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Die Cavendish-Villa (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
200 Seiten
Midnight (Verlag)
978-3-95819-063-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Cavendish-Villa -  Cecily von Hundt
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Haddenford - ein behüteter englischer Ort, so meint man. Doch ein Ereignis überschattet die Geschichte des Dorfes: In den Zwanzigerjahren kamen bei einem Brand unzählige Bewohner ums Leben, der Fall wurde nie aufgeklärt. Als Jahrzehnte später neue Indizien auftauchen, nimmt sich Kommissar Mortimer Eisenhout dem Fall an - die Spuren führen in die Cavendish-Villa zu den Schwestern Alice und Florence, die damals alleine mit ihrem kleinen Bruder in dem Haus lebten. Ihre Mutter war eine Außenseiterin im Dorf, sie wohnte in der Irrenanstalt - weil sie beschuldigt wurde, auf einem Fest ihre eigenen Gäste vergiftet zu haben. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Brand? Was haben die Cavendish-Schwestern damit zu tun?

Cecily von Hundt, geboren 1974 in Düsseldorf, studierte Bibliothekswesen in Potsdam und arbeitete als freie Journalistin für BILD Berlin und die Süddeutsche Zeitung. 2004 eröffnete sie in Berlin Mitte den Buchladen Hundt, Hammer Stein. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von München.

Cecily von Hundt, geboren 1974 in Düsseldorf, studierte Bibliothekswesen in Potsdam und arbeitete als freie Journalistin für BILD Berlin und die Süddeutsche Zeitung. 2004 eröffnete sie in Berlin Mitte den Buchladen Hundt, Hammer Stein. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von München.

Kapitel 6


Der Blick aus meinem Bürofenster ist friedlich. Es geht ein leichter Wind und in der Luft hängt der Duft von Jasmin, der hier überall zwischen den Steinmauern wuchert, und auch eine kleine Note von Flieder. Der Flieder hält sich dieses Jahr lange, was daran liegt, dass es kaum geregnet hat. Die Sonne setzt ihm langsam zu und es bekümmert mich jedes Jahr, dass er so ein kurzes Leben hat. Ein rasches Aufflammen, ein Überschuss an süßem Duft und leichten Farben, die hier und da pastellene Farbkleckse in die Landschaft malen, und dann das ebenso schnelle Sterben und Vergehen. Er erinnert mich immer an unsere eigene Vergänglichkeit, den kurzen Höhepunkt, den unser Erdenleben hat, den einen viel zu kurzen Moment in der Schwebe, in dem wir im Vollbesitz unserer geistigen und körperlichen Kräfte sind, und dann das schnelle Kippen in den Herbst des Lebens, wie es so schön heißt. Ich für meinen Fall bin jedenfalls tief im Herbst angekommen. Mein Rücken protestiert, wenn ich länger als eine halbe Stunde auf meinem Drehstuhl verbringe, dabei hat Ann extra ein Geschäft für orthopädische Drehstühle ausgemacht, und sie haben das schwere Monstrum extra bis vor die Haustür vom Dezernat geliefert, aber das Hereintragen des wuchtigen Stuhls hat dazu geführt, dass mein Rücken erst recht wehgetan hat. Natürlich hätten wir die Rollen vorher anschrauben müssen, aber hinterher ist man immer schlauer. Seitdem rolle ich vom Schreibtisch zum Fenster und vom Fenster zur Kaffeemaschine, und wippe dabei auf und ab wie ein friedlicher Säugling in seiner Babyschaukel. Aber ich schweife schon wieder ab. Die Pflicht ruft und Mrs Kerry wartet auf mich.

*

Lenny ist äußerst zart für sein Alter. Seine Haut ist schuppig und an den Ellbogen und Knien hart wie aus altem Holz. Er hat eine leicht gelbliche Gesichtsfarbe und seine Augenlider sind schwer und fleischig. Kurz gesagt, wenn er nicht mein Bruder wäre, ich würde mich vor ihm zu Tode fürchten.

Nachdem sie unsere Mutter abgeholt hatten, ist etwas mit meinen Geschwistern passiert. Alice hat beschlossen, dass sie in ihrem Schlafzimmer mit den schweren, plüschigen Damastbordüren und der alten Nachttischlampe, von der es heißt, sie wäre aus Menschenhaut gemacht, am besten aufgehoben ist.

Und Lenny, nun ja … Lenny war schon immer Lenny, aber nachdem Ma fort war, hörte er auf zu wachsen. Er hörte einfach damit auf. So als hätte es keinen Sinn, erwachsen zu werden. Und wenn ich es mir recht überlege, kann ich ihm damit nur recht geben. Nur sein Kopf wuchs weiter. Wie eine große, wackelige Birne sitzt er auf seinem mageren Hals, und seine Stimme ist die eines Dreijährigen: hoch und fiepsig. In den Nächten, in denen Lenny schreien muss, einfach weil ihm danach ist oder weil ihm wieder eingefallen ist, dass Ma und Dad nicht mehr bei uns sind, da schraubt er diese Stimme in unvorstellbare Höhen.

Sein kleiner Rollstuhl mit den großen schmiedeeisernen Rädern ächzt und quietscht, als ich ihn über die Schwelle schiebe. Mrs Oterburys Ausatmen klingt so ähnlich.

»Lenny!« Sie erhebt sich, und in ihrer Stimme klingt das panische Quietschen, das jeder bekommt, der Lenny lange nicht gesehen hat, oder schlimmer noch, zum ersten Mal sieht.

»Mrs Oterbury« flüstere ich ihm zu, und Lenny legt den Kopf schief und sieht sie aus seinen gelben Augen treuherzig an.

»Hallo, hallo«, quietscht er und grinst. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich an die Dinge, die ihm in seinem kurzen Leben widerfahren sind, erinnern kann. Wenn ich sehe, wie freundlich er die Alte anlächelt, scheint mir, er hat alles ausgelöscht, was ihm in ihrem »Haus des Schreckens«, wie Ruben es nennt, ihrem Waisenhaus, zugestoßen ist.

»Wie schön, dich wiederzusehen.« Mrs Oterbury hebt die Hand, als wolle sie ihm über seine gelben, wolligen Haare streicheln, und lässt sie sofort wieder sinken, als hätte sie sich die Finger verbrannt.

»Setzen wir uns doch wieder.«

Alice‹ ruhige Stimme lässt Mrs Oterbury herumfahren, und erleichtert lässt sie sich wieder auf das Sofa plumpsen.

»Ja, ähm, das ist eine gute Idee.«

Ich schiebe Lenny an den tiefen Teetisch, und die Sonne lässt das Porträt von Ma hinter seinem Kopf in der Nachmittagssonne, die schräg durch die hohen Fenster hereinfällt, aufleuchten. Mrs Oterbury lässt ihren Blick nervös darüber huschen und wendet sich Alice zu, die meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Die Oterbury tut mir beinahe leid.

»Ja, Kinder«, sagt sie und holt tief Luft. »Da ich ja nun von Rechts wegen euer Vormund bin, bis Alice volljährig ist, bin ich verpflichtet, hin und wieder nach euch zu sehen. Nicht, dass ich das nicht gerne täte.«

Sie lacht hysterisch und Alice lächelt sie höflich an.

»Ja. Und da man euch ja nun doch recht selten im Dorf sieht, habe ich mich nun einmal wieder auf den Weg gemacht.«

Wir nicken alle drei. Genauer gesagt wackelt Lenny mit seinem riesigen Schädel hin und her.

»Nun ja. Und wir haben uns überlegt, Kinder, dass dieser Zustand, in dem ihr hier lebt … nun ja, im Grunde ja allein, also damit meine ich, ohne einen Erwachsenen …«

»Ohne Ma und Dad, meinen Sie, Mrs Oterbury?«

»Ähm, ja genau.«

Alice lächelt erneut und zwinkert mir heimlich zu.

»Also, wir sind der Meinung, dass Lenny wohl besser in meinem Waisenhaus untergebracht ist.« Sie macht eine kleine, feierliche Pause. »Ihr wisst ja wie gerne und mit vollem Herzen ich mich dem Wohl unserer armen Waisen widme… natürlich nur, bis Alice volljährig ist.«

Es ist totenstill. Kleine Staubflöckchen tanzen in der Sonne, umarmen sich vor den dunklen Mahagonimöbeln mit ihren kunstvollen Intarsien und spiegeln sich in dem blank geputzten Kristall in den hohen Glasschränken.

Lenny grinst weiter vor sich hin. Ich bin mir nie ganz sicher, was bei ihm ankommt, Alice und ich geben uns große Mühe, in seiner Gegenwart nicht über Ma und Dad zu sprechen, es regt ihn einfach zu sehr auf.

Ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt, kalt, direkt aus dem Magen, die Speiseröhre hinauf. Sie schiebt sich in meinen Kopf, direkt hinter meine Schläfen. Es ist schlecht, wenn das passiert, das weiß ich. In Gedanken sehe ich, wie sich meine Hände um Mrs Oterburys fetten Hals schließen und ihn zudrücken, dass das Fett zwischen meinen Fingern hervorquillt und ihr Gesicht rot anläuft, bis ihre Augen anfangen hervorzutreten und – paff! – zerplatzen.

»Wie äußerst aufmerksam von Ihnen, Mrs Oterbury.« Alice‘ Stimme ist so sanft wie immer. Mir ist ganz benommen zumute. »Aber glauben Sie wirklich, dass das notwendig ist? Ich glaube, Lenny fühlt sich äußerst wohl bei uns zu Hause.«

Lenny beginnt leise zu wimmern. Er schiebt sich in seinem Stuhl leicht hin und her, seine Augen werden immer größer und ihm läuft der Schleim aus der Nase. Ich lege ihm die Hand auf sein kleines Knie und flüstere ihm tröstliche Worte ins Ohr.

»Sicher, sicher, Alice. Sicher! Ihr seid ja auch wunderbare große Schwestern für ihn, wie Mütter eigentlich.« Sie unterbricht sich einen Augenblick, um sich wieder zu fangen. Wie tapfer von der kleinen, dicken Mrs Oterbury, den Weg in dieses wunderschöne Haus zu machen, in dem unsere bildhübsche Mutter an einem traumhaften Sommerabend ihren Ehemann mit ihrer selbstgemachten Limonade um ein Haar vergiftet hat. Aber eine Mrs Oterbury lässt sich nicht so einfach unterkriegen. Die Frau des Bürgermeisters – und die Leiterin des örtlichen Waisenhauses – das ist schon etwas, hier bei uns.

»Danke sehr.« Ich grinse ebenfalls und versuche, meine Wut hinter meiner Tasse Tee zu verbergen.

»Bitte sehr, Florence, bitte sehr. Ihr seid ja unschuldige Kinder, ihr könnt ja nun wirklich nichts dafür, was damals geschehen ist.«

Ich nicke versteinert und puste auf meinen kalten Tee.

»Ja, und weil wir an das Gute im Menschen glauben, wir alle.« Sie macht eine kleine Pause und starrt erschöpft vor sich hin. »Und weil wir alle im Dorf glauben, dass nichts von eurer Mutter in euch ist, haben wir beschlossen, dass wir etwas Ordnung in diesen Zustand bringen wollen. Ja. Genau.«

Lenny presst sich seine winzigen Hände auf die Ohren, sein verkrüppelter Arm steht dabei ein wenig ab, aus seiner Kehle kommt ein kleines, feines Summen, das von Sekunde zu Sekunde anzuschwellen scheint. Ich lege ihm wieder die Hand aufs Knie und drücke ein wenig zu. Das Summen wird lauter.

»Mrs Oterbury, ich fürchte, das Gespräch regt Lenny ein wenig auf.« Alice erhebt sich und weist mit der Hand in Richtung Tür. »Es ist sehr nett, dass Sie vorbeigekommen sind, um dieses Thema mit uns zu besprechen, aber ich fürchte, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«

Die Dicke erhebt sich so schnell, wie es ihr mit ihrer Leibesfülle möglich ist, und nickt mir nervös zu, während sie Lenny keines Blickes mehr würdigt. Das Summen ist mittlerweile in einen hellen, schneidenden Ton übergegangen.

»Ja, gut«, stottert sie und stöckelt auf ihren hohen Schühchen auf den Flur hinaus. »Ich wollte nur noch sagen, dass unsere Einrichtung phantastisch ist, sie ist nicht ganz günstig, nun ja, aber ich denke doch, dass ihr über ausreichende Mittel verfügt, nicht wahr?«

»Wir werden darüber nachdenken«, sagt Alice und schiebt Mrs Oterbury höflich und unaufhaltsam in Richtung Haustür.

»Nun ja, eigentlich braucht ihr euch gar nicht mehr so sehr den Kopf darüber zu zerbrechen, eigentlich haben wir das schon für euch erledigt.« Sie lacht wieder hysterisch und viel zu laut. Der Ton aus Lennys...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20er Jahre • Annis Bell • Brand • Buch 2016 • Dorf • England • Familie • Familiengeheimnis • Geheimnis • Geschichte • Gift • Irrenanstalt • Kommissar • Krimi • Midnight • Mord • Neu 2016 • Neuerscheinung 2016 • Neuerscheinungen 2016 • Roman • Schwestern • Spannung • Tod • Tot • Ullstein • Villa • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-95819-063-4 / 3958190634
ISBN-13 978-3-95819-063-4 / 9783958190634
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