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Der Mathematiker (eBook)

Mit einem Nachwort von Gürsel Aytaç. Roman. Türkische Bibliothek

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
304 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30604-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mathematiker -  O?uz Atay
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Der Ingenieur und Mathematiker Mustafa Inan ist ein Universalgelehrter: Zwar fiel er mit vier Jahren vom Dach, und sein Vater bezweifelt zeit seines Lebens, dass aus dem schwächlichen Jungen noch etwas Rechtes wird. Doch bald machen ihn sein mathematisches Genie, sein phänomenales Gedächtnis und seine eiserne Willenskraft zur Legende. Eine Promotion in der Schweiz befördert seine wissenschaftliche Karriere an der Technischen Universität Istanbuls, wo er schließlich Dekan und Rektor wird. Der eigenwillige Forscher und Lehrer verzweifelt jedoch an der Denkfaulheit, die sich in den Köpfen der Dozenten und Studenten wie eine Geisteskrankheit eingenistet hat. Unermüdlich sucht er nach einer Möglichkeit, die Logik Einsteins und die intuitive Weisheit der Sufi-Mystiker miteinander in Einklang zu bringen.

Oguz Atay, geboren 1934 in Inebolu im Norden der Türkei, war nach dem Studium mehrere Jahre lang als Dozent für Bauwesen an der Technischen Universität in Istanbul tätig. 1972 erschien Oguz Atays erster Roman Die Haltlosen, ein Jahr darauf Gefährliche Spiele, die beide zu den bedeutendsten Werken der türkischen Romanliteratur zählen. Er starb 1977 in Istanbul.

Oguz Atay, geboren 1934 in Inebolu im Norden der Türkei, war nach dem Studium mehrere Jahre lang als Dozent für Bauwesen an der Technischen Universität in Istanbul tätig. 1972 erschien Oguz Atays erster Roman Die Haltlosen, ein Jahr darauf Gefährliche Spiele, die beide zu den bedeutendsten Werken der türkischen Romanliteratur zählen. Er starb 1977 in Istanbul.

1


Der Preis für wissenschaftliche Leistungen

An einem heißen Tag im Frühjahr stand ein mittelgroßer, dunkelhäutiger junger Mann mit scheuem Blick vor dem großen Tor der Universität. Jemand verstellte ihm den Weg, dem dunklen Anzug und dem mürrischen Gesichtsausdruck nach zu urteilen ein Beamter, der wohl dachte, der schäbig gekleidete junge Mann mit dem offenen Kragen wolle in der Kühle hinter dem großen Tor Schutz vor der Hitze suchen: »Wohin des Wegs, Landsmann?« Wieso Landsmann, fragte er sich. Würdest du mir denn den Weg versperren, wenn wir Landsleute wären? »Zur Naturwissenschaftlichen Fakultät«, sagte der schwarzhaarige junge Mann und wiederholte dann, als hätte er vergessen, in welcher Stadt er war: »Zur Naturwissenschaftlichen Fakultät von Ankara.« »Ja, das ist hier, und worum gehts?« Der junge Mann steckte den zerknitterten Kragen ins Jackett und murmelte so etwas wie: »Um die Aufnahmeprüfung.« Dann hob er wieder den Kopf und schaute ihn an. Das dunkle Hindernis, das ihm das Tor versperrte, streckte seinen bevollmächtigten Arm aus, um ihm die Richtung zu weisen: Dort, die schmale Eisenpforte. Und hatte den jungen Mann auch schon wieder vergessen.

Vor den Listen mit den Prüfungsresultaten gab es ein großes Gedränge. Er wollte sich nicht unter die Leute mischen, die sich in dem dunklen Korridor herumschubsten, sondern ging ein Stück weiter, bog um die Ecke, stieß mit der Schulter eine Schwingtür auf und entfernte sich von dem Lärm und den Mutmaßungen über die erreichten Punkte, die Zahlen und Kommata.

Irgendwo dort, wo die Korridore endeten, in einer Fensternische, die von der Sonne beschienen wurde, rauchte er eine seiner billigen Zigaretten, deren Tabak immer in die Taschen seines Jacketts bröselte. Dann geriet er in einen anderen Gang, der genauso still dalag. Als er später zurückgehen wollte, hatte er sich auch schon verirrt. Wieder habe ich mich verlaufen, ärgerte er sich. Was solls, ich bin nun mal aus der Provinz. Schon »mein Landsmann« am großen Tor hat mir das an den Augen abgelesen.

Er sah sich die Schilder an den Türen an: Professorennamen auf Messingtafeln. Eine weit entfernte und schwer vorstellbare Zukunft … Im Moment hatte er noch nicht einmal den Mut, an die geschlossenen Türen zu klopfen. Er ging weiter. Schließlich war da eine helle Tür mit Glasscheiben, und schon stand er wieder unter der heißen Sonne. Er müsste das riesige Gebäude umrunden und noch einmal die schmale Eisenpforte suchen. Man muss ständig hinter den Punkten her sein, ob ich wohl mehr als dreihundert habe? Nebenan war noch ein Gebäude. Auch vor diesem Tor herrschte großes Gedränge. Und viel Aufsichtspersonal war zu sehen. Leute gingen hinein, denen man ansah, dass ihnen der Kummer um Prüfungsresultate fernlag; sie strömten regelrecht durch die Tore. Wenn du eine Menschenmenge siehst und ordentlich angezogen bist, tritt ruhig näher, denn dann darfst du hinein. Er überwand das erste Hindernis, indem er sich das Gewimmel zunutze machte. Er streckte den Hals und versuchte hineinzuschauen. »Was ist denn dort los?« Möglicherweise hatte er dabei einen älteren Mann, mittelgroß und mit Brille, zur Seite geschoben, offenbar ein höflicher Mensch, denn er gab Auskunft, als ob man ihn nicht angerempelt, sondern gefragt hätte: »Heute werden die Preise der Wissenschaftlich-Technischen Forschungsgemeinschaft der Türkei überreicht.« Der junge Mann wandte sich zu ihm um.

»Wahrscheinlich haben Sie keines meiner Worte verstanden.« So war es, und der junge Mann schüttelte auch den Kopf. »Es geht um eine Preisverleihung.« Immerhin, das hatte er begriffen. Er starrte nach unten und sah auf seine verstaubten, ausgetretenen Schuhe auf dem für die Feier blank geputzten Boden. Der ältere Herr lachte: »Das macht nichts. Jackett und Schlips müssten reichen.« Dann wechselte er sofort das Thema: »Du bist doch nicht wegen der Feierlichkeiten gekommen, oder?« Er hob den Kopf: Obwohl der Herr mittleren Alters dunkel gekleidet war, hatte er nichts von einem Aufseher an sich, und dennoch antwortete der junge Mann schüchtern: »Wegen der Aufnahmeprüfung« – und schwieg. »Hast du die Resultate schon erfahren?« Der junge Mann machte eine Handbewegung; er wollte gerade erzählen, wie er sich in den Korridoren der Wissenschaft verlaufen hatte. Dann ließ er es sein und schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nicht genau, was ich machen will.« Der ältere Herr lächelte: »Vielleicht überlegst du dir sogar, ob du zu Hause einen Laden oder dergleichen aufmachen willst.« Nein, mein Lieber, ganz bestimmt nicht. Er hatte sagen wollen, dass ihm noch nicht ganz klar war, für welche Fakultät er sich entscheiden sollte. Welche wäre am besten? Der Herr mit der Brille lachte: »Du meinst, was am lukrativsten wäre? Das wolltest du wissen? Also, meiner Meinung nach ist der Gedanke an den Laden …« Er konnte nicht weiterreden, die beiden wurden im Gewimmel von Beamten in dunklen Anzügen an den Rand gedrängt. Die Menschenmenge an der Tür geriet in Bewegung; der ältere Herr rückte den Kragen seines Jacketts zurecht und murmelte: »Der Staatspräsident kommt, um die Preise zu überreichen«, und runzelte die Stirn. »Immer wenn ich von Wissenschaft spreche, schaust du mich an, als ob du dieses Wort noch nie gehört hättest.« Wahrscheinlich waren sie so rasch miteinander vertraut geworden, weil sie Schulter an Schulter vor der Tür standen. Sie schauten sich an und lachten. Der ältere Herr meinte: »Aber wie du siehst, die Wissenschaft lockt sogar die Prominenz an.«

Der junge Mann nahm seinen ganzen Mut zusammen: »Vermutlich haben auch Sie etwas mit der Wissenschaft zu tun?« »Vielleicht«, antwortete der ältere Herr. »Außerdem trage ich eine Brille und bin so dunkel gekleidet, als ob man mich zur Feier eingeladen hätte. Was meinst du, wenn du auf vierhundert Punkte oder mehr kämst, würdest du dann auch gern zur Familie der Wissenschaftler mit der bärbeißigen Miene gehören?« Der junge Mann sagte in einem Tonfall, der im Nu die kleine Stadt in der Provinz, das Haus aus Lehmziegeln, das Milieu, die Gegend, in der er lebte, und seine ganze Herkunft verriet: »Woher solln wirn das wissen?« »Aha«, platzte der »Gelehrte« mit der Brille heraus: »Mustafa İnan redete in genau demselben Adanaer Tonfall und in diesem Dialekt, aber er machte nicht den Eindruck, als ob er sich jemals dafür geschämt hätte.« Der junge Mann mit dem dunklen Teint hielt sich die Hand vor das Gesicht, um zu verbergen, dass er sich für seinen Dialekt schämte, und fuhr sich durch das dichte Haar, das ihm in die Stirn fiel. »Mustafa İnan – wer ist das?«

Der »Gelehrte« wurde ernst: »Unser Preisträger.« Der junge Mann, der gerade erfahren hatte, dass er ein Landsmann von Mustafa İnan war, antwortete fast schon ein wenig enthusiastisch: »Mit anderen Worten, Sie kennen ihn persönlich?« Er streckte den Kopf zur Tür. »Wahrscheinlich sitzt er in der ersten Reihe. Zeigen Sie ihn mir doch mal.« »Er ist nicht da«, antwortete Mustafa İnans Bekannter. »Kommt er noch?« Der ältere Herr wurde traurig: »Nein, er kann nicht kommen.« »Warum nicht? Ist er etwa krank?« »Er war krank – vor vier Jahren etwa um diese Zeit.« Er fasste den jungen Mann am Arm. »Komm, gehen wir hinein.« Der Herr mit der Brille ging zu einem der Aufseher und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann nahm Haltung an und sagte: »Bitte sehr, Herr Professor«, dann bahnte er ihnen einen Weg durch die Menge.

Vier Jahre nach seinem Tod wurde Mustafa İnan der Preis für wissenschaftliche Leistungen verliehen:

Die Wissenschaftskommission der Wissenschaftlich-Technischen Forschungsgemeinschaft der Türkei hat in ihrer 134. Sitzung vom 9.°August beschlossen, Professor Dr. Mustafa İnan in Würdigung seiner Forschungen auf dem Gebiet der Angewandten Mechanik, die er 1944 an der Technischen Universität Istanbul aufnahm und bis zu seinem Ableben im Jahre 1967 fortführte, seines beispielhaften Wirkens in der Lehre und aufgrund der Tatsache, dass er eine Schule im modernen Sinne begründete, indem er zahlreiche junge Forscher und Wissenschaftler herangebildet hat, den Preis für Verdienste um die Wissenschaft des Jahres 1971 zu verleihen.

So stand es auf der Ehrenurkunde. »Er hat eine Schule begründet, was bedeutet das?«, fragte der junge Mann leise. »Es würde lange dauern, dir das zu erklären. Wenn es dich wirklich interessiert, können wir später darüber reden.« In diesem Augenblick ging der Staatspräsident zum Rednerpult. Als er Jale İnan, der Witwe des Professors, den Preis überreichte, sagte er: »Diese Auszeichnung hatte ich Mustafa İnan persönlich übergeben wollen. Indem ich sie Ihnen aushändige, finde ich immerhin ein wenig Trost.«

»Da haben wir nun auch Mustafas mit einer glanzvollen Zeremonie gedacht«, meinte der Professor, als sie die Gedenkfeier verließen. »In gewisser Hinsicht gibt es in seinem Leben viele herausragende Wendepunkte. Mustafa İnan hat das Gymnasium mit dem ersten Preis abgeschlossen. Mustafa İnan hat sein Studium an der Technischen Universität als Bester seines Jahrgangs – und was noch wichtiger ist – mit einem sehr guten Notendurchschnitt beendet. So einen Notendurchschnitt gibt es dort nur etwa einmal in zwanzig Jahren. Mustafa İnan hat auch seinen Doktor in der Schweiz mit glänzendem Ergebnis gemacht, an der Technischen Universität hat er den ersten Doktortitel verliehen, Mustafa İnan ist Dekan, später Rektor geworden.«

Sie gingen zusammen über den Korridor. »Willst du nicht mal einen Blick...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2016
Übersetzer Monika Carbe
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Biografie • Istanbul • Mathematik • Mustafa Inan • Naturwissenschaft • Türkei • Türkische Bibliothek • Wissenschaftsroman
ISBN-10 3-293-30604-7 / 3293306047
ISBN-13 978-3-293-30604-2 / 9783293306042
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