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Das Reich der Vierzig Augen (eBook)

Roman. Memed-Romane III

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
704 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30784-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Reich der Vierzig Augen -  Ya?ar Kemal
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Die Stadtherren zittern vor dem Rebellen Memed, der die Reichen tötet und den Armen hilft. Man setzt ihm den Hauptmann Farouk und dessen furchterregenden Komplizen Ali die Echse auf die Fersen. Wer hat Memed gesehen? Wer kennt ihn? Doch für Memed sind die Legenden, die sich um ihn ranken, zum Fluch geworden. Mit der schönen Seyran möchte er in Ruhe und Frieden leben. Aber kann ein Räuber und Rebell seinem Schicksal entrinnen? Heldentaten, Intrigen und Verrat, Schreckensgeschichten, die in Städten und Dörfern umhergeistern, wilde, überwältigende Landschaften - aus diesem Stoff schöpft Ya?ar Kemal ein Epos von trunkener Schönheit, die süchtig machen kann.

Ya?ar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.

Yaşar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.

2


Der Stechdorn ist eine Pflanze der hohen, steinigen Hänge, aber auch der Steppen Anatoliens. Er wächst zu Büschen von drei bis sieben Handbreit Durchmesser in baumlosen, kahlen Bergen, in tiefen Steppen und auf Hochebenen. Manchmal stehen zehn, fünfzig oder hundert Sträucher verstreut, manchmal bedeckt er wie ein Teppich weite Strecken der öden, steinigen Erde. Teilweise stehen die Büsche eng beieinander, dann wieder verteilt mit einem bis zehn oder fünfzehn Schritt Abstand. An jedem Strauch Tausende Blattstiele, die zu spitzen Stacheln ausgewachsen sind, mindestens dreißig bis vierzig an jedem Stängel, aneinander gereiht wie Sterne. Aus dem Stamm sprießen Hunderte weitere Triebe, bedecken zu großen Kugeln ineinander gewachsen die Erde. Die Blüten entspringen langen Stängeln, die über die Dornen hinausragen.

Kaum zeigt sich der Frühling, überzieht auch das weiche, warme, zarte Grün des Stechdorns die hohen Hänge und die Steppe, als hätten sich schemenhaft pastellfarbene, helle Wolken darübergelegt. Noch sind die Blätter weich. Doch mit dem dunkelnden Grün verhärten sich die Spitzen, verholzen zu nadelfeinen Dornen. Werden die Disteln dunkelgrün, schießen die Blüten aus den Büschen empor. Und jetzt scheint es, als überzögen kaum sichtbar rosafarbene Wolkenschleier mit stahlblauen Funken Steppe, baumlose Hänge und Kämme. Die Blütenstängel, die zwischen sternförmigen Dornenblättern hervorragen, sind fünf bis fünfundzwanzig Zentimeter lang. Und an jedem wachsen zehn, zwanzig, dreißig Blüten. Sie sind sehr dunkel, sind blau gestreift und rosa und ihre Kelche so klein, dass sie kaum einer Ameise oder winzigen Biene Raum bieten. Und sie stehen so dicht, diese rosa Blumen mit den blauen Blitzen, dass die endlosen Steppen, die Hochebenen und steilen Hänge in ihren Farben funkeln. Unter den Sträuchern und zwischen den Büschen finden Insekten, kleine Vögel und andere Tiere Schutz.

Der Reiter, der mit verhängten Zügeln aus Değirmenoluk hervorpreschte, trieb sein Pferd geradewegs über das weite Flachland den sich violett färbenden Bergen zu. Als er in das dunkle Gehölz hineinritt, wuchsen schon die Schatten der Dämmerung. Er zügelte sein Pferd und verhielt eine Weile. Es raschelte überall, aus der Tiefe des Waldes drang dumpfes Grollen. Von weit her lockte in Abständen der Ruf eines Nachtvogels. Der Reiter kannte diesen Wald seit Langem, dennoch zögerte er. Ob die Gendarmen da drinnen schon im Hinterhalt lagen? Erst wenn er dieses Gelände hinter sich hatte, würde alles leichter werden. Bog er jetzt nach links ab, war die Gefahr nicht geringer. In diese Richtung kannte er kein Dorf und keine Menschenseele. Nicht anders war es zu seiner Rechten, gegen Osten. Und ins Ungewisse konnte er sein Pferd nicht treiben. Ritte er aber quer durch den Wald zur Hochebene, könnte er das Lager der turkmenischen Nomaden erreichen, vielleicht sogar das Zelt der Sippe Kerimoğlu. Dann wäre er gerettet. Auch Ali der Hinkende könnte ihn dort finden. Ganz kurz nur spielte er mit dem Gedanken, in das Dorf Koca Süleyman zurückzukehren. Doch das Gebiet war von Gendarmen längst abgeriegelt, da hatte er keinen Zweifel. Hauptmann Faruk und der Gefreite Asim konnten sich ja denken, dass er sich zu den Nomaden aufmachen würde, aber vielleicht hatten sie den Wald noch nicht erreicht. Das Pferd unter ihm war schaumbedeckt. Sein Brustkorb hob und senkte sich, es keuchte mit geblähten Nüstern. Um den Wald im Galopp zu durchqueren, gab es keinen anderen Weg als den der Vierzig Quellen. Im dichten Unterholz, auf felsigem Boden und im Gestrüpp konnte das Pferd nicht ausgreifen. Und ließe er das Tier zurück, würde er, obwohl er den Wald gut kannte, die Strecke auch in mehreren Tagen schwerlich schaffen. Er stieg vom Pferd, zurrte die Zügel um einen Strauch und setzte sich, den Rücken an eine Platane gelehnt. Das dumpfe Grollen des Waldes wurde lauter, der eintönige Ruf des fernen Vogels vermischte sich mit Rascheln und Knistern. Der Mann presste sein Ohr an die Erde und horchte nach weiteren Geräuschen. Dann, von weit her, vernahm er ein Glöckchen. Es schlug dreimal und erstarb. Der Mann, das Ohr wieder am Boden, lauschte eine Weile, konnte aber nichts mehr hören. War das die Glocke eines Kamels, eines Maultiers, eines Rindes oder eines Ziegenbocks? Er konnte es nicht ausmachen, so weit entfernt war das Geläut gewesen. Ein bisschen näher, und er hätte es mit Leichtigkeit unterscheiden können. Ihm war, als tönte die Glocke noch einmal, doch schon war es wieder vorbei. Er richtete sich auf und schaute in das weitgefächerte Geäst der Platane. Kein Hauch bewegte die Blätter. Vom dicksten und längsten Ast bewegte sich ein Zug roter Ameisen den Stamm hinunter, bahnte sich einen Weg zum nächsten Baum, unter dem sich Tannennadeln häuften. Auf den winzigen gewölbten roten Tierrücken schimmerte der schwindende Schein des Tages. Als der Mann sich wieder an die Platane lehnte, überfiel ihn der Schlaf. Durch seine zu Schlitzen verengten schweren Augenlider sah er das erschöpfte Pferd. Es hatte die rechte Hinterhand zur Hüfte hin eingeknickt, sein rostbraunes Fell kräuselte sich jetzt in schwarzen, schweißigen Zotten. Ergeben und müde ließ es den Kopf hängen, fast berührte die Mähne den Boden. Vor den Augen des Mannes erschien immer wieder das safrangelb verfärbte Gesicht Hamza des Glatzkopfs – verzerrt, zu einem Todesschrei erstarrt; riesengroß der weit aufgerissene Mund, flehte es mit hervorquellenden Augen um Gnade, erhoffte sich Hilfe von Freund und Feind, vom fliegenden Vogel, von der Ameise am Boden. Schon im Halbschlaf, dachte der Mann, wie süß doch das Leben, wie unverzichtbar es war und wie weit Menschen, vielleicht die meisten von ihnen, sich erniedrigen konnten, um es zu bewahren. War die Menschenseele es wert, sich so zu demütigen? Soll ein Mensch um jeden Preis weiterleben wollen? Fieber und Seuchen, Misshandlung, Unterdrückung, Hunger und Elend hat den Lebenswillen der Menschheit nicht brechen können, Totschlag, Mord und Gemetzel hat sie überstanden. Woher kommt diese schreckliche Kraft, dieses beharrliche Aufbäumen, diese Bereitschaft, beschämendste Demütigung zu ertragen, nur um zu überleben? Überleben wofür? Als er Hamza den Glatzkopf vor seinem Pferd durch das Dorf scheuchte, hatte dieser so hündisch flehend zu ihm heraufgeschaut, dass er es fast nicht ertragen konnte. Und er musste lange Zeit mit sich kämpfen, bis er schließlich zu der Überzeugung gekommen war, dass es Sünde sei, solch einen Unmenschen am Leben zu lassen.

Auch als er vor Safa Bey auftauchte und sagte: »Mein Name ist Ince Memed, erkennst du mich wieder?«, da verzerrte sich dessen Gesicht, weiteten und schlossen sich immer wieder seine Augen vor Entsetzen, und er starrte, wenn auch nur einen Lidschlag lang, verzweifelt um Erbarmen flehend, in die Gewehrmündung. In diesem kurzen, flehentlichen Blick lag vielleicht die tiefste Erniedrigung, die einem Menschenkind widerfahren konnte. War das Leben eine solche Demütigung wert? War es kostbarer als alles andere? Würde zum Beispiel Mutter Hürü sich im Angesicht des Todes so erniedrigen, auch wenn sie mit Sicherheit wüsste, dass man ihr daraufhin das Leben schenkte? Oder Ali der Hinkende? Er stutzte, und plötzlich schämte er sich, dass er so von ihm gedacht hatte. Was auch immer kommen mochte, der Hinkende wird sich nie und nimmer erniedrigen. Und wenn es um mein Leben ginge, überlegte er, wird Ali den Mann, der mich töten will, etwa nicht anflehen? Diesmal zögerte er, darauf fand er keine klare Antwort. Ach, wäre jetzt Ferhat Hodscha da, ihn könnte er all das fragen … Als er an den Hodscha im Gefängnis dachte, krampfte sich sein Herz zusammen. Der kleine Hodscha, dieser Mann, weich wie Seide, wie mag es ihm wohl dort ergehen? Ob sie ihn erniedrigen? Konnte Yobazoğlu sich genügend um ihn kümmern, Seyran ihm Kleidung, Geld und Essen bringen? Gleich nach seiner Einlieferung hatte sich der Hodscha das Rauchen abgewöhnt; dabei liebte er den Tabak, vergingen ihm fast die Sinne, wenn er sich eine Zigarette drehte, die Augen schloss und den Rauch in sich hineinsog … Warum hatte er wohl das Rauchen aufgegeben? Bestimmt las er da drinnen mit seiner schönen Stimme fließend und fehlerlos aus dem Koran, erklärte er den lauschenden Strafgefangenen jeden Satz der Sure. Dieser Hodscha machte keinen Unterschied zwischen Weisen und Irren, zwischen Alt und Jung. Er sprach herzlich mit jedermann, und jeder, ob weise oder irr, ob Alt oder Jung, empfing seinen Fähigkeiten gemäß das Seine mit demselben Maß an Zuwendung. Was würde Ferhat Hodscha wohl sagen, wenn er von ihm erführe? Wieder hatte er zwei Menschen getötet, musste er sich in die Berge schlagen, stand er dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Denn jetzt waren die Getöteten ihm auf den Fersen, lechzten ihre Rächer nach seinem Blut. Und was hatte er erreicht? War das Dorf Vayvay denn befreit? Würde an Stelle Ali Safas nicht ein anderer kommen und ein anderer den Platz von Hamza dem Glatzkopf einnehmen? Wozu also dieser Kampf? Und wie sollte es nun weitergehen? In diesem Augenblick wusste er ja nicht einmal, wohin. Und die Gendarmen hatten ihn vielleicht schon eingekreist. Würden die Dörfler nicht die Regierungsstellen benachrichtigen, kaum dass sie die Kuppen seiner Finger gewahrten? In weiter Ferne auf grasgrünem, schmalem Pfad zwischen stahlblau blitzendem Stechdorn, dessen Blüten wie rosafarbene Wolken schimmern, ziehen die Dörfler, unzählige, wie der Zug von Ameisen zu Tal. Einer hinter dem anderen kommen sie herunter und sammeln sich in der Ebene am Fuß des Alidağ. Ferhat Hodscha hat eine Anhöhe erklommen, trägt aus dem Koran vor und deutet das Gelesene. Dann...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2015
Übersetzer Cornelius Bischoff
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Istanbul • Memed • Memed mein Falke • Türkei
ISBN-10 3-293-30784-1 / 3293307841
ISBN-13 978-3-293-30784-1 / 9783293307841
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