Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hat in seinen autobiografischen, zeitgeschichtlichen und historischen Romanen immer wieder Glaubensmomente dargestellt, in denen die handelnden Akteure sich mit Bruchstücken der christlichen Überlieferung beschäftigen. Mal handelt es sich um Hörerlebnisse in Gottesdiensten, mal um Lektüren biblischer Passagen, aber auch die tieferen Fragen danach, worin der Glaube eigentlich besteht und wie er im alltäglichen Leben erscheint, spielen eine bedeutende Rolle. In dieser Anthologie stellt er einige solcher intensiven Momente aus seinen Romanen vor, erläutert ihre kulturellen Hintergründe und erzählt davon, wie sie entstanden sind.
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Im Pfarrhaus des Onkels
Der älteste Bruder meiner Mutter studierte katholische Theologie und wurde später Priester und Pfarrer. Er war ein ungemein treuer und liebenswürdiger Mensch, und er lud manchmal Mitglieder der Familie in sein großes Pfarrhaus nach Essen ein. In meinen Schulferien durfte auch ich ihn besuchen, und ich tat das sehr gern, weil ich auf diese Weise Menschen und Dinge ganz aus der Nähe zu sehen bekam, die ich sonst nur von weitem sah.
Ein Messgewand, eine Sakristei, der Raum um und am Altar, die Kanzel, den Tabernakel – all diesen Dingen und Szenen begegnete ich, wenn ich den Onkel in einen Gottesdienst begleitete. Auch sonst konnte ich mich in der Kirche, die direkt neben dem Pfarrhaus stand, frei bewegen und dabei auch in jene Zonen eindringen, die sonst abgesperrt oder verschlossen waren.
Das Interessanteste aber war das Pfarrhaus selbst. Auf jedem Stockwerk befanden sich viele Zimmer, in denen kein einziger Mensch lebte. Im ersten Stock hatte der Onkel sein Büro und sein Schlafzimmer, und im zweiten schlief die Haushälterin. Unten im Parterre waren das Pfarrbüro und die Küche, und daneben gab es noch ein kleines Zimmer für vertrauliche Gespräche. Die anderen Räume aber standen leer und hatten seltsame Namen, als würden sie für seltene Gäste frei gehalten oder als residierten darin unsichtbare Geister.
Eines hieß »Josefszimmer« (wegen einer Statue des heiligen Josef, die sich in diesem Zimmer befand), ein anderes »Glockenzimmer« (weil in diesem Zimmer die Kirchenglocken besonders laut zu hören waren). Ein besonders geheimnisvolles Zimmer hieß »Ehezimmer« – und das deshalb, weil in diesem Zimmer nur Eheleute schlafen sollten. Ein »Kinderzimmer« gab es natürlich auch, und es war genau das Zimmer, in dem ich selbst immer schlief.
Das Pfarrhaus war nicht nur groß, sondern auch alt. Von außen schaute es mit seinem verlassenen Garten und den hohen Mauern ringsum aus wie ein Geister- oder Gespensterhaus. Im ganzen Umkreis gab es nichts Vergleichbares, es war »eine eigene Welt«, in deren Mitte ein einziger Mensch lebte, betete und sich um andere Menschen geradezu aufopferungsvoll bemühte und kümmerte.
Ich habe meinen Onkel sehr verehrt. Und manchmal habe ich mich als Kind gefragt, ob der Beruf des Pfarrers nicht der einzig richtige (»schöne, gute und wahre«) wäre.
Vor einer Kirche machten sie endlich halt und gingen hinein. Die kleinen Fenster lagen hoch, es war dunkel, und sie tasteten sich zu einer Bank vor, um sich zu setzen. Allmählich erst gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit und nahmen die Umgebung wahr. Von draußen hörte man das Klatschen des Regens und den heftig zischenden Wind. Fermer streckte sich aus, und Anna öffnete den Mantel, die Haare ordnend. Sie saßen eine Weile still, und ihr Atem beruhigte sich.
Am Altar zündete ein Mann in schwarzer Soutane die Kerzen an; sorgfältig blies er die Flamme des Dochtes, der an einem langen Stock befestigt war, aus. Er blätterte in dem dicken Messbuch, das auf dem Altartisch lag. Vor dem Madonnenbild, das in einer Nische hinter den zahllosen brennenden Kerzen flimmerte, kniete eine Frau und betete leise. Das Blau des Madonnenmantels zitterte vor dem goldenen Hintergrund. Der Weihrauchduft füllte den hohen Raum, und die Wärme beruhigte Fermer, der sich plötzlich an die in Frömmigkeit verbrachten Tage erinnerte und sich freute, endlich von einer Sache länger erzählen zu können, ohne nach Worten suchen zu müssen.
Und während er begann, von den Wochen zu sprechen, die er als Kind im Pfarrhaus des Onkels zugebracht hatte, schien auch Anna wie erlöst zuhören zu können; denn sie legte den Kopf auf seine Schulter und nahm plötzlich seine Hand, als habe sie nur auf diesen ruhigen Moment gewartet.
Das Pfarrhaus war ungewöhnlich groß gewesen; in den weiten Räumen hatte er die Übersicht ebenso verloren wie in dem verwilderten Pfarrgarten, in dem die zahlreichen Birnbäume harte, grüne Früchte getragen hatten, die er ungeduldig viel zu früh vom Baum gepflückt und gegessen hatte. Niemand hatte sich um den Garten gekümmert, und so war Efeu an den Ziegelsteinmauern emporgewachsen, die man so hoch gezogen hatte, um Einbrechern den Zugang zum Grundstück zu verwehren. Auch die Rhododendronsträucher hatten mannshoch gestanden, und entlang der Mauer waren Himbeer- und Brombeer-Hecken, nur schwach gestützt durch ein allmählich verfallendes Holzspalier. Hatte man von einem Fenster aus in den Garten geschaut, so war durch die wild wuchernden Pflanzen der Überblick ganz unmöglich geworden. Nur noch im Sommer war der Onkel, in einem Brevier lesend, ohne aufzuschauen, über die kaum noch erkennbaren schmalen Wege gegangen und auch schon bald wieder im Haus verschwunden, als habe er seine Umgebung nicht bemerkt. Erst im Herbst hatte er den Küster beauftragt, das Laub zusammenzukehren; der hatte die Arbeit leise und sorgfältig verrichtet, die kleinen, von Moos und Gras fast schon überwachsenen Wege vom Laub befreit und die großen Blätterstöße in einer Ecke des Gartens geschichtet. Nur die Rosen waren zugeschnitten worden, sonst hatte man sich nicht weiter um den Wuchs der Pflanzen gekümmert. Regelmäßig aber hatten sich deren Blüten gegen die Missachtung durchgesetzt. Manchmal hatte noch im Winter, wenn die letzten Schneereste auf den Rasenstücken zerschmolzen waren, schon der chinesische Jasmin geblüht, und die alte Haushälterin hatte Fermer zum Küchenfenster gerufen, um ihm die gelben Blütensterne zu zeigen, die sie immer für Forsythien gehalten hatte, bis der Onkel sie belehrte. Oft hatte er bei ihr in der Küche am Fenster gesessen und erzählend in den Garten geschaut, wenn die Wäsche gestopft oder auf dem großen Bügelbrett ausgebreitet worden war. Dann waren die Stunden leicht und ruhig vergangen, während aus den Töpfen schon der Duft des Mittagsmahls stieg und sich im Haus verbreitete. Gleich neben der Küche hatte das kleine Esszimmer gelegen, ein runder Tisch mit nur zwei Stühlen für den Onkel und die Haushälterin, die beinahe sprachlos das Essen zur festgesetzten Stunde eingenommen hatten. War der Duft der Speisen stark genug, so war der Onkel schon früher aus dem Arbeitszimmer herabgekommen und in dem kleinen Raum, ruhig wie immer in seinem Brevier lesend, hin- und hergegangen. Immer hatte die Mahlzeit mit einer kräftigen Suppe begonnen, die in einer großen Terrine hereingetragen worden war, wobei der Onkel fast zugleich ein Lesezeichen vor die aufgeschlagene Seite gesteckt und »Guten Appetit« gewünscht hatte. Nie hatte der Wein zum Essen gefehlt, und selbst er, Fermer, hatte nie auf einem anderen Getränk bestehen dürfen, sondern aus einem winzigen Glas vom Wein kosten müssen.
Auch sonst hatte der Onkel ihm keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und das war ihm eben recht gewesen. So hatte er sich ruhig in den Räumen umschauen dürfen. In dem mehrstöckigen Haus war die Stille besonders wahrnehmbar gewesen, und in beinahe jedem Raum hatte eine Uhr getickt und die gleichsam sich in die Möbel fressende Stille gemessen. Auf dem Speicher hatte er ein altes Harmonium entdeckt und auch schon zerschlissene Messgewänder, die er sich übergezogen hatte vor dem alten, von einem noch barocken Rahmen eingefassten Spiegel. Auch ein Altarblatt hatte er dort gefunden zwischen den mit Büchern gefüllten Kisten, eine Anbetung von Heiligen, von denen der heilige Sebastian ihn besonders beeindruckt hatte, den nackten Leib wie unter großen Schmerzen, die die zahllosen Pfeile verursachten, weit zurückgebogen und die Augen zum Himmel aufgerissen, als finde er nur dort noch Trost für sein Leiden.
Durch das aufgesperrte Dachfenster war der Blick auf den Kirchturm gefallen, und manchmal hatte er dazu den Klang der Orgel gehört und sich sofort den hohen Kirchenraum vorstellen können. Er hatte die Bücherkisten ausgepackt, war jedoch immer enttäuscht worden; nie hatte er einen Roman oder eine Erzählung gefunden, sondern meist nur Bücher über religiöse Themen, auch Bibelkommentare in lateinischer Sprache. Der Onkel hatte Erzählungen geradezu misstraut und seine Lektüre aufmerksam beobachtet. Reiseschilderungen hatte er noch zugelassen, ihm aber schon erklärt, in allen Erzählungen und, wie er sagte, »Erfindungen« sei etwas Willkürliches, Unwahres, das gefährlich werden könne. Damals hatte er solche Sätze noch nicht verstanden; erst am Abend war er ihrer Bedeutung näher gewesen, wenn er sich mit einem der mitgebrachten und verbotenen Bücher in sein Bett zurückgezogen und es unter der Decke gelesen hatte. Er hatte in einem mächtigen Doppelbett gelegen, das in dem ungewohnt großen Schlafzimmer wie verlassen unter dem schweren Kreuz gestanden hatte. Manchmal hatten dann in der Dunkelheit die Gestalten und Ereignisse ganz Besitz von ihm ergriffen, und er hatte sich in der großen Stille sehr gefürchtet. Dann erst hatte er die Worte des Onkels zu verstehen geglaubt, war auch manchmal hinaus auf den Flur geschlichen, wo die Galerie der Ölgemälde an den Wänden den angstvollen Zustand nur verstärkt hatte. Aus dem Zimmer des Onkels aber war ein schwacher Lichtschein in die Dunkelheit gefallen, und er hatte die Stimme des Onkels gehört, der die Predigt für den nächsten Tag vorbereitete, und als er einmal nicht den rechten Fluss der Worte fand, laut fluchte, was ihn im stillen Flur so überrascht hatte, dass er wieder näher an das Wirkliche geführt und die Gestalten der Phantasie verdrängt worden waren.
Denn ganz unbegründet war seine Furcht nicht gewesen. An den Abenden waren die hohen Fenster mit Eisenriegeln zugesperrt worden, und auch vor die Kellertüren hatte der Onkel schwere Riegel...
Erscheint lt. Verlag | 3.10.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anthologie • Autobiografie • Belletristik • Bestsellerautor • Bibel • Christentum • eBooks • Geschenkausgabe • Geschichte • Glaube • Glauben • Kindheitserinnerungen • Kultur • Originalausgabe • Religion • Roman • Romane • Tagebuch • Tagebucheintragungen |
ISBN-10 | 3-641-18617-X / 364118617X |
ISBN-13 | 978-3-641-18617-3 / 9783641186173 |
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