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Töchter einer neuen Zeit (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
560 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56581-4 (ISBN)
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Jahrgang 1900. Einer der geburtenstärksten Jahrgänge. Und eine Generation Frauen, die gleich zwei Weltkriege durchleben musste. Eine von ihnen ist Henny Godhusen. Voller Lebensfreude stürzt sie sich im April 1919 in die Ausbildung zur Hebamme. Endlich ist der Erste Weltkrieg vorbei, und Henny ist sich sicher: Die dunklen Jahre liegen hinter ihr. Die Frauenklinik Finkenau an der Grenze zwischen den Hamburger Stadtteilen Barmbek und Uhlenhorst ist eine der modernsten Entbindungsanstalten des Landes. Henny liebt die Klinik und das lebhafte Viertel an der Alster. Hier kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, Bürger und Arbeiter, Arm und Reich. Doch vor allem sind es drei Frauen, die Henny auf ihrem Lebensweg begleiten werden: Ida wohnt in einem der herrschaftlichen Häuser am Hofweg und weiß nicht viel vom Leben jenseits der Beletage. Hennys Kollegin Käthe dagegen stammt aus einfachen Verhältnissen und unterstützt die Kommunisten. Und Lina führt als alleinstehende Lehrerin ein unkonventionelles Leben. Die vier Frauen teilen Höhen und Tiefen miteinander. Persönliche Schicksalsschläge und die Verwerfungen der Weltpolitik, vor allem der Aufstieg der Nationalsozialisten und der drohende Zweite Weltkrieg, erschüttern immer wieder die Suche nach dem kleinen Glück. «Töchter einer neuen Zeit» ist der Auftakt einer Trilogie, die diese vier Frauen, ihre Kinder und Enkelkinder durch das 20. Jahrhundert begleitet.

Carmen Korn wurde 1952 in Düsseldorf als Tochter des Komponisten Heinz Korn geboren. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete sie als Redakteurin u.a. für den «Stern». Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Carmen Korn wurde 1952 in Düsseldorf als Tochter des Komponisten Heinz Korn geboren. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete sie als Redakteurin u.a. für den «Stern». Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

März 1919


Henny hob den Kopf und lauschte. Ein Sehnsuchtsgeräusch, das aus dem Hof zu ihr hoch in den zweiten Stock fand, Sehnsuchtsgeräusch wie Glockenklang und der Gesang einer Amsel. Die Sonnabende ihrer Kindheit kamen ihr in den Sinn. Sommersonnabende. Das Glitzern im Wasser der Regentonne. Die weißen Johannisbeeren, die sie von den Sträuchern an der hinteren Mauer des Hofes pflücken durfte. Der Duft des Kuchens, den ihre Mutter für den Sonntag im Ofen hatte. Ihr Vater, der aus dem Kontor gekommen war und leise pfiff, während er die Krawatte löste, den Kragen des Hemdes abknöpfte.

Henny ging zum Fenster, öffnete es und lauschte dem Geräusch, das ihr all diese Bilder herbeiholte. Das Quietschen der alten Schaukel.

Es war noch längst nicht Sommer. Der kleine Junge auf der Schaukel unten trug Gamaschen aus grobem Strick und einen kurzen Mantel, der Himmel über ihm war grau, die Sträucher waren noch kahl. Doch an der Weide sprossen erste Kätzchen, Märzenbecher standen am Rand der Wiese, und auch das Licht schien hoffnungsvoller zu sein als noch vor Tagen. Die dunklen Monate des Winters waren vorbei und mit ihnen die dunklen Jahre des Krieges.

«Du bist ja noch immer im Hemd, Kind, und stehst in der kalten Luft.» Henny drehte sich zu ihrer Mutter um, die in die Küche gekommen war und nun zu ihr ans Fenster trat. «Keine acht Uhr, und die Lüdersche lässt schon den Kleinen in den Hof.» Else Godhusen schüttelte den Kopf. «Und du komm mal in die Gänge. Ich hab noch Heißwasser im Kessel, das geb ich dir in die Schüssel.»

Der Kleine glitt von der Schaukel und verschwand aus Hennys Blick. Vermutlich war er durch den Keller ins Haus gegangen. Eine Weile schwang die Schaukel noch. Henny wandte sich vom Fenster ab und dem Spülbecken zu, ließ kaltes Wasser zum heißen aus dem Kessel in die Emailleschüssel laufen und zog an dem Vorhang aus fester weißer Baumwolle, dessen Lochstickerei sich einen Finger breit über dem Linoleum des Fußbodens verschwendete. Die Vorhangringe glitten an der Eisenstange entlang, die weiße Baumwolle schloss sich mitten in der Küche zu einem kleinen Séparée.

Die Eisenstange hatte ihr Vater angebracht, kurz nach Hennys zwölftem Geburtstag. «Die Deern entwickelt sich», hatte Heinrich Godhusen gesagt. «Das geht nicht länger, dass sie am Handstein steht und wir ihr beim Waschen zugucken.» Gestern war Henny neunzehn geworden und ihr Vater schon Jahre tot. Gefallen im Großen Krieg.

Henny zog das Hemd aus und griff nach der Veilchenseife, die in der Schale lag. Keine kratzige Kriegsseife, die kaum Fett enthielt und in der bis hin zur Ziegelerde ziemlich alles vermahlen worden war, was sich fand. Sie tauchte die kostbare Seife kurz in das Wasser und ließ sie andächtig von einer Hand in die andere gleiten, bis ein kleiner Schaum entstand. Dann fing Henny an, sich von Kopf bis Fuß zu waschen.

«Das duftet ja in der ganzen Küche», sagte ihre Mutter mit dem Stolz der Schenkenden. Die Veilchenseife hatte auf dem Gabentisch gelegen. Daneben ein Hebammenkoffer, gebraucht gekauft, doch noch gut erhalten. Else Godhusen hatte von der Margarine geopfert, um das dunkle Leder zum Glänzen zu bringen. «Der zukünftigen Hebamme», hatte sie gesagt. «Das ist noch schöner als Krankenschwester. Wie stolz dein Vater wäre.»

Mutter und Tochter hatten ihn abhalten wollen, voreilig und freiwillig in den Krieg zu ziehen mit seinen achtunddreißig Jahren. «Spiel mir nicht den Helden», hatte Else gesagt. Doch da war Heinrich Godhusen schon fortgerissen worden vom vaterländischen Taumel des August 1914. Hatte den Hut geschwenkt. Nicht den steifen. Den leichten Strohhut, der sich so heiter schwenken ließ. Hoch lebe Deutschland. Hoch lebe der Kaiser. Die Blaskapelle spielte, in den Gewehrläufen steckten Blumen.

Ausgezogen in den Krieg, gestorben, in masurischer Erde begraben. Das zweite Bataillon des Landwehrregiments hatte schon im September an der Ostfront gestanden. «Der Krieg ist die Hölle», hatte Heinrich an Else geschrieben. Doch davon wusste Henny nichts.

«Bisschen neidisch auf deinen Koffer schien mir Käthe schon gewesen zu sein», sagte Else Godhusen. «Bin gespannt, mit welchem Büdel sie in der Finkenau erscheint. Dass die Käthe überhaupt genommen haben, sie ist doch oft nachlässig mit sich. Ist mir gleich aufgefallen, dass ihre Nägel nicht ganz sauber waren.»

«Mama, hör auf», sagte Henny hinter ihrem Vorhang. Ihre liebste Kindheitsfreundin hatte gezögert, sich ebenfalls um eine Lehrstelle zu bewerben. Hebamme an der Finkenau, die seit fünf Jahren als eine der besten Entbindungsanstalten im ganzen Lande galt, das schien der Wohlfahrtshelferin Käthe viel zu ambitioniert.

«Du kennst Käthe, seit sie sechs war, doch manchmal denke ich, du kannst sie gar nicht leiden.» Sie griff nach dem Hemd, das sie über die Stange gelegt hatte.

«Du kannst ruhig nackig herauskommen. Vor deiner Mutter wirst du dich ja wohl nicht genieren, und die Küche ist gut warm.»

Henny schob den Vorhang zur Seite und stand im Hemde. «Hast du gehört, was ich gesagt habe?»

«Hab ich nicht Vaters letzte Flasche Rheinwein aus dem Keller geholt, um ihn mit dir und Käthe zu trinken?»

«Kannst du sie nun leiden?»

Hennys Mutter ließ sich Zeit mit der Antwort. «Ich kann Käthe leiden», sagte sie schließlich, «doch du bist einfach das feinere Kind.»

 

«Deine Mutter hat einen höheren Fimmel», hatte Käthe gestern Abend gesagt, als sie sich an der Haustür von Henny verabschiedete. «Zu ihrer politischen Verbohrtheit sag ich gar nicht erst was.»

Am Anfang war es ein heiterer Geburtstagsabend gewesen. Sie hatten den Oppenheimer Krötenbrunnen von 1912 geleert und Sekt getrunken, der schon zu alt und dunkel vom Firn gewesen war. Die Gläser hatten sie auf Henny gehoben und ihren Vater, dass er in Frieden ruhe, dann wurde auf die Zukunft angestoßen und die Hebammerei. Dazu hatten sie Brote mit gehackten Zwiebeln gegessen und eingelegte Essiggurken, das Glas hatte Else zwischen leeren Einmachgläsern gefunden.

«Einmal haben Heinrich und ich Kraftbrühe mit echten Goldblättchen bestellt», hatte sie geschwelgt. «In Cölln’s Austernstuben. Austern mochte dein Vater nicht, die waren ihm zu fischig.»

«Gold in der Suppe.» Käthe hatte den Kopf geschüttelt. «Im Hotel Reichshof gibt es kleine französische Kuchen mit rosa Glasur und gezuckerten Mandeln. Die glitzern auch. Geht aber nur ohne Marken.»

«Du warst ja schon immer gierig auf Kuchen.» Hennys Mutter hatte beleidigt geklungen, sie hätte gerne länger im Glanz der Vorkriegszeit verweilt. «Dass es schon wieder Petits Fours geben darf, wo wir gerade noch mit den Franzosen im Krieg gestanden haben. Wie kommst du überhaupt in den Reichshof, Käthe?»

«Nachher gibt es Marmorkuchen», hatte Henny schnell gesagt, um das Gespräch aus der Gefahrenzone zu holen.

«Nur ein kleiner Kuchen. Die Zutaten reichten nicht für die große Form. Das ist bei Käthe für den hohlen Zahn.»

«Dann rühren wir den lieber nicht an», hatte Käthe gesagt. «Der kann einem ja sonst leidtun, der Kleine.»

Vielleicht hatte Else Godhusen den Sekt nicht vertragen. Henny war willens, es darauf zu schieben, dass ihre Mutter dieses Lied anstimmte.

Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein.

Ob sie wie gier’ge Raben sich heiser danach schrein.

«Der Krieg war ein Verbrechen», hatte Käthe in die zweite Zeile hineingesprochen. «Zum Schaden aller Völker. Und der Kaiser ist ein Lump.»

«Vieles war doch auch von hohem Mute. In meiner Küche hältst du keine kommunistischen Reden, Käthe.»

Das war der Moment, in dem der Abend kippte.

Als Käthe dann die paar Schritte zur Wohnung in der Humboldtstraße ging, in der sie allein mit ihren Eltern lebte, seit die kleinen Brüder gestorben waren, hatte Henny sich einen Augenblick lang den Traum erlaubt, ein eigenes Zimmer zu haben. Ein Zimmer ohne die Allgegenwärtigkeit ihrer Mutter.

 

Das Haus der anderen im Blick, so waren sie und Käthe aufgewachsen. Hennys Eltern waren kurz vor Hennys Einschulung in das vierstöckige Eckhaus im östlichen Uhlenhorst nahe Barmbeck gezogen. Sie hatte das Kind mit den schwarzen Zöpfen und der schiefen Schürze schon auf dem ersten Weg zur Schule gesehen. Käthe hatte eine Zuckertüte in der Hand gehalten wie Henny. Aus ihren Tornistern hatten Lappen gehangen, mit denen die Schiefertafeln gewischt wurden. Lappen wehten. Zöpfe wehten. Schwarze Zöpfe. Blonde Zöpfe. Ein stürmischer Tag.

«Guck dir an, wie schlampig die Schürze gebunden ist», hatte Else Godhusen gesagt. Der scharfe Blick, damals schon, und diese Ungnädigkeit mit den anderen.

Vor dem Zubettgehen gestern hatte ihre Mutter noch drei laute lange Strophen des vermaledeiten Liedes gesungen, Henny zum Trotze, die von der letzten Zeile noch im Schlaf verfolgt worden war.

Bis eine Flut begraben des letzten Manns Gebein.

Gnadenlos hatte sie in ihr nachgehallt und war erst vom Quietschen der Schaukel endgültig verdrängt worden.

Henny zog das hellgraue Kostüm aus Kammgarn an, das Else ihr aus einem Anzug des Vaters geschneidert hatte, die weiße Bluse mit den Biesen, stieg in die Knopfstiefel und schnürte sie.

«Machst dich stadtfein», sagte Else. «Dann genieß noch mal die Freiheit. Zu Mittag bist du aber wieder da.»

Henny drückte einen kleinen Kuss auf Elses Wange und zog die Tür hinter sich zu. Unten auf der Straße blieb sie stehen und guckte zum zweiten Stock hoch, winkte Else zu, die wie immer am Fenster stand. Dann bückte sie sich und...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2016
Reihe/Serie Jahrhundert-Trilogie
Jahrhundert-Trilogie
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Barmbek • Deutschland • Eilbek • Familiengeschichte • Familiensaga • Feuersturm • Finkenau • Frauen • Frauenroman • Frauenschicksal • Freundinnen • Freundschaft • Geburtsklinik • Geschenk für Frauen • Hamburg • Hebamme • Jahrhundert • Krieg • Mütter • Muttertag Geschenk • Muttertagsgeschenk • Nationalsozialismus • Schwestern • Töchter • Uhlenhorst • Weimarer Republik • Weltkrieg • Winterhude
ISBN-10 3-644-56581-3 / 3644565813
ISBN-13 978-3-644-56581-4 / 9783644565814
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