Ein fliehendes Pferd (eBook)
160 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74365-2 (ISBN)
<p>Martin Walser wurde am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. Nach seinem Arbeitsdienst erlebte er das Ende des Zweiten Weltkrieges von 1944 bis 1945 als Soldat der Wehrmacht. Nach Kriegsende machte er 1946 in Lindau am Bodensee-Gymnasium das Abitur und studierte an den Universitäten Regensburg und Tübingen Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Mit einer Dissertation zu Franz Kafka wurde er 1951 in Tübingen promoviert. Von 1949 bis 57 arbeitete er beim Süddeutschen Rundfunk. In dieser Zeit unternahm er Reisen für Funk und Fernsehen nach Italien, Frankreich, England, CSSR und Polen und schrieb erste Hörspiele. 1950 heiratete er Katharina Neuner-Jehle. Aus dieser Ehe gingen die Töchter Franziska, Alissa, Johanna und Theresia hervor. Seit 1953 wurde Walser regelmäßig zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen, die ihn 1955 für die Erzählung <em>Templones Ende</em> auszeichnete. Sein erster Roman<em> Ehen in Philippsburg</em> erschien 1957 und wurde ein großer Erfolg. Walser lebte von da an mit seiner Familie als freier Schriftsteller erst in Friedrichshafen und dann in Nußdorf am Bodensee.<br /> Martin Walser verstarb am 26. Juli 2023 in Überlingen am Bodensee.</p>
1.
Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand saß. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses Cafés seien für ihn zu klein, aber Sabine saß schon. Er hätte auch nie einen Platz in der ersten Reihe genommen. So dicht an den in beiden Richtungen Vorbeiströmenden sah man doch nichts. Er hätte sich möglichst nah an die Hauswand gesetzt. Otto saß auch schon. Zu Sabines Füßen. Er sah aber noch zu Helmut herauf, als wolle er sagen, er betrachte sein Sitzen, so lange Helmut sich noch nicht gesetzt habe, als vorläufig. Sabine bestellte schon den Kaffee, legte ein Bein über das andere und schaute dem trägen Durcheinander auf der Uferpromenade mit einem Ausdruck des Vergnügens zu, der ausschließlich für Helmut bestimmt war. Er verlegte seinen Blick auch wieder auf die Leute, die zu dicht an ihm vorbeipromenierten. Man sah wenig. Von dem wenigen aber zuviel. Er verspürte eine Art hoffnungslosen Hungers nach diesen hell- und leichtbekleideten Braungebrannten. Die sahen hier schöner aus als daheim in Stuttgart. Von sich selbst hatte er dieses Gefühl nicht. Er kam sich in hellen Hosen komisch vor. Wenn er keine Jacke anhatte, sah man von ihm wahrscheinlich nichts als seinen Bauch. Nach acht Tagen würde ihm das egal sein. Am dritten Tag noch nicht. So wenig wie die gräßlich gerötete Haut. Nach acht Tagen würden Sabine und er auch braun sein. Bei Sabine hatte die Sonne bis jetzt noch nichts bewirkt als eine Aufdünsung jedes Fältchens, jeder nicht ganz makellosen Hautstelle. Sabine sah grotesk aus. Besonders jetzt, wenn sie voller Vergnügen auf die Promenierenden blickte. Er legte eine Hand auf ihren Unterarm. Warum mußten sie überhaupt dieses hin- und herdrängende Dickicht aus Armen und Beinen und Brüsten anschauen? In der Ferienwohnung wäre es auch nicht mehr so heiß wie auf dieser steinigen, baumlosen Promenade. Und jede zweite Erscheinung hier führte ein Ausmaß an Abenteuer an einem vorbei, daß das Zuschauen zu einem rasch anwachsenden Unglück wurde. Alle, die hier vorbeiströmten, waren jünger. Schön wäre es jetzt hinter den geraden Gittern der Ferienwohnung. Drei Tage waren sie hier, und drei Abende hatte er Sabine in die Stadt folgen müssen. Jedesmal auf diese Promenade. Leute beobachten fand sie interessant. War es auch. Aber nicht auszuhalten. Er hatte sich vorgenommen, Kierkegaards Tagebücher zu lesen. Er hatte alle fünf Bände dabei. Wehe dir, Sabine, wenn er nur vier Bände schafft. Er wußte überhaupt nicht, was Kierkegaard in seinen Tagebüchern notiert hatte. Unvorstellbar, daß Kierkegaard etwas Privates notiert haben konnte. Er sehnte sich danach, Kierkegaard näherzukommen. Vielleicht sehnte er sich nur, um enttäuscht werden zu können. Er stellte sich diese tägliche, stundenlange Enttäuschung beim Lesen der Tagebücher Kierkegaards als etwas Genießbares vor. Wie Regenwetter im Urlaub. Wenn diese Tagebücher keine Nähe gestatteten, wie er fürchtete (und noch mehr hoffte), würde seine Sehnsucht, diesem Menschen näherzukommen, noch größer werden. Ein Tagebuch ohne alles Private, etwas Anziehenderes konnte es nicht geben. Er mußte Sabine sagen, daß er ab morgen die Abende nur noch in der Ferienwohnung verbringen werde. Er hätte zittern können vor Empörung! Er hier auf dem zu kleinen Stuhl, Leute anstierend, während er in der Ferienwohnung …
Ans Wasser wollte er Kierkegaard nicht mitnehmen. Das hatte er als Fünfzehnjähriger getan. Zarathustra hatte er auf dem Bauch liegend gelesen. Snob, der er war, hatte er die französische Übersetzung gelesen. Ainsi parlait Zarathustra.
Sabines Vergnügen an den Vorbeiströmenden hatte inzwischen ein Lächeln erzeugt, das sich nicht mehr änderte. Er genierte sich für Sabines Lächeln. Er berührte sie am Oberarm. Wahrscheinlich sollte man reden miteinander. Ein alt werdendes Paar, das stumm auf Caféstühlen sitzt und der lebendigsten Promenade zuschaut, sieht komisch aus. Oder trostlos. Besonders, wenn die Frau noch dieses schon seit längerem verstorbene Lächeln trägt. Helmut mochte es nicht, wenn die Umwelt sich über Sabine und ihn Gedanken machen konnte, die zutrafen. Egal, was die Umwelt über ihn und Sabine dachte, es sollte falsch sein. Sobald es ihm gelang, Fehlschlüsse zu befördern, fühlte er sich wohl. Inkognito war seine Lieblingsvorstellung. In Stuttgart mußte er erleben, wie in der Nachbarschaft und in der Schule – und zwar bei Kollegen und bei Schülern – die Kenntnis über ihn zunahm. An ihm war der Spitzname Bodenspecht hängengeblieben. Das zeigte ihm, daß er mit einer geradezu höheren Art von Genauigkeit erfaßt, durchschaut und bezeichnet war. Jedesmal, wenn ihm das Erkannt- und Durchschautsein in Schule oder Nachbarschaft demonstriert wurde, die Vertrautheit mit Eigenschaften, die er nie zugegeben hatte, dann wollte er fliehen. Einfach weg, weg, weg. Die benützten Kenntnisse über ihn, deren Richtigkeit er nicht bestätigt hatte. Sie benützten sie zu seiner Behandlung. Zu seiner Unterwerfung. Zu seiner Dressur. Die wußten ihn zu nehmen. Und je mehr die ihn zu nehmen wußten, desto größer wurde seine Sehnsucht, wieder unerkannt zu sein. Wenn jemand von ihm noch nichts wußte, war noch alles möglich. Leider hatte er das nicht immer so genau gewußt. Deshalb hatte er jene Vertrautheiten nicht verhindert. Jetzt blieb ihm nur noch die Flucht. Ein-, zweimal im Jahr. Der Urlaub eben. Im Urlaub probierte er Gesichter und Benehmensweisen aus, die ihm geeignet zu sein schienen, seine wirkliche Person in Sicherheit zu bringen vor den Augen der Welt. Unerreichbar zu sein, das wurde sein Traum. Und er hatte Mühe, die schlanke, spitze, nach allen Seiten vollkommen steil abfallende Felsenburg nicht zu einem andauernden Bewußtseinsbild werden zu lassen. Ein Überneuschwanstein wollte sich einbrennen in seine Vorstellungen. Und Wälder. Immer sah er Wälder. Sah sich durch Wälder traben. Ohne sich zu bewegen, trabte er und kam immer tiefer hinein in Wälder, die, zum Glück, kein Ende hatten. Wälder, die kein Ende haben, das ist überhaupt das Vollkommene.
Ja, hatte er denn Lehrer werden wollen? Will denn irgend jemand etwas werden? Drückte sich in dieser Sehnsucht, noch nicht erkannt zu sein, der Wunsch aus, jünger zu sein? Als er seine erste Stelle angetreten hatte, veröffentlichte er in der Schülerzeitung ein paar Sätze, die er immer noch auswendig wußte. Wenn er sich die Zeilen wieder vorführte, grinste er dazu, als müsse er einem Witz zuhören, der sein Anstandsgefühl verletzte:
Die Begeisterung des Lehrers
Es handelt sich um einen beschränkten Gegenstand, den er nicht vollkommen beherrscht, aber mit aller Kraft darbietet. Die Schüler werden von anderer Seite über den Gegenstand besser informiert werden. Aber während sie den hartnäckigen Reden des Lehrers zuhörten, haben sie etwas gelernt, was sie nicht bemerkten. Seine Lächerlichkeit ist etwas für’s Leben. Sie werden daran mit größter Andacht zurückdenken. Je tiefer der Lehrer in der Vergangenheit versinkt, desto höher wird in den Schülern die Andacht steigen.
Sein Grinsen kam wahrscheinlich von den Skrupeln, die er hatte, weil er sich dergleichen nicht einfach verschwieg.
Wie war das angenehm, vor dem Zürn’schen Haus auszusteigen, in dem sie seit elf Jahren jedes Jahr vier Wochen lang die Ferienwohnung bewohnten; zu spüren, wie man schon ganz von selbst die Rolle produzierte, die man hier spielte.
Sein Benehmen gegenüber Frau Zürn hatte sich beim ersten Aufenthalt vor elf Jahren gebildet und konnte seitdem als fertig gelten. Sie hielt ihn für heiter, gesprächig, erholungsbedürftig, blumenfreundlich, tierliebend, kindernärrisch, herzensgut …
Er hatte die Urlaubsrolle, die Frau Zürn von ihm erwartete, nicht erfunden. Er hatte lediglich sein Benehmen so eingerichtet, wie es, nach seinem Gefühl, Frau Zürn am liebsten hatte. Was dabei zustande kam, hatte mit ihm angenehm wenig zu tun. Es konnte allerdings sein, daß auch das Lächeln, das Frau Zürn, sobald er und Sabine auftauchten, produzierte, nichts mit ihr zu tun hatte. Um so besser. Ihr Mann hatte in elf Jahren nicht ein einziges längeres Gespräch mit ihm geführt. Mit Sabine schon. Er und dieser Dr. Zürn gingen als zwei ebenbürtige Geheimnisse aneinander vorbei. Zu Sabine hatte er schon gesagt, dieser Dr. Zürn sei ihm sympathischer als alle anderen Menschen. Sahen sie einander nicht sogar ähnlich? Runder Rücken, runder Bauch. Und schwer. Helmut spürte in der ein bißchen zu höflichen Zuvorkommenheit, mit der man von Zürns behandelt wurde, die ihm angenehmste Form von Distanz. Er wollte nicht wissen, was Dr. Zürn für ein Doktor sei; warum die Zürns in einem schönen Haus am Ufer immer noch eine Ferienwohnung vermieteten; so wenig wie die Zürns von ihnen wissen wollten, warum ihnen in elf Jahren nicht endlich einmal ein anderes Urlaubsziel eingefallen sei. Das Schönste an diesem Urlaubsverhältnis war die jährlich wachsende, aber völlig annäherungslose Vertrautheit zueinander. Über die Basis, daß sowohl Dr. Zürn wie auch sie vor elf Jahren einen jungen Spaniel gehabt hatten, waren sie nicht hinausgekommen. Jetzt hatten sowohl Dr. Zürns wie auch sie einen alten Spaniel. Trotzdem konnte er sich niemanden denken, dem er sich vertrauter fühlte als Herrn und Frau Zürn. Zu deren vier Töchtern hatte er allerdings die Distanz wie zur übrigen Menschheit. Ach wär’ man jetzt nur draußen bei Zürns!
Sabine sagte: Du bist doch nicht nervös. Sie sah ihn nicht an, als sie das sagte. Jemand, der sie von fern beobachtete, hätte, nach ihrem Gesichtsausdruck, geschlossen, sie habe zu ihrem Mann gesagt: Mit dir hier zu sitzen, ist sagenhaft schön. Er...
Erscheint lt. Verlag | 6.10.2015 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Adaption • Alemannischer Literaturpreis 2002 • Ausnahmesituation • Begegnung • Buch zum Film • Corine-Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten für sein Lebenswerk 2008 • Ehepaar • Ehrendoktorwürde der Kath. Universität Brüssel 1998 • Film • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998 • Georg-Büchner-Preis 1981 • Kampf • Kinofilm • Kluft • Literaturverfilmung • Männer • Martin Walser • Novelle • Pferd • Schullektüre • Segeln • SPIEGEL-Bestseller • ST 600 • ST600 • Studienfreunde • suhrkamp taschenbuch 600 • SWR-Bestenliste • Unwetter • Urlaub • Verfilmung • Zufall |
ISBN-10 | 3-518-74365-1 / 3518743651 |
ISBN-13 | 978-3-518-74365-2 / 9783518743652 |
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