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Die Jahre im Zoo (eBook)

Ein Kaleidoskop
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
400 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74229-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Jahre im Zoo -  Durs Grünbein
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Hellerau, die Gartenstadt am Rande Dresdens, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Station für Kafka, Rilke, Benn und viele andere, wird für Durs Grünbein zu einer Stätte von prägender Kraft für den eigenen Lebensweg. Von hier aus geht es hinein in das Jahrhundert: Die Schicksale der Vorfahren väter- und mütterlicherseits ebenso wie das ihm überlieferte Trauma der Zerstörung Dresdens sind Erzählungen, die tief in den Kreis seiner eigenen Erfahrungen eindringen. Über das atmosphärisch dichte Erlebnis der heimatlichen Brachen und der russischen Besatzung öffnet sich in dieser äußersten Ecke des östlichen Deutschland ein konkreter Raum des Erinnerns. So entsteht das Bild seiner Kindheit - am Rand der Geschichte in den langen Sommern des Kalten Krieges.
Freundschaften und frühes Leid, schulische Erfahrungen und erste Lektüren, Lieblingsspielzeuge, Träume, Phantasien und Phantasmen entfalten sich in einem farbenreichen Kaleidoskop aus autobiographischer Prosa, Poemen, Reflexionen und, nicht zuletzt, vielen Funden aus der reichen Bildersammlung des Dichters.



<p>Durs Gr&uuml;nbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkm&auml;chtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der &Ouml;ffnung des Eisernen Vorhangs f&uuml;hrten ihn Reisen durch Europa, nach S&uuml;dostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. F&uuml;r sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-B&uuml;chner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-H&ouml;lderlin-Preis, den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award sowie den Premio Internazionale NordSud der Fondazione Pescarabruzzo. Seine B&uuml;cher wurden in mehrere Sprachen &uuml;bersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.</p>

Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er lebt und arbeitet als Dichter, Übersetzer und Essayist in Berlin und Rom. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Peter-Huchel-Preis, den Georg-Büchner-Preis, den Literaturpreis der Osterfestspiele Salzburg 2000, den Friedrich Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt 2004 und den Berliner Literaturpreis der Preußischen Seehandlung verbunden mit der Heiner-Müller-Professur 2006. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Fischwaren


1


Aufgewachsen bin ich in einem alten Dresdner Mietshaus, das der Krieg begnadigt hatte; es gehörte jedenfalls nicht zu den zwanzig Prozent, die über Nacht wie vom Erdboden verschluckt wurden. Das graue Eckhaus, ein Gründerzeitkasten mit blatternarbigen Mauern, lag an einer der vielbefahrenen Straßen des Stadtteils, dessen Name mir später noch zwei Mal als Echo entgegensprang – aus der römischen Geschichte und aus der Literatur der Goethezeit – und also von weit her geholt schien: Cotta.

Das Haus stand als einziges seiner Art frei. An die Geräuschkulisse ringsum kann ich mich lebhaft erinnern, wenn ich die Augen schließe, in letzter Zeit kehrt sie manchmal im Halbschlaf zurück. Ein herzerfrischender Lärm lag in der Luft dieses Viertels. Es ging dort zu wie auf einer venezianischen Bühne in den Zeiten der Commedia dell'arte. Am liebsten wurde Goldoni gespielt, »Krach in Chiozza«. Jemand riß plötzlich ein Fenster auf und schrie hinaus in den Garten, in dem an langen Leinen zwischen Obstbäumen die Wäsche trocknete. Ein Preßlufthammer tanzte um den Bordstein. Oder ein Fußball knallte gegen die Brandmauer, die das Grundstück von der nächsten Parzelle trennte. Wenn die Straßenbahn um die Ecke rasselte, wurde das ganze Gebäude wach gerüttelt. Die Fensterscheiben klirrten jedesmal von den vorüberrumpelnden gelben Waggons der Linie 1, der ältesten, die schon damals eine Stadtlegende war. Nur in dem Fischladen im Erdgeschoß, an der stilleren Seitenstraße gelegen, blieb es auffällig ruhig. Vor den Mäulern der nach Luft ringenden Fische verstummte, wie unter Wasser, das Rauschen der kleinen Vorstadtwelt.

Unterm Dach lag die kleine Wohnung der Eltern, durch das Treppenhaus mit den ausgetretenen Sandsteinstufen über ein paar zusätzliche Holzstiegen erreichbar. Es war keine Wohnung, eher ein Taubenschlag. Ein langer, schlauchartiger Flur führte zu dem einzigen Zimmer, das ihnen gehörte. Küche und Bad teilten wir uns mit der Vermieterin, einer Märchengreisin, nahezu hundertjährig, mit schlohweißem Haar, seit langem Witwe: Sie hatte das Zeug zur Wahrsagerin. Das alte Weiblein hat meine Mutter einmal damit erschreckt (und nachher entzückt), daß sie im Flur vor dem Spülstein das Kind aus ihren Armen an sich heranzog und ihm aus der Hand las. Da fiel ihr das tief in den Babyspeck eingezeichnete M auf, und sie fing an, hexenhaft zu kichern, eine uralte Hexe des guten Willens.

Im Erdgeschoß wohnten die Großeltern. Sie hatten das junge Paar, das dankbar war für das Stück raren Wohnraums, in ihre Einflußsphäre gelotst, eine praktische Lösung für alle. Das klassische Trio Vater, Mutter, Kind hielt sich oft auf da unten, wo das Gemäuer und der Steinboden kälter waren, bei den Altvorderen, die weniger beengt hausten als die studentischen Turteltauben oben mit ihrer einzigen Brut.

Die Zimmer der Großeltern grenzten an die Verkaufs- und Lagerräume jenes Fischladens. Man brauchte nur dem Geruch zu folgen, einmal ums Haus herum, schon stand man vor einem Aquarium, las überm Eingang das verblichene Schild mit der Aufschrift »Fischwaren« und hatte den Hafen erreicht. Die Benennung war absichtlich so abstrakt gehalten, um die wilden Phantasien zu unterdrücken. Man fuhr nicht auf Meere hinaus bei dem Wort Waren, man war sofort eingestimmt auf die schütteren Reihen von Konservenbüchsen und Einmachgläsern voll trüber Tunke, die einen drinnen erwarteten. Daß Fisch nicht stinken darf, nicht, wenn er frisch ist, lernte ich erst in einem späteren Leben.

Der Geruch war auch der Grund für die niedrigen Mieten, die man in den davon heimgesuchten Häusern bezahlte – ein Vorteil, der den Großeltern seit den späten zwanziger Jahren, den Zeiten allgemeiner Arbeitslosigkeit, zugute kam. Damals kannten nur Zeitungsleser den Namen Hitler, aber jeder Dresdner wußte, was das Handelshaus »Paschky/Seefische« an Köstlichkeiten zu bieten hatte – das zweifache S-c-h las sich als eine Verheißung von Frische und Meeresrauschen. Noch im Jahr 1936, anläßlich der Reichsgartenschau Dresden, warb der Familienbetrieb damit, seit einem halben Jahrhundert Garant zu sein für beste Qualität. Er war der Vorläufer jenes Ladens mit dem Zeichen der Handelskette HO, denn selbstverständlich war ein Unternehmen wie dieses, geschäftstüchtig und weltmarktverbunden, beim Umsturz aller Verhältnisse, im Zuge der Landesteilung als Unternehmen vertrieben worden. Was den Geruch um kein Jodmolekül minderte.

 

Wahrscheinlich rührt daher die stille Phobie, die mich vor Fischgerichten bis heute erfaßt. Sie können so köstlich zubereitet sein, wie es der Chefkoch versteht, immer höre ich den Alarmton, wenn auf dem Teller ein Kabeljau auftaucht, eine filetierte Forelle oder ein Loup de mer mit lupenrein weißem Fleisch. Widerlich sind mir die fetten Karpfen mit ihren schartigen Moosbuckeln, die ich noch vor mir sehe, wie sie auf dem Küchenbrett aufgebahrt lagen, immer um die Weihnachtszeit, als fette Leichname, mit den vom Verröcheln weit geöffneten Mäulern.

 

An ihnen war nichts Segensreiches, es waren tote Fische, vor denen mir graute. Sie bringen mir die schmale Küche in Erinnerung, das Außenklo eine halbe Treppe tiefer und den grausigen Porzellanglanz der Badewanne im Waschabteil nebenan, in der die Karpfen die letzten Stunden lebend verbrachten, gegen die schadhafte Emaille klatschend – dieselbe, auf Vogelklauen stehende Badewanne, in der ich von Kopf bis Fuß abgeschrubbt wurde, wobei mir beim Haarewaschen der Seifenschaum in die Augen geriet. Wild strampelnd stand ich unter dem klobigen Wasserboiler, tobte und schrie, woraufhin der lärmempfindliche Großvater sich in die Küche verzog. Lange saß er dann dort, die Unterarme entblößt. Auf den linken war, knapp über den Pulsadern, ein Ochsenkopf tätowiert, sein Blau verblaßt wie das Dekor verwaschener Tischdecken. In seiner Lehrzeit als Metzgerjunge hatte er ihn sich stechen lassen, eine Jugendsünde, wie die Frauen der Familie gern lästerten. Hatte er erst einmal die Bierflasche geöffnet, konnte er sich regelrecht einrichten dort und stundenlang Audienz halten neben dem Herd mit dem gargantuesken, gurgelnden Kochtopf, in dem ein paar Fischköpfe glotzäugig schwammen. Bei einer solchen Gelegenheit muß es gewesen sein, daß er dem Fünfjährigen, die Zigarette auf dem Herdrand abgelegt, einen Schluck aus der Pilsnerflasche anbot – amüsiert, als das Kind nach der Kostprobe sich schüttelte. »Schmeckt nicht, ist bitter.«

Großvater war von Beruf Fleischhauer, ein Mensch, der den größeren Teil seiner Lebenszeit im Stehen verbracht hatte, mit dem Ausweiden geschlachteter Rinder und Schweine befaßt. Auf keine andere Tätigkeit, scheint mir, hat die Bezeichnung Schinderei jemals besser gepaßt. Wenn er nach einem schweren Arbeitstag im Schlachthof nach Hause kam, setzte er sich auf seinen müden Hintern und blieb so, in thronender Position, sitzen, bis es Zeit war, ins Schlafzimmer zu wechseln. Es war eine Angewohnheit, die er mit Erreichen des Rentenalters noch einmal ausbaute. Niemand aus der Familie hat je so ausdauernd dasitzen können wie er. In den letzten Lebensjahren hatte er es darin zur Vollendung gebracht: Aus dem Schlachtermeister war die Statue eines sitzenden Buddha geworden, freilich eines, der fast niemals lächelte.

Er konnte stundenlang ausharren auf seinem Stammplatz am unteren Ende des Wohnzimmertisches. Dieser blieb stets für ihn reserviert, mit einem Kissen im Rücken, das sein Revier markierte, dem Fernsehapparat gegenüber. Meistens lief irgendeine Tiersendung, wenn wir ihn am Nachmittag besuchten. Entweder war es der Fußball, der ihn alles ringsum vergessen ließ, oder es ging um Tiere, zumeist solche, die in Gefangenschaft lebten. Ein Zoodirektor stellte seine inhaftierten Menschenaffen vor wie entfernte Verwandte. Nicht jeder Orang-Utan war so geistesgegenwärtig, sein bekümmertes Bratpfannengesicht rechtzeitig abzuwenden. Mancher Gorilla, der es sich auf dem Autoreifen bequem eingerichtet hatte, winkte nur müde ab und vergrub die schlanken Hände im Fell. Dann schmückte sich der geschwätzige Tier-Impresario zur Abwechslung mit einem Totenkopfäffchen, das ihm auf der Schulter herumtanzte. Großvater sah sich das alles an, gab aber nie einen Kommentar dazu ab. Man konnte sagen, er hielt diesen Versuchen, sich bei den Tieren anzubiedern, eisern stand, wie einer, der ein Betriebsgeheimnis kannte, so furchtbar, daß er sich hütete, uns davon zu erzählen.

 

Es war jedesmal eine mittlere Sensation, wenn er überhaupt den Mund auftat. Alles, was über kurze Begrüßungen hinausging, lief schon Gefahr, als geschwätzig zu gelten. Er hatte einen festen Händedruck, und seine Hände erinnerten mich an die feuchtkalten, schweren Fleischpakete, mit denen er die Sippe versorgte. Seine Augen waren oft gerötet, man konnte sagen blutunterlaufen – vom Wasserdampf, dem er häufig ausgesetzt war, an den Brühanlagen im Schlachthof und von allem, was ihm entgegenspritzte, wenn er die Schutzbrille aufzusetzen vergaß. Er saß, wenn wir eintraten, auf seinem Stammplatz, wandte sich kurz um, gab uns die Hand, wobei der blaue Unterarm aufblitzte, dann starrte er wieder geradeaus, in seinem Nirwana mit dem Flimmern des Bildschirms eins. Während der Familienunterredungen, in Phasen des Klatsches, aber auch bei Anflügen echter Konversation mit meiner Mutter, behielt er immer den Fernseher im Blick.

Er sah das Elefantenjunge, noch wackelig auf den Beinen, in seinem engen Verschlag aus Bunkerbeton,...

Erscheint lt. Verlag 6.12.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Schlagworte Autobiographie • Deutschland • Dresden • Krieg • Ostdeutschland DDR • Premio Internazionale NordSud 2023 • Prosa • ST 4818 • ST4818 • suhrkamp taschenbuch 4818 • Tranströmer-Preis 2012 • Zbigniew Herbert Literary Award 2020
ISBN-10 3-518-74229-9 / 3518742299
ISBN-13 978-3-518-74229-7 / 9783518742297
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