99 deutsche Orte, die man knicken kann (eBook)
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56091-8 (ISBN)
Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirerpreis und den Preis des Hamburger Senats. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen von ihm u.a. der Bestseller 'Alle Orte, die man knicken kann'. Seit 2012 gibt er die erfolgreiche Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus. Mehr erfahren Sie unter: www.dietmar-bittrich.de
Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirerpreis und den Preis des Hamburger Senats. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen von ihm u.a. der Bestseller "Alle Orte, die man knicken kann". Seit 2012 gibt er die erfolgreiche Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus. Mehr erfahren Sie unter: www.dietmar-bittrich.de
Berlin und seine Mitte
Doch, ja, das ist es! Das berühmte Brandenburger Tor, vor dem die Fußballnationalmannschaft feiert, wenn sie ein wichtiges Spiel verloren hat. Das Tor, vor dem US-Präsident Ronald Reagan einst öffentlich die brennenden Fragen stellte: «Was ist das, und wo sind wir?» Und es ist das Tor, auf dessen anderer Seite, im Schatten der Säulen, Erich Honecker den russischen Bruder Michail Gorbatschow zu küssen versuchte.
Bis 1990 markierte das Brandenburger Tor die Grenze zwischen Ost-Berlin und West-Berlin. Im öden Brachland wirkte es damals größer. Inzwischen, von Neubauten umstellt, macht es einen geduckten Eindruck. Die meisten Besucher finden es unspektakulär, machen ein säuerliches Selfie und gehen weiter.
Schade! Denn der poröse Elbsandstein, aus dem die Säulen errichtet wurden, eignet sich besser als an jedem anderen Berliner Denkmal zum Einkratzen von Namen, Daten und kleinen Zeichnungen. Bezahlt wird neuerdings leider nichts mehr dafür.
Dafür taugt der Platz auf der Ostseite, der Pariser Platz, immer noch zum Geldverdienen. Hier können Familienväter die Reisekasse aufbessern, indem sie ihre Kinder zum Betteln ausschicken. Kinderlose können sich eine Maske aufsetzen (Alien, Putin, Guy Fawkes) und mit ausländischen Touristen für Fotos posieren. Fünf Euro werden von Japanern dafür bezahlt.
Professionelle Spaßmacher, die sich als russische Soldaten kostümieren oder als Berliner Bär, gelbes Huhn oder Micky Maus, werden neuerdings häufig vom Platz vertrieben, was für viel Spaß und Bewegung sorgt. Mobile Würstchengrills und Flyerverteiler müssen ebenfalls schnell sein. Den lebenden Statuen hingegen wird geraten, so echt wie möglich zu erstarren, damit die Aufseher keinen Verdacht schöpfen. Jongleure, Gaukler, Seifenbläser müssen weg.
Der Platz soll freigehalten werden von Kleinkünstlern, damit die wirklich großen Künstler zur Geltung kommen: die Präsentanten von Fashion Weeks, Luxuswagen und Stage-Events. Für solche Ereignisse wird das graue Tor eingerüstet und mit Werbung verhängt. Das ist allerdings höchstens an dreihundert Tagen im Jahr der Fall.
Und auch dann können Besucher oft noch die Quadriga erspähen, die Statue des Siegeswagens auf dem Dach. Wer genau hinschaut, erkennt unschwer, dass sie nicht vollständig ist. Immer fehlt etwas. Absägbare Teile – Hufe und Zaumzeug der Pferde, Flügelspitzen der Siegesgöttin, Speichen ihres Wagens – befinden sich regelmäßig zur Kupferverwertung in Polen. Kenner können sie bei eBay ersteigern, als Stange, Rolle, Blech oder – immer am günstigsten! – als Granulat.
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Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II., «der dicke Lüderjahn», ließ das Tor 1790 nach antikem Vorbild erbauen. Allerdings musste der mittlere Durchgang extra breit sein, «damit Ihro beleibte Majestät hindurchpasst». Majestät, bald zu schwer für die eigenen Beine, musste ab 1793 hindurchgetragen werden.
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Westlich des Tores liegt der Platz des 18. März, benannt nach dem Tag, an dem Christian Wulff 2012 als Bundespräsident zurücktrat. Hier beginnt die Straße des 17. Juni, so getauft zum Gedenken an den Tag der Unabhängigkeit Islands.
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Östlich können geduldige Beobachter ein hübsches Schauspiel an der Fassade des Hotels Adlon beobachten. Immer wieder halten dort – wie einst Michael Jackson – junge Eltern ihre Babys aus dem Fenster, bevorzugt aus dem King of Pop Memorial Window. Von unten wird fotografiert.
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Hoffnung für Reisende mit alten Eltern: Seit einigen Jahren ist das Betteln unter Vortäuschung von Krankheiten und Behinderungen verboten. Weisung des Ordnungsamtes: «Die Behinderung muss echt sein!» Alte Eltern mit Hut herumschlurfen lassen und vom Café aus beobachten.
Ein anderes Berliner Tor fotografieren! Die Unesco weigert sich ohnehin, das Tor am Pariser Platz auf die Liste des Welterbes zu setzen. Mehr Chancen haben die folgenden Bauten, die ebenfalls Brandenburger Tor heißen:
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Das Brandenburger Tor am Luisenplatz in Potsdam, errichtet unter Friedrich dem Großen, älter und wuchtiger als das Tor in Berlin. Von erstaunten Touristen («sieht anders aus als im Fernsehen») werden hier mehr Fotos gemacht als am Pariser Platz.
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Das Brandenburger Tor in Altentreptow (bei Neubrandenburg), erbaut um 1450, also wesentlich ehrwürdiger, allerdings auch wesentlich trübsinniger. Günstige Übernachtung und Verpflegung im Hotel «Zur Kegelbahn».
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Das Brandenburger Tor in Königsberg (Kaliningrad), ein neogotisches Gebäude, das russischen Bustouristen auf Schnäppchenreise («alle europäischen Sehenswürdigkeiten an einem Tag») als das eigentliche Brandenburger Tor vorgeführt wird.
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Vorsicht, Fälschung! In der westlich von Berlin gelegenen Stadt Brandenburg an der Havel gibt es einen Fußballverein. Dieser Brandenburger SC gibt seine beiden Tore sowie alle von ihm erzielten Treffer als «Brandenburger Tore» aus. Wegen des Verdachts der bewussten Irreführung sollen baldmöglichst Untersuchungen eingeleitet werden.
Die Museumsinsel. Ein Muss für alle, die langes Schlangestehen noch genießen können. Hier sind ein paar schöne Stunden drin, wie vor den Attraktionen in einem Vergnügungspark. Natürlich mit dem Unterschied, dass hier weder Attraktion noch Vergnügen folgen. Das Schlangestehen sei «schon Genuss genug», hat ein früherer Berliner Kultursenator vermutet.
Er hat recht. Anders ist es kaum zu erklären, dass alle Kulturbeflissenen sich wie auf Kommando auf den Weg machen und sich sonntags ab elf Uhr einreihen. Am liebsten vor einer Sonderausstellung und dann im Sommer, wenn die Sonne es so richtig gut meint und die Dieselabgase der Ausflugsschiffe («Spreefahrt») vollfett und dunkel heraufwabern. Die Museumsinsel ist nur theoretisch von Wasser umgeben, praktisch aber von betäubenden Verpuffungen.
An solch heißen, emissionsreichen Tagen rückt die Schlange oft schneller vor als erwartet. «Pro hundert Anstehenden kippen sieben bis elf pro Stunde um», berichtet ein Wärter am Neuen Museum. Manche der Zusammengesackten lassen sich wiederbeleben, müssen sich dann allerdings wieder hinten anstellen. Senioren bleiben größtenteils liegen, obwohl gerade ihnen ermäßigter Eintritt zustände. Schade. Doch es sind gerade diese kleinen Begebenheiten, die das Anstehen zu einem Erlebnis machen.
Und selbst drinnen kann es noch abwechslungsreich werden. Mögen die ausgestellten Werke auch hinter den Erwartungen zurückbleiben – das Durchschreiten der Säle und Gänge lohnt sich. Wegen des Aufsichtspersonals. Das ist viel faszinierender als die Bilder und Statuen. «Unsere Aufsichten sind angehalten, sich unauffällig zu bewegen, sich behutsam zu nähern und die Besucher ebenso dezent wie unmissverständlich auf Fehlverhalten aufmerksam zu machen», heißt es in einem offiziellen Papier der Stiftung Preußische Obrigkeitskultur.
Zum Fehlverhalten gehört das Ausziehen eines Pullovers bei laufendem Betrieb, die Annäherung an ein Ausstellungsstück bis auf weniger als Armeslänge, ein fachfremdes Gespräch oder das Lachen, Schnauben und Niesen vor einem unverglasten Werk. (Auch vor verglasten Werken ist das rechtzeitige Abwenden vor jeder körperlichen Entäußerung vorgeschrieben, Kleingedrucktes lesen!). Zum Glück schreitet das Personal rechtzeitig und beherzt ein. Es folgt verdächtigen Personen – «und letzten Endes sind alle verdächtig» – in angemessenem Abstand auf Schritt und Tritt und hält auch vor dem WC Wache.
«Wer irgendwo länger verweilt, muss sich damit abfinden, dass eine Aufsicht kommt und nachschaut, was er da tut», heißt es von Seiten der Stiftung. «Das geschieht nicht zuletzt zu unserer eigenen Sicherheit.» Besonderes Augenmerk gilt Besuchern des Neuen Museums, das – wie der Name schon andeutet – die vor- und frühzeitlichen Kulturen Eurasiens würdigt. «Das interessiert in Wirklichkeit niemanden, deshalb ist jeder Eintretende von vorneherein verdächtig.»
Besucher der Alten Nationalgalerie, in der die neuere Kunst zu sehen ist, werden unterdessen dreifach überwacht – per Chip, per Kamera und per persönlicher Begleitung durch eine Aufsicht. «Wir möchten einfach, dass jeder Besucher sich rund um die Uhr beobachtet fühlt, sodass er das Gefühl bekommt, etwas falsch zu machen, Schuldgefühle entwickelt und sich als genau das fühlt, was er ist: ein potenzieller Straftäter.»
Wie die Aufsichten das anstellen, wie sie sich heranpirschen, dann rasch vorgeben, sie sähen nicht hin, wie sie sich zunächst geduckt anschleichen, jedoch im letzten Moment abwenden, wie sie es bis zuletzt vermeiden, den Besucher direkt anzuspringen, es sei denn, sie müssen ihn wegen Niesens abführen: das ist...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2016 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga ► Humor / Satire |
Schlagworte | 99 • Brandenburger Tor • Deutschland • Elbphilharmonie • Ferien • Hofbräuhaus • Humor • Kölner Dom • Loreley • Lustige Bücher • lustige Reisebücher • lustige Urlaubsbücher • Neunundneunzig • Reiseführer Deutschland • Reisen • Schloss Neuschwanstein • Sehenswürdigkeiten • Sightseeing • Sylt • Touristen • Urlaub • witzige Bücher |
ISBN-10 | 3-644-56091-9 / 3644560919 |
ISBN-13 | 978-3-644-56091-8 / 9783644560918 |
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