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Der Weg nach Hause -  Fabio Volo

Der Weg nach Hause (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 2. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60725-3 (ISBN)
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Der Vater ist krank und braucht Hilfe. Ausgerechnet jetzt, da Marco sich mit einem Restaurant in London etablieren möchte und sein Bruder Andrea um seine Ehe bangt. Doch die Schwierigkeiten eröffnen auch neue Wege. Denn in der Kleinstadt seiner Kindheit trifft Marco seine erste Liebe wieder, Isabella. Eine bittersüße Familiengeschichte all'italiana.

Fabio Volo, geboren 1972 bei Brescia in der Lombardei, ist Autor mehrerer Bestseller, Schauspieler in Filmen z. B. von Alessandro D'Alatri und Cristina Comencini sowie in der Verfilmung seines eigenen Romans (?Il giorno in più - Noch ein Tag und eine Nacht?) durch Massimo Venier, und er hat eigene Sendungen in Radio und Fernsehen. Fabio Volo lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Mailand.

{9}Achtziger Jahre


In den achtziger Jahren wurde viel gelacht. Viel mehr als heute.

Man lachte bei der Arbeit, in der Schule, mit Freunden, ganz besonders aber im Fernsehen. Es war eine fabelhafte Zeit. Italien gewann die Fußball-Weltmeisterschaft in Spanien, die Musik wurde von DJs gemacht, und die Discobeats wummerten aus allen Radios und Geschäften. Damals lief sogar der Papst Ski. Es herrschte ein Gefühl grenzenloser Freiheit, bald würde auch die Berliner Mauer fallen.

Der neue Körperkult führte dazu, dass überall Fitnessstudios wie Pilze aus dem Boden schossen, Aerobic-Kurse für Frauen, Bodybuilding für Männer, Sonnenstudios. Ein tiefgebräunter, durchtrainierter Körper, den man dann in teuren Markenklamotten und mit verspiegelter Brille zur Schau stellte, war ein absolutes Muss.

Im Fernsehen trat, wann immer man einschaltete, unweigerlich einer auf, der nur dazu da war, einen zum Lachen zu bringen, für Zerstreuung zu sorgen, Preise zu verschenken oder einfach nur ein paar witzige Sätze oder einen Ohrwurm von sich zu geben, leicht konsumierbare Kost. Überall wimmelte es von Goldjetons, Konfetti, Fanfaren, Glitzerröckchen und knallbunten Sakkos. Überall Gesichter mit strahlendem Lächeln, mit vollen Lippen und {10}Mündern, die dem Publikum Luftküsse zuwarfen. Überall Konsumgüter. In den achtziger Jahren hatte man den Eindruck, alles sei käuf‌lich. Auch Fröhlichkeit. Plötzlich schien Reichtum selbst für die Armen zum Greifen nah. Hatte man früher in den Familien noch Sätze gehört wie: »Das können wir uns nicht leisten«, oder: »Das liegt jenseits unserer Möglichkeiten«, so schien all das nun plötzlich wie weggefegt, zusammen mit der Kultur der Sparsamkeit. Alles, was man verdiente, wurde ausgegeben, und wenn das Einkommen nicht reichte, griff man zum Leasing. Der Lebensentwurf bestand nicht mehr darin, sich eine Zukunft aufzubauen, man kauf‌te sich einfach ein großes Lotterielos. Vielleicht begannen die Worte in dieser Zeit, ihre eigentliche Bedeutung zu verlieren und sich in Masken zu verwandeln, hinter denen sich kein Gesicht mehr verbarg. Alles wurde zum Superlativ.

Vielleicht lebte die Familie Bertelli – Vater, Mutter und zwei Söhne – deshalb in einem ständigen Gefühl der Unzulänglichkeit. Sie waren aus dem Takt gekommen, aus der Zeit gefallen.

Das traf weniger auf die Eltern zu als auf die Söhne. Während die ganze Welt ein großes Fest feierte, hatten die beiden das Gefühl, als Einzige zu dieser Party nicht eingeladen zu sein. Und darauf reagierte jeder von ihnen, so gut er konnte, und suchte sich seine eigene, ganz private Rückzugsmöglichkeit.

Marco, der Jüngere, hatte zwei Methoden, sich von der Welt abzuschotten und in die innere Isolation zurückzuziehen. Die eine bestand darin, sich aufs Bett zu legen und Musik zu hören. Als ihm La Bamba nach fast einem Jahr {11}zu den Ohren rauskam, nahm er sämtliche Platten seines Vaters in Beschlag und deponierte sie, zusammen mit denen, die er sich selbst gekauft hatte, in seinem Zimmer. Dort lag er dann mit Kopfhörern auf dem Bett und gab sich alle Mühe, seinen Kopf mit Musik abzufüllen, und damit sie genug Platz darin fand, musste er alle anderen Gedanken und Bilder daraus vertreiben. Mit Ausnahme der Bilder, die die Musik in ihm auslöste: von Reisen an ferne Orte, die er aus dem Fernsehen oder Kino kannte und die er eines Tages mit eigenen Augen sehen wollte: Er träumte davon, in einem Kabrio oder mit dem Motorrad durch Kalifornien zu kurven, an traumhaften Stränden in Australien zu surfen, mit dem Rucksack durch Mexiko zu reisen, auf Kuba dicke Zigarren zu rauchen. Diese kleinen Fluchten waren eine gute Übung für die Phantasie, und wenn er dann einschlief, wurde ihm immer leichter, so leicht, wie nur ein Herz voller Neugier und Abenteuerlust zu sein vermag.

Die andere Methode bestand darin, die Stille zu suchen, alle Geräusche auszublenden und in sich hineinzuhorchen: auf die Gedanken, den Puls, den Atem, in dem Versuch, sich selbst zu lauschen, immer tiefer in sein Innerstes vorzudringen, auf der Suche nach letztgültigen Antworten, wie ein Höhlenforscher der Seele, und dabei, falls es ihn denn gab, einen Weg zu finden, ein zweites Mal geboren zu werden. Um zu dem Punkt zu gelangen, wo die Stimmen der anderen verstummen und die eigene Stimme sich erhebt, die wahre. Einzigartige. Unbedingte. Eine innere Stimme, die ihn leiten und lehren würde, Unruhe und Zweifel zu überwinden.

An diesem Abend hatte sich Marco für die Musik {12}entschieden, er lag auf dem Bett, spielte mit dem Kabel der Kopfhörer und guckte an die Decke. Es war ein Sommerabend, Ende Juli. Es war heiß. Das Fenster in seinem Zimmer stand offen, draußen hatte sich gerade die Alarmanlage eines parkenden Autos ausgeschaltet, und die Hunde hatten aufgehört zu bellen. Nichts regte sich, außer den kreisförmigen Bewegungen des Kabels. Bob Dylan sang I’ll Be Your Baby Tonight, und an diesem Abend hörte sich der Mann mit der rauhen Stimme noch melancholischer an als sonst.

Wenn er Bob Dylan hörte, atmete Marco die kühle Luft von New York ein und träumte davon, dort Arm in Arm mit Isabella, seiner Freundin, durch den Schnee zu laufen, genauso wie Bob Dylan mit seiner Freundin Suze Rotolo auf dem Cover von The Freewheelin’. Das Album von 1963, das seiner Mutter so sehr gefiel. Das Album, in dem sogar Sophia Loren erwähnt wurde. Es gefiel ihm, wenn italienische Namen oder Dinge irgendwo auf der Welt erwähnt wurden. Das machte ihn stolz, als ginge es um jemand, den er kannte. Genauso erging es ihm, wenn er im Abspann amerikanischer Filme italienische Familiennamen las, dann stellte er sich vor, das wären Kinder von Emigranten, die es geschafft hatten. Und er freute sich für sie.

An diesem Abend gingen ihm düstere Gedanken durch den Kopf. Plötzlich waren alle unterschwelligen Ängste, die sonst gut versteckt tief in ihm auf der Lauer lagen, wiederaufgetaucht und hatten sich auf ihn gestürzt wie eine Meute, die sich über ein waidwundes Tier hermacht. Um das beklemmende Gefühl in der Brust zu verscheuchen, stellte er sich vor, er würde entschlossen vom Bett aufspringen, das {13}Zimmer verlassen, die Treppe hinunterstürzen und ohne anzuhalten, so schnell er konnte, quer durch die ganze Stadt bis zu Isabellas Wohnung rennen. Dann würde er nach ihr rufen, sie bitten herunterzukommen und mit ihr fortgehen. Er würde sie mitnehmen in eine bessere Welt, ohne all die dämlichen Komplikationen der Erwachsenen. Ohne all die Verbote, das Unbehagen und die notorische Heuchelei. Der Abend war stressig verlaufen, beim Essen hatte es Spannungen gegeben. Inzwischen war die Luft so dick, dass man kaum noch atmen konnte. Am liebsten hätte er geheult, geheult und sich eine Zigarette angezündet, aber das waren genau die beiden Sachen, die er nur tun konnte, wenn er allein war. Rauchen war verboten, das war nur etwas für Erwachsene. Weinen, eine kindliche Schwäche, war ebenfalls verboten. An diesem Abend fühlte er sich wie zwischen beiden Welten.

Er war kein Raucher, noch nicht. Wenn er rauchte, dann heimlich, beispielsweise wenn er mit seinen Freunden unterwegs war, zu Hause jedoch praktisch nie, und wenn, dann im Bad bei weit aufgerissenem Fenster. Das war höchstens fünf- oder sechsmal vorgekommen, öfter nicht, wobei er die Kippe mit der klassischen Bewegung von Mittelfinger und Daumen möglichst weit wegschnippte, sich danach sofort die Zähne putzte und ein Kaugummi mit Pfefferminzgeschmack in den Mund steckte. Beim ersten Mal hatte er nämlich den Fehler gemacht, die Kippe in die Toilette zu werfen, um dann beim Betätigen der Spülung feststellen zu müssen, dass sie immer noch im Wasser schwamm. Daraufhin hatte er Klopapier draufgeworfen und erneut abgezogen, aber es funktionierte nicht. Am {14}Ende war ihm nichts anderes übriggeblieben, als die Kippe mit den Fingern herauszufischen und aus dem Fenster zu werfen.

Aber sich jetzt hier im Zimmer eine anzustecken, speziell an diesem Abend, wäre etwas völlig anderes gewesen, das konnte man überhaupt nicht vergleichen. Da ging es nicht um die Lust am Rauchen, den Reiz des Verbotenen oder ein gesundes Aufbegehren, wie es bei Jungs in seinem Alter oft mit dem Rauchen verbunden ist. Nein, wenn er so etwas Unerhörtes tat, würde er Stellung beziehen und sich offiziell zu seiner Identität bekennen. Damit würde er eine Grenze überschreiten, aus dem Schatten hervortreten und sich selbst behaupten.

Er war nicht allein zu Hause. Nebenan waren seine Eltern und bei ihm im Zimmer sein drei Jahre älterer Bruder, der wie immer am Schreibtisch saß.

Andrea stand nicht auf Musik, für ihn gab es nur Lernen oder Lesen, möglichst komplizierte Sachen. Je schwieriger, desto lieber. Das war seine Art, sich gegen die Bosheit der Welt abzuschotten, seine Art von Selbstschutz. Seit je hatte er eine Vorliebe für Formeln, Gleichungen und Übersetzungen, darauf war er echt fixiert.

Andrea hatte ein angeborenes Talent für alles Abstrakte.

Diese totale Hingabe hatten ihn zum Klassenprimus gemacht und zum Einzigen in seiner Klasse, der aus dem Lateinischen direkt ins Griechische übersetzte, ohne den Umweg über das Italienische. Eine völlig sinnlose Hirnakrobatik.

Marco hatte aufgehört, die Decke anzustarren, und beobachtete jetzt seinen Bruder, er musterte den gebeugten Rücken und fragte sich, wer dieser Junge wohl sei, der mit {15}ihm das Zimmer teilte. Ein Fremder. Ein Alien. Wieso waren sie so verschieden, obwohl sie doch Brüder waren? Kinder derselben Eltern, derselben prüden Erziehung. Er beispielsweise hätte sich nie und nimmer eine Abbildung des Vitruvianischen...

Erscheint lt. Verlag 25.5.2016
Übersetzer Petra Kaiser
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel La strada verso casa
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Älterwerden • Bruder • Demenz • Ehe • Ehebruch • Erwachsenwerden • Geschwister • Krankheit • Liebe • Männer • Sex • Sterbehilfe • Tod • Vater-Sohn-Beziehung
ISBN-10 3-257-60725-3 / 3257607253
ISBN-13 978-3-257-60725-3 / 9783257607253
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