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Die Geisterseher (eBook)

Ein unheimlicher Roman aus dem klassischen Weimar

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
361 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1210-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Geisterseher - Kai Meyer
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Unheimlich phantastisch.

Weimar im Jahr 1805. Die Brüder Grimm machen Schiller ihre Aufwartung, doch finden sie ihn todkrank vor. Verlegen überreichen sie die Arznei, die Goethe ihnen mitgegeben hat. Der sieche Dichter überlässt ihnen sein letztes Manuskript - doch wenig später wird ihnen diese Kostbarkeit gestohlen. Gegen ihren Willen geraten sie in eine finstere Verschwörung, in der Goethe, eine seltsame Gräfin, eine Geheimloge und exotische Rauschmittel eine Rolle spielen ...

'Meyers Stärke sind atmosphärisch dichte Breitwandpanoramen.' Die Welt.



Kai Meyer, geboren 1969, gilt als der Meister der Phantastik. Aus seiner Feder stammen Bestseller wie 'Die Wellenläufer' und 'Seide und Schwert' und zuletzt die Trilogie 'Die Seiten der Welt'. Weltweit beträgt seine Auflage mehrere Millionen Exemplare. Übersetzungen erscheinen in 30 Sprachen. Kai Meyer studierte Film- und Theaterwissenschaft, volontierte als Journalist bei einer Tageszeitung und war Redakteur, bevor er sich 1995 ganz auf das Schreiben von Büchern verlegte. Er lebt in der Nähe von Köln.Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane 'Die Geisterseher' und 'Die Winterprinzessin' lieferbar.Mehr Informationen zum Autor unter Mehr Informationen zum Autor unter www.kai-meyer.de.

4


In meiner Erinnerung gestaltet sich das erste Zusammentreffen mit dem Fräulein Anna von Brockdorff als wirres Auf und Ab aus warmen, herzlichen Gefühlen und einer gewissen Vorsicht, geboren nicht aus Mißtrauen, sondern der Scheu vor dem Neuen, ja, dem Weiblichen. Es läge nahe, von all den mythischen Geheimnissen des anderen Geschlechts zu schwärmen, in Beschreibungen jener wunderbaren Qualitäten der Frauen im allgemeinen und Annas Charakter im besonderen zu schwelgen. Doch zuvorderst – ich schäme mich nicht, dies zu gestehen – war es ihre Schönheit, die mich für sie einnahm. Auf den ersten Blick schien sie makellos. Die Ebenmäßigkeit ihrer sanften Züge, der Schwung ihrer Lippen und die keusche Zurückhaltung in der Tiefe ihrer braunen Augen kamen all jenen Darstellungen der Vollendung nahe, die man in manchem Gemälde, manchem Buch oder Vers antreffen mag, in der Wirklichkeit jedoch höchst selten.

Ich schrieb es schon, ihr Haar war schwarz, sogar mit einem Stich ins Blaue, je nach Einfall des Lichts; und, ganz gleich ob Sonne, Mond oder Öllaterne, ihre Strahlen schienen auf Annas Körper zu spielen wie geschickte Finger auf den Saiten einer Harfe, bemüht, immer nur den zartesten, den wohlklingendsten Ton zu erzeugen. Fast schien es, als habe sie in der Natur einen Verehrer ihrer reinen, glanzvollen Schönheit gefunden, denn wo sie auch stand und ging, immer schien die Umgebung ihre Vorzüge zu betonen. Mal war es ein lauer Wind, der lieblich in ihrem langen Haar spielte, mal ein Vogelzwitschern, das ihre Worte melodisch untermalte, mal prachtvolle Äste, die sie umrahmten wie das Werk eines großen Künstlers. Dabei lag ihr nichts ferner, als sich in Posen zu werfen, und doch umgab sie ein Hauch der Vollkommenheit, den andere Frauen nie kennengelernt, geschweige denn gezähmt haben. Sie beherrschte diese Kunst ganz unbewußt, und sprach man sie darauf an, so reagierte sie nur mit milder Überraschung und bezauberndem Lächeln.

Freilich blieb mir bei unserem ersten Treffen im schummrigen Innern des Planwagens ein Großteil dieser Wunder noch verborgen, und doch spürte ich bereits zu jenem frühen Zeitpunkt, welch überirdische Magie dieses Geschöpf um sich webte, mit jedem Blick, jedem schüchternen Wort, mit jedem ihrer Atemzüge. Vom ersten Augenblick an war ich ihr verfallen, ganz ohne ihre Absicht – und ohne die meine erst recht. Es war wie der Blitzschlag, der sich stets die höchste Spitze sucht; in jenem Moment überragte mein Sinn für das Schöne jeden Gipfel meiner Seelenlandschaft.

Wir stiegen von hinten auf den Wagen und fanden das Fräulein auf einem Lager aus Decken sitzend, gleich hinter dem Kutschbock, nun wieder durch die geschlossene Plane abgetrennt. Von einer der drei Querstreben, über welche die Plane geworfen war, baumelte eine trübe Öllampe. Ihr Licht warf einen gelben Schimmer auf das Gesicht des Mädchens.

Wir stellten uns vor und ließen uns auf der gegenüberliegenden Seite des Wagens nieder. Der Zwergenkutscher trieb die Pferde an, mit einem Rumpeln setzte sich das Gefährt in Bewegung.

»Mein Name ist Anna von Brockdorff«, sagte das Fräulein. Ihre Worte klangen eher artig als erfreut über die unverhoffte Gesellschaft. »Ich hörte, was Ihnen widerfuhr. Sie müssen erschöpft sein.«

Ich nickte, denn es stimmte, was sie sagte. Meine Beine taten weh, mein Rücken schmerzte, und das Herzklopfen schien meine Brust zu sprengen – wenngleich ich mir über die Ursache des letzteren nicht ganz im klaren war. Es mochte die Aufregung der vergangenen Stunden sein, eine Folge der überstürzten Flucht und ungewohnten Anstrengung. Doch etwas sagte mir, daß der wahre Grund anderswo zu suchen sei.

Anna von Brockdorff saß mit angezogenen Knien auf dem Lager. Der Saum ihres schlichten, dunkelbraunen Kleides war verrutscht, darunter schauten wenige Fingerbreit ihrer schlanken Fesseln hervor. Sie trug einfache Lederschuhe, und das Haar hing reinlich, aber ungeordnet über ihre Schultern hinab bis zur Hüfte. Sie mochte in unserem Alter sein, achtzehn oder neunzehn, vielleicht auch ein Jahr jünger. Sie sah mich an – nur mich, nicht Jacob! –, doch schien ihr Blick durch mich hindurchzuschweifen, in weite, wilde Fernen. Ich fragte mich, ob sie überhaupt irgendwelche Einzelheiten wahrnahm; vielmehr schien sie in Gedanken anderswo zu weilen, weit fort von dieser Kutsche, vielleicht bei einem Geliebten in der Heimat. Der Gedanke schmerzte mich tausendmal mehr als jede meiner verkrampften Muskeln.

Ich war nicht so einfältig, gleich Liebe in meinen aufgewühlten Gefühlen zu vermuten. Zwar kannte ich ihre Boten aus den Berichten mancher Freunde und fand durchaus Parallelen zu meinem eigenen Befinden, doch schien mir die Zeit unserer Bekanntschaft allzu knapp bemessen. Ich suchte in meiner Erinnerung nach vergleichbaren Momenten in den Werken der Romantiker, doch erschien mir, der ich nun selbst vor jener Schwelle stand, jedes ihrer Worte wie leeres Gefasel angesichts der echten, unverfälschten Wallung in meinem Hirn. Ich fühlte mich wie ein Reisender, der sich durch Beschreibungen Fremder ein Bild von seinem Ziel gemacht, um dann bei der Ankunft festzustellen, daß nichts davon der Wahrheit auch nur nahekommt. Die Gebäude waren eben doch prächtiger, die Landschaft weiter, die Seen blauer und die Mädchen schöner.

»Darf ich fragen, wohin Sie Ihr Weg führt?« erkundigte sich Jacob.

»Nach Osten«, erwiderte sie knapp, offenbar nicht in der Laune zu längerem Geplauder.

Jacob gab nicht auf. »Wir selbst sind auf dem Weg nach Warschau.«

So? dachte ich verärgert. Sind wir das?

»Welch ein Zufall«, sagte Anna, und erstmals sah ich sie lächeln; mir wurde schwindelig. »Auch Moebius und ich wollen dorthin.«

Mehr brauchte es nicht, um all meine Bedenken zu zerschmettern. Hatte ich je daran gezweifelt, daß Warschau das verlockendste aller Ziele war? Ich dachte nach: Wieviele Tage mochte die Reise dauern? Fünf, sechs, zehn? Und würde das Fräulein uns als Begleiter akzeptieren? Die Pforten der Glückseligkeit öffneten sich über mir, Warschau schien mir plötzlich die Hauptstadt aller Freuden.

Jacob, dem mein Befinden nicht entging, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Anna kam ihm zuvor: »Was halten Sie denn da so fest umklammert?« fragte sie an mich gewandt.

Schon war ich drauf und dran, ihr alles zu enthüllen, so blind machte mich jedes ihrer Worte. Doch Jacob verhinderte dies, in dem er kurzentschlossen das Paket aus meinen Händen nahm und vor sich auf den hölzernen Boden legte. »Ein Buch«, sagte er vage, »für einen engen Verwandten.«

Ihre Augen weiteten sich überrascht. »Ihr macht eine solche Reise wegen eines Buches? Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

»Aber nein«, entgegnete er schnell, »doch alles übrige wurde uns mitsamt der Koffer von unserem untreuen Kutscher gestohlen.«

»Ich verstehe«, sagte sie und nickte. Täuschte ich mich, oder klang ihre Stimme bereits ein wenig wärmer? »Da wir offenbar denselben Weg haben, möchten Sie uns vielleicht begleiten. Sie scheinen mir tugendhafte Herren zu sein, mit Sinn für Ehre und Anstand.«

Jacob sah mich an. »Was meinst du, Wilhelm?«

Mir war, als ginge ein warmer Schauer auf mich nieder. Irgendwie brachte ich eine Antwort zustande. »Wenn wir Ihnen, Fräulein, nicht zur Last fallen, ich meine, wir haben kein Geld und …«

Sie schüttelte den Kopf und schaute mir offen ins Antlitz. »Seien Sie meine Gäste. Aber erwarten Sie nicht zuviel, es mag vorkommen, daß wir eine Nacht in der Kutsche verbringen müssen, statt in der Behaglichkeit eines Gasthofs einzukehren. Auch meine Mittel sind begrenzt.«

Der Gedanke, mich von diesem Göttergeschöpf aushalten zu lassen, schien mir mehr als unschicklich. Andererseits: Was hatten wir schon für eine Wahl?

Jacob gab sich hocherfreut. »Unsere Verwandtschaft in Warschau wird Sie für alles entschädigen.«

Wie, um Himmels willen, er dieses Versprechen einzuhalten gedachte, war mir ein Rätsel. Ich nahm mir vor, ihn zur Rede zu stellen, sobald sich Gelegenheit dazu bot. Die Tatsache, daß er das Fräulein belog, nahm ich ihm übel. Zugleich bemerkte ich, daß sie nun sehr wohl auch ihn ansah, nicht mehr mich allein, und das Lächeln, das sie ihm schenkte, schien mir in jenem Augenblick fast wie ein Versprechen. Irgendwo in meinem Hinterkopf wurde ein Feuer entfacht, und hilflos spürte ich, wie jede Geste, jeder Blick die Flammen schürte. Ich hatte ein solches Gefühl, das sich so eindeutig gegen meinen Bruder richtete, nie zuvor gekannt, und es machte mir Angst. War dies das saure Beiwerk, die Schattenseite jener Macht, die mich so zu diesem Mädchen hinzog?

»Verzeihen Sie«, sagte ich, vor allem, um den Blickkontakt zwischen Jacob und ihr zu brechen, »aber sicherlich haben wir Sie im Schlaf gestört.«

»Schlaf?« fragte sie. »Bei diesem Gerumpel? Ganz sicher nicht. Aber vielleicht haben Sie recht, und wir sollten es versuchen. Hier!« Sie zog eine der Decken aus ihrer Lagerstätte und reichte sie mir.

»Das können wir unmöglich annehmen«, versetzte ich.

»Natürlich können Sie. Von niemandem kann verlangt werden, daß er auf dem blanken Holz schläft.«

Ich spürte den Drang, mit einem Blick Jacobs Bestätigung einzuholen, doch dann besann ich mich eines Besseren. Ich brauchte ihn nicht, um diese Entscheidung zu treffen. Und war nicht ich es, dem sie ihre Decke anbot? Als ich die Hand ausstreckte und danach griff, holperte der Wagen über einen Stein, und der Ruck ließ mich...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 1805 • 19.Jahrhundert • Abenteuer • Brüder Grimm • Deutschland • Geheimbund • Geheimorganisation • Geschichte • Goethe • Grimm • Historischer Kriminalroman • Krimi • Mord • Mörder • Rätsel • Roman • Schiller • Verschwörung • Weimar
ISBN-10 3-8412-1210-7 / 3841212107
ISBN-13 978-3-8412-1210-8 / 9783841212108
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