Verstörung (eBook)
208 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74389-8 (ISBN)
Ein Landarzt aus der Steiermark nimmt seinen Sohn auf Visite mit, einen Tag lang. Fälle präsentieren sich, wie eine Landpraxis sie bringt, Fälle, wie sich zeigt, die jenseits medizinischer Möglichkeiten erst beginnen.
<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>
Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.
Sich mehr und mehr seiner auf die »höhere Exaltation und auf die höhere Spekulation konzentrierten Geistesmechanik« (Vater) fügend, in seinen Schwächezuständen, selbst in dem ihm im Laufe der letzten Monate zur unerträglichsten aller Qualen gewordenen Zustand in seinen von ihm ganz allein mit sich selber in seinem festverriegelten Zimmer geführten »masochistischen Diskussionen« (Vater), die er auch während des Englandaufenthaltes seines Sohnes nicht unterbrochen und, wahrscheinlich aus der Tatsache heraus, bis an sein Lebensende in Hochgobernitz existieren zu müssen, mit der größten Rücksichtslosigkeit vor allem gegen sich selbst in eine Höhe gelenkt hat, die, auf die infame Irritation konzentriert, die äußerste Anspannung seines Geistes erfordert, eine immer noch rücksichtslosere Anspannung seines Geistesvermögens, »folgerichtig in alle naturwissenschaftlichen Phänomene hinein« (Saurau), habe er diese für ihn »tödlichen Geräusche« (Vater), auch während er in der vergangenen Nacht die Memoiren des Kardinals Retz studiert hat, gehört, »hören müssen«, erinnerungsunfähig, was den Zeitpunkt, von welchem an er diese Geräusche anzuhören gezwungen sei, betrifft. Ununterbrochen höre er sie und könne nicht mehr einschlafen und fürchte sich vor diesen Geräuschen mehr und mehr. Tag und Nacht sei er in den letzten Wochen von diesen Geräuschen (»Antitypien«? [Vater]) durchdrungen, verstört, andauernd durch diese Geräusche auf die grauenhafteste Weise in seinen eigenen Tod »hineinprojiziert«.
Daß er sich genau in dem Grade, in welchem er glaubt, sich der Welt entziehen zu müssen, ihr ausliefere, sagte der Saurau: »Wir denken phantastisch und sind müde«, sagte er. In der »Perfektion der Erschöpfungsmöglichkeiten« habe der Saurau Hochgobernitz, Hochgobernitz schließlich ihn, den Saurau, verfinstert. »Die Analogien sind tödlich«, ist einer seiner immer wiederkehrenden entscheidenden Sätze.
Während seine Familie, »diese ununterbrochen infame Geistesamputation« (Saurau), die hier unter seinem Namen in Hochgobernitz herrscht und ihr »alltägliches Leben« als eine »von Hunderten und Tausenden von bestürzenden Geisteskleptomanien und mit der rettungslosen Hilflosigkeit, für die sie erzeugt ist, in erster Linie in ihre Körper und in zweiter Linie in ihre Köpfe aus den größten Entfernungen in sich hineininhaliert«, sei er, Saurau, mitten unter ihnen, in ihrer »katastrophalen Gesellschaft«, von diesen Geräuschen (»Innerirdischen Eruptionen?« [Vater]) betroffen. Getöse beherrsche ihn. Sein Gehirn (»Einbruch von Wasser in seit Urzeit Ausgetrocknetes?« [Saurau]), qualvoll als für die ganze Menschheit mißbrauchte Membran, in der diese Geräusche (»Eine Verwandlung dessen, was ist, in ein anderes, das sein wird?« [Saurau]) immer gewesen sind, empfindend, höre er diese Geräusche nicht nur, er sehe und fühle sie auch in seinem Kopf. Sein Gehirn müsse diese Geräusche (»Risse, die sich vergrößern, ein idealer Zersetzungsprozeß der Natur!« [Saurau]), »aushalten«. Beinahe alle Sätze, in die er auf einmal hemmungslos seine Qual injiziert, beendet er mit »für die ganze Menschheit«.
Die ungeheure »Gefühls- und Gesteinsgeschichte« fühle er oft »ineinanderstürzen zu völlig neuen Substanzen«, wodurch für ihn ein Prozeß sei, in dem »alles vernichtet wird, um dann endgültig zu sein«.
»Hier, von dieser Stelle aus, habe ich mit meinem Verwalter immer alles Hochgobernitz Betreffende besprochen«, sagte der Saurau, und er machte uns auf weite Strecken im Tal aufmerksam, die von dem Hochwasser, das unlängst weite Gebiete unter Hochgobernitz überfallen hat, verwüstet waren. »Während ich hier, es ist keine drei Wochen her«, sagte der Saurau, »auf und ab gegangen bin, unfähig, diese ungeheueren Hochwasserverwüstungen zu kommentieren«, sagte er, »das langsame Absinken des Wassers beobachtete, schweigsam, erschrocken, in einer zweistündigen Verstörung, Doktor«, sei ihm die zweifelhafte Existenz seines in England studierenden Sohnes zu Bewußtsein gekommen. »An dieser Stelle«, sagte der Saurau, »kommt mir immer mein Sohn zu Bewußtsein. Tatsächlich ist die Existenz meines Sohnes von der meinigen vollkommen abgetrennt.« Damals, vor drei Wochen, kurz nach dem Tod des Verwalters, hätte er, Saurau, »gegen die Natur« von dieser Stelle aus das zurückgehende Hochwasser beobachtet, mehrere Stunden, »um dann, ohne ein Wort gegen die Natur«, in die Burg zurückzugehen. Der Saurau sagte jetzt: »Mein Sohn ist in England, ich gehe hier unter.«
Bei seinem letzten Besuch, erinnert sich mein Vater, hat der Saurau, das Hochwasser kommentierend, immer das Wort »Mure« ausgerufen und von einer ihn »brüskierenden Verstandesverzweiflung« gesprochen. Immer wieder das Wort »Mure« ausrufend und in »Hochwasserbeträgen, Hochwassersummen, Hochwasserunsummen« rechnend und, weil die ganze Gegend von einem milden, aber doch »heimtückischen« Kadaververwesungsgeruch heimgesucht gewesen war – viel ersoffenes Vieh war an beiden Ufern der Ache eingeklemmt, aufgerissen, aufgebläht, zum Teil
»von der Wassergewalt tranchiert« (mein Vater), zahlreiche Stücke Großvieh aus den im Tal liegenden Saurauschen Ställen, noch nicht weggeräumt gewesen –, das Wort Verwesung, das Wort Verfaulprozeß, das Wort Diluvismus ausrufend, habe er auf einmal von einer durch die Geräusche in seinem Gehirn noch viel größeren Verwüstung in seinem Kopf als an den Ufern der Ache unten gesprochen. »Hier in meinem Kopf«, hatte der Saurau gesagt, »handelt es sich tatsächlich um eine unvorstellbare Verwüstung.«
Dieser erste Tag nach dem Hochwasser scheint meinem Vater von der größten Bedeutung für die von da an sich »mit unglaublicher Vehemenz« (Vater) vollziehende Krankheit des Saurau. »An diesem Tag sind wir beide, entsetzt von dem Ausmaß der Katastrophe, zur Ache hinunter« (Vater). Tatsächlich war das Ausmaß des Hochwassers, wie sie beide, nachdem das Wasser auf seine Normalität zurückgegangen war, festgestellt hatten, ein katastrophales. Unbegreiflich ist es dem Saurau gewesen, daß das Hochwasser gerade nach dem Tod des Verwalters hereingebrochen ist. »Gerade jetzt, wo ich ohne jegliche Hilfe bin!« habe er immer wieder ausgerufen. Zuerst hatten sie vor Erschütterung beide kein Wort miteinander sprechen können, wohl die Arbeiter am Ufer der Ache begrüßt, die mit dem Herausziehen von Holz und Kadavern aus der Ache beschäftigt gewesen sind, und sie hatten versucht, soweit als möglich zu gehen, der Saurau hatte meinen Vater ersucht, ihn nicht so schnell zu verlassen, er könne jetzt nicht allein sein. Immer wieder habe der Saurau von »Millionenschaden« gesprochen. Und wie er vorher stundenlang geschwiegen hatte, redete der
Saurau dann, als sie wieder in der Burg waren, ununterbrochen.
Der Saurau sagte jetzt zu mir: »Je intensiver ich über das Hochwasser redete, desto mehr war Ihr Herr Vater vom Hochwasser abgelenkt. Und zwar«, sagte der Saurau, »durch das Schauspiel, das wir einen Tag vor der Hochwasserkatastrophe im Lusthaus aufgeführt haben. Dieses Schauspiel, jedes Jahr ein anderes«, sagte der Saurau, »ist eine Tradition auf Hochgobernitz. Das ist das Merkwürdige«, sagte der Saurau, »und ich spreche jetzt von einer Lächerlichkeit, die doch ein Phänomen ist: in dem Augenblick, in welchem ich angefangen habe, von dem Hochwasser zu reden, hat Ihr Herr Vater von dem Schauspiel zu reden angefangen. Ihr Herr Vater war, je mehr ich mich mit dem Hochwasser beschäftigte, mehr und mehr mit dem Schauspiel beschäftigt. Ich redete vom Hochwasser und er redete vom Schauspiel.« Mein Vater sagte: »Ich habe immer gedacht, du mußt vom Hochwasser reden, habe aber vom Schauspiel geredet.« Der Saurau sagte: »Ich habe aber vom Hochwasser und nicht vom Schauspiel geredet, denn von was sonst hätte ich an diesem Tag reden sollen, wenn nicht vom Hochwasser! Ich habe naturgemäß an nichts anderes denken können als an das Hochwasser! Und Ihr Herr Vater hat an nichts anderes als an das Schauspiel gedacht. Wie ich mehr und mehr mit dem Hochwasser beschäftigt gewesen bin, war Ihr Herr Vater mehr und mehr mit dem Schauspiel beschäftigt, und in dem Grade, in welchem ich, vom Hochwasser sprechend, von Ihrem Vater, der vom Schauspiel sprach, irritiert gewesen bin, ist Ihr Herr Vater, vom Schauspiel sprechend, von mir, der ich nur vom Hochwasser sprach, irritiert gewesen. Eine ungeheuerliche Irritation!« sagte der Fürst. »Immer wieder hörte ich Ihren Herrn Vater, in meine endlose Hochwasserrederei hinein, das Schauspiel kommentieren. Das ist die unglaubliche Auffälligkeit gewesen«, sagte der Fürst, »daß ich nämlich mit dem Fortschreiten der Zeit immer mehr und von nichts anderem mehr als vom Hochwasser gesprochen habe, Ihr Herr Vater von nichts anderem mehr als vom Schauspiel. Und immer lauter hat Ihr Herr Vater vom Schauspiel gesprochen, und immer lauter ich vom Hochwasser. Laut, gleich laut, gleichzeitig gleich laut, haben wir beide, Ihr Herr Vater von einem ungeheuerlichen Schauspiel, ich von einem ungeheuerlichen Hochwasser gesprochen. Und dann«, sagte der Fürst, »ist eine Periode eingetreten, da haben wir beide nur noch ausschließlich vom Hochwasser gesprochen, und darauf eine, in welcher nur vom Schauspiel die Rede gewesen ist. Aber während wir da beide vom Schauspiel redeten, habe ich doch nur an das Hochwasser gedacht,...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2015 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Adolf-Grimme-Preis 1972 • Arzt • Franz Theodor Csokor-Preis 1972 • Georg-Büchner-Preis 1970 • Grillparzer-Preis 1972 • Krankheit • Landarzt • Medizin • Österreich • Patienten • Praxis • Prix Medicis 1988 • Roman • Selbstmord • ST 1480 • ST1480 • Steiermark • suhrkamp taschenbuch 1480 • Thomas Bernhard • Tod • Verstörung • Wahnsinn |
ISBN-10 | 3-518-74389-9 / 3518743899 |
ISBN-13 | 978-3-518-74389-8 / 9783518743898 |
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