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Rabenfrauen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 3. Auflage
400 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-42964-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rabenfrauen -  Anja Jonuleit
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»Doch das Allerschlimmste war der Verrat.« Jahrhundertsommer 1959 in Grösitz: Die Freundinnen Ruth und Christa genießen die letzten Ferien vor dem Abitur. Eines Abends lernen sie beim Baden im nahe gelegenen Bach Erich kennen, der zu einer Gruppe freikirchlicher Christen gehört, die dort ihre Zelte aufgeschlagen hat. Eine willkommene Abwechslung fu?r die Mädchen, die fortan viel Zeit im Zeltlager verbringen. Aber dann verlieben sich alle beide in Erich. Und das Schicksal der Freundinnen ändert sich fu?r immer - auf dramatische Weise.   Kennen Sie bereits die weiteren Romane von Anja Jonuleit bei dtv? »Der Apfelsammler« »Das Nachtfräuleinspiel« »Novemberasche« »Herbstvergessene« »Die fremde Tochter« »Das letzte Bild«

Anja Jonuleit wurde in Bonn geboren. Sie arbeitete als Übersetzerin und Dolmetscherin, bis sie anfing, Romane und Geschichten zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie nahe Friedrichshafen.

Anja Jonuleit wurde in Bonn geboren. Sie arbeitete als Übersetzerin und Dolmetscherin, bis sie anfing, Romane und Geschichten zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie nahe Friedrichshafen.

Der Tag, an dem Anne sie das erste Mal sah, war ein Sonnabend und sollte später als der heißeste Tag des Jahres 2010 in die Wetterchronik eingehen. Was insofern eine Rolle spielte, als sie sich durch die Hitze überhaupt erst kennenlernten. Durch die Hitze und ihre gerade überstandene Malaria Tertiana. Jedenfalls war Anne an diesem Nachmittag »auf Totengang« unterwegs. Um Abschied zu nehmen von Maximilian, der in diesem Rekordsommer im Teufelsmoor an Unterkühlung gestorben war.

Als die Hiobsbotschaft sie erreicht hatte, war Anne gerade auf einer Forschungsstation im Kongo gewesen, und ob es nun mit dieser Nachricht zusammenhing oder nicht: Am Nachmittag desselben Tages hatte sie Schüttelfrost bekommen, sich dann die Seele aus dem Leib gewürgt und am Ende dermaßen geschwitzt, dass sie in ihrem eigenen Schweiß hätte davontreiben können. Was folgte, waren Tage im Vakuum, die auch im Nachhinein nicht gefüllt werden konnten. Die Zeit war für immer verloren in einem Fiebertraum, in dem die Nachricht von Maximilians Tod umherwaberte und verschmolz mit den Lauten des Urwalds, den Rufen der Bonobos und den Erinnerungen an die Raben, die nun, im Lichte der Ereignisse, etwas Dunkles, Unheilvolles an sich hatten. Später dann dachte sie, dass – so seltsam es auch klingen mochte – die Malaria sie davor bewahrt hatte zu sterben, einfach so, nach dem Anruf ihrer Mutter.

»Maximilian ist tot«, hatte Ruth ohne viel Federlesens gesagt. Er sei im Moor umgekommen, beim Beobachten der Raben. Ruth war schon immer der Meinung gewesen, die Dinge verbesserten sich nicht, nur weil man drum herumredete. Anne jedoch hatte in dem Moment nur denken können, dass das alles gar nicht sein konnte. Sie hatte doch noch mit ihm telefoniert, während er auf dem Weg zu seinem Unterstand war. Dann fiel ihr etwas anderes ein: Sie musste die Letzte gewesen sein, mit der er gesprochen hatte. Unmittelbar danach war die Malaria gekommen und hatte einen Kokon des Vergessens um sie gesponnen, in dem nichts mehr zählte als der Körper, der gebeutelt wurde von immer neuen Schüttelfrostattacken und Fieberschüben.

 

Wie im Fieber fühlte sie sich auch heute, was aber an der Hitze lag, die sich schon jetzt, am Vormittag, zwischen den Heidesträuchern festgesetzt hatte. Auch war sie insgesamt noch recht klapprig auf den Beinen, und weil der Weg weit war und man nicht anders an das Moor herankam, war sie mit dem Rad unterwegs. Von der Striezelbrücke aus warf sie einen sehnsüchtigen Blick ins Wasser, das, wie sie wusste, auch im heißesten Sommer so kalt blieb, dass man nach einer Weile das Gefühl hatte, in einer Gefriertruhe zu stehen. Eine Vorstellung, die ihr im Moment durchaus reizvoll erschien.

Auf der anderen Seite bog sie links ab und folgte dem Weg am Fluss entlang. Zu Beginn hatte sie noch recht flott in die Pedale getreten, doch als nun das Alte Gut auftauchte, endete die Fahrbahnbefestigung und Anne blieb mit den Reifen im feinen weißen Sand stecken. Möllersand, so hatte Annes Oma Käthe den immer genannt. Sie stieg vom Rad und blickte die Allee entlang, die direkt auf das Backsteingebäude zuführte. Schön, dachte sie, und konzentrierte sich ganz auf das Grün der Linden vor der roten Ziegelfassade. Jeder Gedanke, der nichts mit Maximilian zu tun hatte, war ihr willkommen. Sie zwang sich, das Haus genau anzusehen: die weißen Sprossenfenster, die Freitreppe, die zu der schweren schwarzen Eingangstür führte, das Rosenspalier. Seit sie als Kind hier am Flussufer entlanggestrichen war, hatte das Haus so ausgesehen, hatte still und unberührt dort gestanden, wie immun gegen den Fortgang der Zeit. Einmal, vor Jahren, hatte Ruth etwas von Erbstreitigkeiten erzählt, ein Familienzwist, der den Verkauf des Anwesens unmöglich machte. Wie lange konnte sich so etwas hinziehen?

In dem Moment hörte Anne ein Kind rufen. Sie drehte sich um, sah den Weg auf und ab, konnte aber niemanden entdecken und begriff, dass die Stimme von dem Grundstück kommen musste. Hatten Kinder das Gelände als Abenteuerspielplatz für sich entdeckt, so wie sie früher, wenn sie in den Ferien bei ihrer Großmutter zu Besuch gewesen war? Sie ging weiter, vorüber am Gutshaus, und warf einen Blick auf das Verwalterhäuschen, das ein Stück vom Haupthaus entfernt nach hinten versetzt lag.

Da erst bemerkte sie die Veränderung.

Wo früher nichts als Wiese gewesen war, blühten nun Phlox und Fingerhut und gelbe Rosen, während im anderen Teil Tomaten und Stangenbohnen ganz offensichtlich prächtig gediehen. Auch das Häuschen, das früher vernachlässigt gewirkt hatte, sah nun anders aus: Haustür und Fensterläden leuchteten in warmem Gelb und auf der Wäscheleine hing weiße Bettwäsche. Einen Augenblick lang glaubte Anne, sie sei ins Werbefernsehen geraten, so schön und makellos war das Bild, das sich ihr präsentierte. Und um alles noch ein bisschen unwirklicher zu machen, hörte sie plötzlich wieder die Kinderstimmen, ein Rufen: »Alma, Alma!«, und dann bogen zwei kleine Mädchen in geblümten Sommerkleidern um die Hausecke. Ihre dunklen Zöpfe flatterten im Lauf, die Größere von beiden reckte eine rote Plastikschaufel in die Höhe, die die andere wohl unbedingt haben wollte. Anne musste lächeln und einen kurzen Moment lang vergaß sie sogar, warum sie hier unterwegs war, und dachte daran, was das für ein wunderbarer Ort für eine Familie war. Gebannt sah Anne den beiden Mädchen nach, wie sie über die Wiese rasten, bis die Ältere, offenbar Alma, in den Sandkasten sprang und die Schaufel fallen ließ. Triumphierend stürzte sich die Kleine darauf und umklammerte die Schaufel mit beiden Händen, als befürchte sie, dass die andere ihr die wertvolle Beute gleich wieder wegschnappen würde.

Anne blieb noch eine Weile stehen und sah ihnen zu, wie sie im hellgelben Sand saßen. Die Kleine begann sofort mit Kuchenbacken, die Ältere ließ Sand durch ihre Finger rieseln. Anne konnte den Blick nicht von ihnen nehmen, bis die Flügeltür zur Terrasse aufschwang und eine blond gelockte Frau in einem wadenlangen Rock herauskam, einen Wäschekorb im Arm. Sie stutzte, als sie Anne entdeckte. Anne lächelte ihr zu und rief einen Gruß. Peinlich, dachte sie, wie muss das aussehen? Eine neugierige Tante, die sich vor lauter Gucken nicht einkriegt. Die Frau erwiderte Annes Nicken knapp und begann die Laken von der Leine zu nehmen.

Erst später verstand Anne, was sie am Anblick dieser Kinder und auch der Frau so berührt hatte: Es war geradeso gewesen, als hätte sie durch ein Fenster in die Vergangenheit geschaut, in eine Zeit, in der sie selbst auf Fotos mit gezacktem Rand zu sehen war, im Album ihrer Großmutter.

 

Während Anne weiter durch den Sand pflügte, zweifelte sie daran, ob es so clever gewesen war, das Rad mitzunehmen. Sie hatte vergessen gehabt, wie diese Heidewege waren. Am Ende stellte sie das Rad einfach am Wegrand ab und ging zu Fuß weiter, die Rose für Maximilian in der schwitzigen Hand.

Nach einer halben Stunde verfluchte sie ihren Eigensinn. Warum hatte sie das unbedingt heute machen müssen, bei vierzig Grad im Schatten! Eine Schnapsidee, aber so war sie nun mal. Schon immer hatte sie die Beschränkungen, die der Körper ihr auferlegte, nicht akzeptieren wollen. Wenn sie nur an die Nächte dachte, in denen sie ihre Doktorarbeit geschrieben hatte: literweise Kaffee, den sie am Ende hatte runterwürgen müssen. Oder an ihre Forschungsreisen in den Kongo, wo sie sich noch jedes einzelne Mal mit Malaria infiziert hatte, was sie jedoch nie davon abgehalten hatte, wieder und wieder dorthin zu reisen, um ihr Bonobo-Projekt durchzuführen. Und das war auch etwas gewesen, das Maximilian und sie gemeinsam hatten: das Hinausschieben der eigenen Grenzen, der Versuch, sie zu sprengen. Und nun war Maximilian tot, letztlich gerade aus diesem Grund.

Die Stille auf dem Moor war bedrückend und die Hitze der in einem Backofen nicht unähnlich. Irgendwann lichtete sich der Bewuchs, die Bäume wurden spärlicher und Anne schleppte sich von Schatteninsel zu Schatteninsel, wo sie jedoch nie länger stehen bleiben konnte, weil die Gnitzen im Schatten deutlich angriffslustiger waren als in der prallen Sonne. Sie konnte es sich also aussuchen: entweder von einem Hitzschlag niedergestreckt zu werden oder als quaddelübersätes Monster zurückzukehren. Wobei sie da in der letzten Nacht ja auch schon einiges abbekommen hatte. Sie musste an Hermann Löns denken, der als Dichter und wegen seiner politischen Einstellung zwar umstritten, als Naturkenner aber herausragend gewesen war. Löns war vor nichts zurückgeschreckt, auch nicht davor, sich bei seinen Beobachtungen bis zum Hals im Schlamm zu versenken.

Es dauerte etwa zwei Stunden, bis Anne sich eingestehen musste, dass sie die Stelle nicht finden würde. Die Rose in ihrer Hand ließ den Kopf hängen und auch sie selbst fühlte sich inzwischen ziemlich dehydriert. Noch einmal holte sie die topografische Karte aus der Tasche. Ihrer Meinung nach war sie in der richtigen Richtung unterwegs, wobei die Informationen, die sie von der Feuerwehr bekommen hatte, nicht allzu präzise gewesen waren. Schließlich war man hier nicht erpicht darauf, noch eine Leiche aus dem Moor zu bergen.

Am Ende gab sie auf. »So scheitert der Kongoforscher an der Heide«, fluchte sie mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hin und nahm den letzten Schluck aus ihrer Wasserflasche. Sie hatte das Teufelsmoor unterschätzt. Außerdem hatte sie angenommen, deutlichere Spuren der Rettungsaktion zu entdecken. Wahrscheinlich war der Leichnam per Helikopter geborgen...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adoption • Bestseller • Chile • christliche Sekte • Colonia Dignidad • Erste Liebe • Familie • Frauen • Frauenfreundschaft • Frauenroman • Frauenschicksal • Frauenunterhaltung • Freundschaft • Gesellschaftsroman • Jahrhundertsommer • Missbrauch • Paul Schäfer • Psychoterror • Religiöser Fanatismus • Schicksal • Schicksalsroman • Sekte • Vergangenheit • Verrat • Villa Baviera
ISBN-10 3-423-42964-X / 342342964X
ISBN-13 978-3-423-42964-1 / 9783423429641
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