit der letzten Reihe. Dann weiter bis zur Front.

Die Kriegsblinden haben den Redner in lockerer Haltung zu empfangen, und dabei würden die Hunde nur das Bild stören. Außerdem soll auf den Pressephotographien der Eindruck von Gebrechlichkeit zurückgedrängt werden zugunsten der Ausstrahlung von Stärke und Kampfbereitschaft. Und endlich steht die Formation halbwegs. Seit einer Woche schon üben die Blinden täglich eine Stunde lang die korrekte Ausführung des Deutschen Grußes. Doch als sie nun die rechte Hand heben, bietet sich ein schauerliches Bild: Da sieht man Arme waagerecht vom Körper weggestreckt, aber auch solche, die fast senkrecht in den Himmel reichen. Und ein paar Blinde halten den Arm so weit zur Seite, daß er dem Nebenmann vor dem Gesicht hängt. Die Stimme des Scharführers hat sich wieder gefangen, ohne Atempause erschallen jetzt die Kommandos: Heben. Senken. Heben. Senken.

Die HJ-Jungen knien am Boden und justieren Blindenarme, bis sich eine einheitliche Front ergibt. Ein Techniker meldet: Die Lautsprecher sind jetzt postiert, verkabelt ist auch, die Mikrophone können angeschlossen werden. Ein Wink von drüben: Es gibt Strom. Wer übernimmt die Tonprobe? Auf keinen Fall will ich das tun. Doch der Scharführer macht jeden Klangtest ohnehin zunichte: Zuletzt Einmarsch der Taubstummen. Die Taubstummen stehen im hintersten Bereich, weil sie dem Führer nicht zujubeln können.

Unsichere Blicke der HJ-Jungen. Zwei, sehe ich, flüstern sogar. Die Taubstummen: Da sieht man sie aus den Katakomben auftauchen. Oder sind diese Männer dort, die festen Schritts die Laufbahn betreten, gar keine Taubstummen? Hat sich der Scharführer vertan? Sind das nicht einfach Ehrengäste? Und doch muß das die angekündigte Delegation von Wehrunfähigen sein. Welch Erscheinung in der Dämmerung, mit ihrer Geheim-, ihrer Gebärdensprache, mit ihren wunderlichen Uniformen, lächerlich gut gebügelt und gestärkt, die Regentropfen perlen an den Rockschößen ab. Phantasieuniformen, da doch keiner von ihnen jemals Mitglied der Wehrmacht werden könnte.

Was ist nun unsere Aufgabe, was tun wir als Akustiker mit ihnen? Es ist ihnen doch gar nicht möglich, am Nachmittag den Wortlaut der Rede zu verfolgen. Doch wird die gigantische Beschallungsanlage ihre Körper in fortwährende Erschütterungen versetzen: Wenn sie nicht den Sinn der Töne auffassen können, so wollen wir ihnen die Eingeweide durchwühlen. Wir steuern die Anlage aus: Die hohen Frequenzen für die Schädelknochen, die niedrigen für den Unterleib. Tief in die Dunkelheit des Bauches sollen die Geräusche reichen.

Auf dem Sportfeld werden SS-Leute gesichtet, die den Stand der Vorbereitungen kontrollieren. Den HJ-Jungen scheinen die schwarzen Uniformen Angst einzuflößen, sie wechseln andere Blicke als in Erwartung der Taubstummen: Wie sich die Lederstiefel, Regencapes und, im Schatten der Mützenschirme, selbst Gesichter nur schwach vom fahlen Hintergrund...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Deutschland • Friedrich-Hölderlin-Preis 2021 • Geschichte 1940-1945 • Nationalsozialist • Naturwissenschaftler • Peter-Huchel-Preis 2021 • ST 2626 • ST2626 • suhrkamp taschenbuch 2626 • Thomas-Kling-Poetikdozentur 2019
ISBN-10 3-518-75068-2 / 3518750682
ISBN-13 978-3-518-75068-1 / 9783518750681
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50