Lettipark (eBook)
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403716-5 (ISBN)
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2023 bei S. FISCHER »Wir hätten uns alles gesagt«, basierend auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, die Judith Hermann im Frühjahr 2022 hielt. Dafür erhielt sie den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2023 Preis der LiteraTour Nord 2022 Bremer Literaturpreis 2022 Rheingau Literatur Preis 2021 Blixenprisen 2018 für »Lettipark« Erich-Fried-Preis 2014 Friedrich-Hölderlin-Preis 2009 Kleist-Preis 2001 Hugo-Ball-Förderpreis 1999 Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2023 bei S. FISCHER »Wir hätten uns alles gesagt«, basierend auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, die Judith Hermann im Frühjahr 2022 hielt. Dafür erhielt sie den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2023 Preis der LiteraTour Nord 2022 Bremer Literaturpreis 2022 Rheingau Literatur Preis 2021 Blixenprisen 2018 für »Lettipark« Erich-Fried-Preis 2014 Friedrich-Hölderlin-Preis 2009 Kleist-Preis 2001 Hugo-Ball-Förderpreis 1999 Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999
›Die kühle Präzision, mit der Judith Hermann diese verzweifelte Geschichte erzählt, raubt einem den Atem.‹
In 17 Kurzgeschichten schlägt sie jenen unverkennbaren Sound an, dessen Vorhersehbarkeit Risse bekommt, dessen Klang so sehnsuchtsgesättigt wie voller unerfüllter Sehnsüchte ist.
Wenn es eine Königin der Verdichtung von Sprache gibt, dann vielleicht die deutsche Erfolgsautorin Judith Hermann. [...] Das hat Rhythmus und tönt wie Musik.
Sie hat die kurze Form einfach drauf: Neues im guten, alten Hermann-Sound.
wer sich einlässt auf den Rhythmus[…], der stellt plötzlich fest, dass er sich diesen Hermannschen Figuren ganz nahe fühlt
Es ist die Kargheit dieser Geschichten, die dazu zwingt (dazu Gelegenheit gibt), markante Ein- und Vorfälle überscharf wahrzunehmen.
›Den tänzelnden, federleichten und doch melancholischen Ton, der ihre Leser in ›Sommerhaus, später‹ sofort hingerissen hat, trifft sie auch in ihrem neuen Buch.‹
eine große Hommage an das Leben
Fetisch
Als Ella vom Fluss zurückkommt, brennt hinter dem Circuswagen ein Feuer, aber Carl ist nicht zu sehen. Möglicherweise ist Carl schon wieder abgereist. Das Feuer ist sehr ordentlich, sorgfältig gegeneinandergestellte, gleichgroße Holzscheite, es qualmt nicht, brennt sauber und wird noch eine ganze Weile brennen. An den Rand der Feuerstelle, ein Kreis aus Feldsteinen, die von der Asche weiß geworden sind, hat Carl frisches Holz gestapelt, die Schnittstellen sind hell, das Holz ist leicht. Daneben liegt Reisig. Auf dem Klappstuhl an der Feuerstelle eine Decke.
Der Circuswagen ist alt, rot und blau gestrichen, die Farbe blättert ab. An der schmalen Seite führt eine Treppe zur Tür hoch, zwei Fensterchen gehen auf die Wiese raus. Um die Räder wuchern Disteln und verblühter Löwenzahn. Ella steigt die Treppe hoch und öffnet die Tür, möglicherweise hat Carl sich hingelegt; sie weiß, dass er sich nicht hingelegt hat. Das Bett ist gemacht und leer. Im Wagen ist es warm, Carl hat auch den Ofen geheizt. Die Einrichtung ist einfach, ein Klapptisch, zwei Stühle, von denen einer draußen am Feuer steht. Der Ofen in der Ecke, die Wäscheleine von einer Seite zur anderen und auf dem Bord über dem Bett ein einziges Buch, ein zerlesenes, zerknicktes »Totenschiff« von Traven. Ellas Koffer neben der Tür. Carls Rucksack ist nicht da, aber das hat nichts zu bedeuten, er nimmt den Rucksack immer mit, er lässt ihn nie aus den Augen.
Ella lehnt eine Weile an der geöffneten Tür und sieht in den Wagen hinein. Im Ofen zieht der Wind. Im Netz über dem Klapptisch wartet eine Spinne. Es riecht nach ihnen beiden. Sie macht die Tür wieder zu, steigt die Treppe runter und setzt sich auf den Klappstuhl ans Feuer. Weit weg, im Haus hinter der ungemähten Wiese, brennt schon Licht, die anderen Circuswagen, in einer Reihe, mit Abstand zueinander aufgestellt, sind dunkel. Als Carl und Ella am Mittag angekommen waren, war eine klapperdürre, bis zum Hals tätowierte Gestalt in einem Sari von der Treppe des Circuswagens neben ihrem hochgeschreckt und ins Wageninnere geflohen, als hätten sie sie bei einer elementaren Beschäftigung gestört; die Tür ist verschlossen, über der Tür dreht sich etwas im Wind, das mit Federn und Ästen geschmückt ist und von weitem aussieht wie der Totenschädel eines Tieres – ein Frettchen? Eine Ratte, ein Wiesel. Das Feuer zischt. Ella kann vom Fluss her die Vögel hören, das harte Schlagen ihrer Flügel. Graugänse, sie hatte sie auf ihrem Weg zum Fluss runter an den Uferwiesen aufgescheucht, und sie waren in Schwärmen hochgestiegen und zeternd und rufend über dem Wasser gekreist. Auf der anderen Flussseite war das Land wild und unbewohnt. In der Ferne ein Turm. Keine Menschenseele. Der Fluss war schnell, in seiner Mitte voller Wirbel und Strudel. Es war schon zu kalt gewesen, um ins Wasser zu gehen. Sie war eine Weile flussabwärts gelaufen, dann zurückgekehrt.
Also bleibt sie einfach am Feuer sitzen. Sie wird auf gar keinen Fall ins Haus rübergehen, zu den anderen rübergehen, sie kennt die anderen überhaupt nicht, diese Leute sind Leute, die Carl kennt. Er hatte Ella den anderen vorgestellt, eher knapp, er hatte es ihr selbst überlassen, sich dazuzusetzen oder wieder zurück zum Wagen zu gehen. Die klapperdürre Gestalt, von nahem besehen ein Mädchen, und ihre Tätowierungen stellten einen Schwarm von Kugelfischen mit gesträubten Stacheln dar, war unerwartet umgänglich gewesen, der extrem große Mann, dem Haus, Wagen, Wiese gehörten, auch. Leute mit einer intensiven Art, einen anzusehen. Leute mit Augen wie heiße Kohlestückchen. Barfüßige, braungebrannte Kinder, Frauen mit Amuletten um den Hals und ein blinder Greis mit einem selbstgeschnitzten Zepter. Auf dem langen Tisch standen mit Steinen gefüllte Wasserkaraffen – Amethyst und Rosenquarz, das tätowierte Mädchen hatte Ellas Frage nach den Steinen beantwortet, an ihr vorbeigesehen und die Worte kühl und bedeutsam ausgesprochen. Regenmacher in der Zimmerecke, ein Schrein für Buddha über dem Herd. Zwischen den Birken vor dem Haus waren verblasste tibetanische Gebetsfahnen gespannt. Es gab überhaupt nichts dagegen einzuwenden. Aber Ella war trotzdem zurück zum Wagen gegangen, und jetzt wird sie am Wagen sitzen bleiben, sie hat das Gefühl, dass Carl das so wollen würde, und sie hat außerdem das Gefühl, dass er irgendwo in ihrer Nähe ist und sie beobachtet. Vom Haus aus beobachtet oder von einem der anderen Wagen oder von einem Versteck zwischen den Bäumen, den unordentlich gestapelten Holzmieten aus. Wenn sie alles richtig macht, wird er wiederkommen.
Als das Feuer fast runtergebrannt ist, legt sie von dem frisch geschlagenen Holz nach. Wie Carl gelegt hat – die Scheite aufrecht, schräg gegeneinandergestellt. Das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ein Feuer am Brennen hält. Es geht besser, als sie gedacht hat, das Holz ist trocken und brennt leicht. Und trotzdem ist es schwierig, weil sie das Feuer nicht zu groß werden lassen will, sie befürchtet, wenn es zu groß wird, könnte sich jemand zu ihr gesellen, dieses Mädchen oder irgendjemand aus den anderen Wagen oder, im allerschlimmsten Fall, der Mann, dem Haus, Wagen und Wiese gehören; die Vorstellung, er könnte rüberkommen, gelassen und selbstsicher, in Filzstiefeln und mit einem Schafsfell über den Schultern, erfüllt Ella mit Unruhe. Es wäre unmöglich, mit ihm zusammen zu sein, wenn Carl wieder auftauchen würde. Sie weiß nicht, wann Carl zurückkommen wird, eigentlich weiß sie gar nicht, ob er überhaupt zurückkommen wird, aber wenn er zurückkommen und sie mit diesem Mann am Feuer sitzend finden würde – dem Feuer, das er für sie angezündet hat –, wäre das katastrophal. Also hält sie das Feuer klein. Groß genug, dass es sie wärmt, und klein genug, dass es niemanden auf sie aufmerksam machen wird. Niemanden außer Carl. Es gelingt halbwegs.
Es ist erstaunlich, wie dunkel es irgendwann wird. Es wird Nacht, und die Dunkelheit ist vollständig. Der Mond ist ölig, das Licht im Haus am Ende der Wiese ein scharf umrissenes Quadrat. Im Gras um den Wagen herum rascheln Tiere, und der Wind geht in die Bäume und lässt die Äste knacken. Ella meint, eine Tür im Haus klappen, Autos abfahren zu hören. Sie schlägt die Decke auf und wickelt sie um sich herum. Sie hört den Jungen nicht kommen, aber plötzlich ist er da. Er steht an der Feuerstelle, Ella gegenüber, und sein Gesicht sieht, von unten beleuchtet, im allerersten Moment räuberisch aus. Dann erkennt sie ihn, sie ist ihm am Nachmittag schon begegnet, er gehört zu jemandem aus den anderen Circuswagen, ein Reisender, so fremd hier wie sie selber. Er ist vielleicht sieben Jahre alt, sie kann das Alter von Kindern schwer schätzen, aber sie denkt, dass er um diese Zeit in einem Bett liegen, schlafen sollte.
Wie spät ist es denn?
Sie sagt das anstelle eines Grußes, und er zieht die Schultern hoch.
Sie sagt, willst du dich zu mir setzen, und er nickt, und sie geht und holt den zweiten Stuhl aus dem Circuswagen; offenbar hat ihr Feuer die richtige Größe für einen kleinen Jungen gehabt. Sie stellt den Stuhl neben ihren, und er setzt sich. Seine Beine baumeln knapp über dem Boden. Er sieht sofort und ernsthaft ins Feuer, als könnte es ausgehen, bevor er es richtig wahrgenommen hat, oder als befürchte er, Ella könnte ihn wegschicken, wenn er nicht richtig ins Feuer schauen würde. Es ist deutlich zu merken, dass er, im Gegensatz zu ihr, schon an vielen Feuern gesessen hat. Er ist kein Problem für Ella. Ein Junge – ein kleiner Junge mit struppigen Haaren, in Hochwasserhosen und einem Kapuzenpullover, schmutzigen Turnschuhen ohne Schnürsenkel –, so ein kleiner Junge ist kein Problem für Ella, falls Carl zurückkommen sollte.
Dann löst er den Blick vom Feuer und sieht in den Himmel hoch. Er sieht den Circuswagen, er sieht Ella aus den Augenwinkeln an. Sie reden ein wenig miteinander. Der Junge fragt Ella, wie viele Sterne es gebe, seine Stimme klingt rau und kratzig, und er fragt in einem Ton, als wüsste er die richtige Antwort sowieso.
Also, wie viele Sterne haben wir noch mal.
Ella sagt, oh, keine Ahnung. Ich hab keine Ahnung. Unendlich viele?
Der Junge sagt bestätigend, da, über uns, sind schon mal tausend. Ungefähr tausend. Dann gibt’s ja noch die Milchstraße.
Und schwarze Löcher, sagt Ella.
Ja, schwarze Löcher, sagt der Junge. Riesige, fette schwarze Löcher. Weiß kein Mensch, wie’s dahinter weitergeht. Was da drinstecken soll.
Ella zögert, dann sagt sie, aber das Universum schläft ein. Wusstest du das? Es schläft ein, die Sterne werden ausgehen. Ganz viele sind schon ausgegangen.
Den Jungen scheint diese Aussicht wenig zu überraschen. Er nickt und schweigt eine Weile, dann hebt er einen Stock auf und stochert damit in der Glut. Er legt fachmännisch etwas Holz nach. Ella findet ihn ungewöhnlich ernsthaft, erwachsen schweigsam, aber sein Gesicht ist rund und noch sehr kindlich, er ist hübsch. Unmöglich, ihn nach seinen Eltern zu fragen. Nach einer Schule, nach Geschwistern, Freunden, irgendwelchen Dingen, die er gerne macht oder nicht gerne macht. Sie wartet ab, sie hat plötzlich das Gefühl, sie sollte an und für sich alles abwarten. Wenn Carl dabei wäre, könnte sie nichts abwarten, sie könnte den Jungen gar nicht beachten, sie wäre viel zu sehr mit Carl beschäftigt.
Der Junge macht eine Weile nachdenklich das Geräusch der knackenden Scheite nach. Piff paff. Piffpaff. Er legt den Kopf schief, zieht die Schultern hoch und hustet. Dann sagt er, willst du ein Bild...
Erscheint lt. Verlag | 25.5.2016 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Drama • Einsamkeit • Erzählungen • Existenz • Freundschaft • Kurzgeschichten • Liebe • Sehnsucht • Wut |
ISBN-10 | 3-10-403716-7 / 3104037167 |
ISBN-13 | 978-3-10-403716-5 / 9783104037165 |
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