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Mein Leben als Schäfer (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016
288 Seiten
Bertelsmann, C. (Verlag)
978-3-641-18323-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Leben als Schäfer - James Rebanks
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Das Leben auf dem Land - packend und authentisch
erzählt

James Rebanks' Familie lebt seit Generationen im englischen Hochland, dem Lake District. Die Lebensweise ist seit Jahrhunderten von den Jahreszeiten und Arbeitsabläufen bestimmt. Im Sommer werden die Schafe auf die kahlen Berge getrieben und das Heu geerntet; im Herbst folgen die Handelsmessen, wo die Herden aufgestockt werden, im Winter der Kampf, dass die Schafe am Leben bleiben, und im Frühjahr schließlich die Erleichterung, wenn die Lämmer geboren und die Tiere wieder in die Berge getrieben werden können. James Rebanks erzählt von einer archaischen Landschaft, von der tiefen Verwurzelung an einen Ort. In eindrucksvoll klarer Prosa schildert er den Jahresablauf in der Arbeit eines Hirten, bietet uns einen einzigartigen Einblick in das ländliche Leben. Er schreibt auch von den Menschen, die ihm nahe stehen, Menschen mit großer Beharrlichkeit, obwohl sich die Welt um sie herum vollständig verändert hat.

James Rebanks, geboren 1974, ist Farmer und Schäfer im Lake District im Norden Englands, wo seine Familie seit über sechshundert Jahren ihrer Arbeit in dieser kargen Landschaft nachgeht. Sein erstes Buch, der eindrucksvolle autobiografische Bericht »Mein Leben als Schäfer«, war ein großer internationaler Erfolg und verschaffte ihm in England fast Kultstatus. Einblicke in sein Leben auf Twitter (@herdyshepherd1) und Instagram.

~

Wir waren anders, von Grund auf anders, das wurde mir an einem verregneten Vormittag im Jahr 1987 bewusst. In der Gesamtschule unserer nächstgelegenen Kleinstadt, einem schäbigen Betonbau typisch Sechzigerjahre, hatten sich sämtliche Schüler in der Aula versammelt. Ich war ungefähr dreizehn, hockte inmitten all der anderen schulischen Leistungsverweigerer und ließ die Ansprache der kampfesmüden alten Lehrerin über mich ergehen. Es ging wieder einmal darum, dass wir uns doch höhere Berufsziele stecken sollten als nur Landarbeiter, Schreiner, Maurer, Elektriker oder Frisörin. Die Frau hatte uns diese Predigt schon unzählige Male gehalten, reine Zeitverschwendung, wie sie selbst wusste. Ebenso wie unsere Väter und Großväter, Mütter und Großmütter waren wir fest entschlossen, zu sein, was wir waren und immer schon gewesen sind. Viele von uns waren nicht auf den Kopf gefallen, dachten aber nicht im Traum daran, ihren Grips in der Schule vorzuführen. Das wäre uns nicht gut bekommen.

~

Zwischen dem Weltverständnis dieser Lehrerin und unserem eigenen klaffte ein Abgrund. Letztes Jahr hatten alle Schüler unseres Jahrgangs, denen eine Schulbildung nicht völlig egal war, aufs Gymnasium gewechselt. Übrig blieben nur die Loser, die nun die nächsten drei Jahre an einem Ort absitzen mussten, von dem sich alle nur wegwünschten. Das führte zu einer Situation ähnlich einem Guerillakrieg: Lehrer, die ihre Illusionen weitgehend verloren hatten, standen den angeödetsten, aggressivsten Jugendlichen gegenüber, die man sich nur vorstellen kann. Unsere ganze Klasse spielte gern ein »Spiel«, bei dem es darum ging, innerhalb einer Unterrichtsstunde schulische Ausstattung von größtmöglichem Wert zu schrotten und das Ganze als »Panne« zu verkaufen.

Bei solchen Aktionen war ich gut.

Der Boden war übersät mit kaputten Mikroskopen, Tierpräpa­raten, zersplitterten Stühlen und zerfetzten Büchern. Eine in Form­aldehyd konservierte Froschleiche lag mit gespreizten Gliedern auf dem Boden wie ein Brustschwimmer. Die Gashähne brannten wie eine Bohrinsel, ein Fenster bekam einen Sprung. Die Lehrerin starrte uns nur noch an, in Tränen aufgelöst und völlig am Ende, während ein Techniker versuchte, die Ordnung wiederherzustellen. Eine Mathestunde gewann für mich erst an Reiz, als der Lehrer und ein Mitschüler mit Fäusten aufeinander losgingen. Der Junge rannte davon, die Treppe hinunter und über die schlammigen Sportplätze, der Lehrer immer hinterher, bis er den Jungen niederschlug, ehe er in die Stadt entwischen konnte. Wir klatschten, als hätten wir ein spannendes Rugby-Duell verfolgt. Von Zeit zu Zeit versuchte jemand – stets ein Stümper –, die Schule in Brand zu stecken. Ein Junge, den wir schikanierten, brachte sich ein paar Jahre später mit seinem Auto um. Es war, als steckten wir in einem Ken-Loach-Film fest: Niemand wäre überrascht gewesen, wenn ein magerer Junge mit einem Turmfalken aufgetaucht wäre.

Einmal hielt ich unserem verblüfften Direktor vor, die Schule sei in Wahrheit ein Gefängnis und ein »Übergriff auf meine Persönlichkeitsrechte«. Er sah mich befremdet an und fragte: »Aber was willst du denn zu Hause?«, als könne es darauf unmöglich eine Antwort geben. »Auf dem Hof arbeiten«, erwiderte ich genauso entgeistert – warum kapierte der Mann nicht, wie einfach die Sache war? Er zuckte resigniert mit den Schultern, meinte, ich solle mich nicht lächerlich machen, und ließ mich stehen. Wenn man etwas wirklich Gravierendes angestellt hatte, schickte er einen nach Hause. Deshalb überlegte ich, ob ich ihm nicht einen Ziegelstein durchs Fenster werfen sollte, traute mich dann aber doch nicht.

1987 hing ich also in dieser Schulversammlung meinen Tagträumen nach; ich starrte in den Regen hinaus und fragte mich, mit welchen Arbeiten die Männer auf unserem Hof gerade beschäftigt waren und welche ich davon wohl übernommen hätte. Irgendwie drang zu mir durch, dass von den Tälern des Lake District die Rede war, in denen mein Großvater und Vater ihre Höfe bewirtschafteten. Da schaltete ich auf Empfang. Aber schon nach ein paar Minuten Zuhören wurde mir klar, was diese Lehrkraft von uns hielt: Wir seien zu blöd und zu fantasielos, um »aus unserem Leben etwas zu machen«. Wir müssten über uns selbst hinauswachsen, wetterte sie. Wir seien zu beschränkt, um auch nur den Wunsch zu verspüren, diese Gegend zu verlassen, eine Gegend, in der es nur provinzielle Engstirnigkeit gebe und schmutzige Arbeit, die zu nichts führe. Hier hätten wir keine Zukunft, wir sollten endlich die Augen aufmachen und das einsehen. Aus ihrer Sicht war jeder, der so früh wie möglich von der Schule abgehen und mit Schafen arbeiten wollte, geistig mehr oder weniger minderbemittelt.

Dass wir, unsere Väter und unsere Mütter stolze, hart arbeitende und intelligente Menschen sein könnten, die Nützliches, vielleicht sogar Bewundernswertes leisteten, überstieg den ­geistigen Horizont dieser Frau. Erfolg definierte sich für sie über Bildung, Ehrgeiz, Unternehmungsgeist und eine glanzvolle Karriere, doch damit konnten wir nicht punkten. Ich glaube nicht, dass an dieser Schule jemals das Wort »Universität« fiel. Dort hätte auch keiner von uns hingewollt. Denn wer wegging, gehörte nicht mehr dazu. Er veränderte sich, und damit gab es für ihn kein Zurück mehr, was wir instinktiv spürten. Bildung war ein »Ausweg«, ein Weg in die Welt hinaus, aber dorthin wollten wir gar nicht, wir hatten unsere Wahl längst getroffen. Später begriff ich, dass man in modernen Industriegesellschaften geradezu besessen davon ist, »weiterzukommen« und »etwas aus seinem Leben zu machen«. Darin drückt sich eine Abwertung aus, die ich unerträglich finde: Wer bleibt, wo er ist, und körperlich arbeitet, gilt nicht viel.

Ich hörte der Lehrerin zu und ärgerte mich immer mehr, als sich herausstellte, dass sie unsere Gegend kannte und seltsamerweise auch noch zu lieben vorgab. Aber sie redete und dachte in Begriffen, die meiner Familie und mir völlig fremd waren. Sie liebte eine »wilde« Landschaft voller Berge, Seen, Muße und Abenteuer, bevölkert von einigen wenigen Menschen, denen ich nie begegnet war. Der Lake District war in ihrem Monolog die Spielwiese von umherstreifenden Bergsteigern, Lyrikern, Wanderern und Fantasten … Menschen, die im Gegensatz zu unseren Eltern oder uns »wirklich etwas geleistet hatten«. Ab und zu ließ sie in ehrfürchtigem Ton einen Namen fallen und wartete vergeblich auf ein Zeichen von Interesse. Einer der Namen war Alfred Wainwright, ein anderer Chris Bonnington, und immer wieder ließ sie sich des Langen und Breiten über einen gewissen William Wordsworth aus.

Ich hatte von keinem dieser Leute je gehört. Ich glaube, außer den Lehrern hatte niemand in der Aula von ihnen gehört.

~

In jener Schulversammlung begegnete mir zum ersten Mal diese im Kern romantische Sicht unserer Region. Es schockierte mich nicht wenig, dass auf die Landschaft, die ich und Menschen meinesgleichen so liebten und seit Jahrhunderten bewohnten, auch noch andere Leute Besitzanspruch erhoben, mit Argumenten, die ich kaum nachvollziehen konnte.

Später las ich Bücher, befasste mich mit jenem »anderen« Lake District und begann ihn besser zu verstehen. Ich erfuhr, dass die Außenwelt bis etwa 1750 kaum Notiz von unserer gebirgigen Ecke im Nordwesten Englands genommen hatte. Wenn doch, tat man sie als arm, unproduktiv, primitiv, rau, hässlich und rückständig ab. Ich konnte es kaum fassen, dass bis dahin niemand die Schönheit dieser Landschaft gesehen hatte, dass sie niemandem einen Besuch wert gewesen war – und verfolgte fasziniert, wie sich innerhalb weniger Jahrzehnte alles veränderte. Straßen wurden gebaut und später Eisen­bahnen, die den Lake District leicht erreichbar machten. Und mit der einsetzenden Romantik, die das Pittoreske entdeckte, nahmen viele Menschen Berge, Seen und schroffe Landschaften wie die unsere anders wahr. Unsere Landschaft wurde plötzlich zum Magneten für Schriftsteller und Künstler, zumal die Alpen wegen der napoleonischen Kriege als Reiseziel ausfielen und die frühen Touristen gezwungen waren, stattdessen die heimischen Berglandschaften zu erkunden.

Die neue Begeisterung der Besucher richtete sich allerdings von Anfang an auf eine Fantasielandschaft, eine idealisierte, »geistige« Landschaft. Sie wurde zum Gegenpol anderer Entwicklungen, zum Beispiel der industriellen Revolution, die kaum hundert Meilen südlich ihren Ausgang nahm. Mit unserer Landschaft ließen sich Philosophien oder Ideologien illustrieren. Viele betrachteten den Lake District als Refugium, dessen herbe Landschaft und Natur Gefühle und Empfindungen wecken wie kein anderer Ort. Für viele Menschen existiert diese Landschaft, damit sie darin wandern oder klettern, sie betrachten, sie malen, über sie schreiben oder einfach nur von ihr träumen können. Viele möchten ihren Urlaub oder sogar ihr Leben hier verbringen.

Vor allem aber erfuhr ich, dass unsere Landschaft den Rest der Welt veränderte. Hier wurde zum ersten Mal der Gedanke formuliert, dass wir bei manchen Orten oder Dingen (ungeachtet aller Eigentumsrechte) ein unmittelbares Gefühl von Besitz empfinden, weil sie so schön, anregend oder einfach so besonders sind. Der romantische, im Lake District beheimatete Dichter William Wordsworth machte 1810 den Vorschlag, die Landschaft solle »eine Art nationaler Besitz werden, auf den ein jeder Anrecht habe und daran teilhaben solle, der Augen hat, um zu sehen, und ein Herz, um sich zu erfreuen«. Hier wurden Argumente formuliert, die heute weltweit den Natur- und Denkmalschutz prägen. Jede geschützte Landschaft auf der Welt, jedes Monument des...

Erscheint lt. Verlag 9.5.2016
Übersetzer Maria Andreas
Zusatzinfo s/w-Fotos im Text
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Shepherd's Life
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Biografie • Biographien • eBooks • Helen McDonald • H wie Habicht • Schafe züchten • Schafhirte • spiegel bestseller • the shephard's life
ISBN-10 3-641-18323-5 / 3641183235
ISBN-13 978-3-641-18323-3 / 9783641183233
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