Die Enden der Parabel (eBook)
1200 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-54481-9 (ISBN)
Thomas Pynchon wurde 1937 in Long Island geboren. Sein einziger öffentlicher Auftritt fand 1953 an der Oyster Bay High School in Long Island statt. Er studierte Physik und Englisch an der Cornell University, später schrieb er für Boeing technische Handbücher und verschwand. Seither sind seine Bücher (u.a. 'Die Enden der Parabel'; 'V'; 'Gegen den Tag') die einzigen öffentlichen Spuren seiner Existenz. Pynchon gilt als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Er lebt in New York.
Thomas Pynchon wurde 1937 in Long Island geboren. Sein einziger öffentlicher Auftritt fand 1953 an der Oyster Bay High School in Long Island statt. Er studierte Physik und Englisch an der Cornell University, später schrieb er für Boeing technische Handbücher und verschwand. Seither sind seine Bücher (u.a. "Die Enden der Parabel"; "V"; "Gegen den Tag") die einzigen öffentlichen Spuren seiner Existenz. Pynchon gilt als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Er lebt in New York. Elfriede Jelinek, geboren 1946 und aufgewachsen in Wien, hat für ihr Werk eine Vielzahl von Auszeichnungen erhalten, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Franz-Kafka-Literaturpreis. 2004 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen. Thomas Piltz, geboren 1949 in München, ist freier Fotograf und Übersetzer. Er übertrug unter anderem Werke von Thomas Pynchon, Jonathan Franzen und John Updike ins Deutsche. Ausgezeichnet mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.
Ein Heulen kommt über den Himmel. Das ist früher schon geschehen, mit diesem aber läßt sich nichts vergleichen.
Es ist zu spät. Die Evakuierung geht zwar immer noch weiter, ist aber alles Theater. Keine Lichter in den Wagen. Überhaupt nirgends Lichter. Über seinem Kopf ragt eine Stahlkonstruktion empor, alt wie eine eiserne Königin, irgendwo weit oben schimmert Glas, welches das Tageslicht durchlassen würde. Aber es ist Nacht. Er fürchtet sich vor dem Augenblick, da das ganze Glas herunterstürzen wird, bald. Das wird ein Spektakel geben: der Fall eines Kristallpalastes, jedoch in völliger Verdunkelung, ohne jeglichen Lichtschimmer, nur ein gewaltiges, unsichtbares Krachen.
Drinnen im Abteil, das in verschiedene Ebenen gegliedert ist, sitzt er in samtiger Dunkelheit. Nichts zu rauchen. Er spürt, wie Metall an Metall sich reibt, sich mit Metall verbindet, manchmal ganz nah, dann wieder entfernter, er hört Dampf in zischenden Wolken entweichen, fühlt das Fahrgestell vibrieren, ein Schwanken, ein Unbehagen – und all die anderen, die man zu ihm hineingepfercht hat, Schwächlinge, Schafe zweiter Wahl, schon jenseits von Glück und Zeit: Säufer, alte Veteranen, die noch vor Geschützen zittern, die schon seit zwanzig Jahren verrosten, kleine Gauner in städtischen Kleidern, menschliches Strandgut, erschöpfte Frauen mit mehr Kindern, als man irgend haben kann, aufgestapelt mit dem übrigen Gerümpel, alles auf dem Weg zur Erlösung. Von den Gesichtern sind nur die allernächsten zu erkennen, und auch sie nur wie halb verspiegelte Bilder in einem Sucher, grünfleckige Gesichter von VIPs, die als flüchtige Erinnerungen hinter kugelsicheren Scheiben durch die Stadt rasen …
Jetzt setzen sie sich langsam in Bewegung. Die Kolonne verläßt den Hauptbahnhof, die Innenstadt und beginnt, sich in ältere und trostlosere Viertel der Stadt vorzuarbeiten. Ist das der Weg hinaus? Gesichter wenden sich den Fenstern zu, aber keiner wagt eine Frage, jedenfalls nicht laut. Vom Himmel fällt Regen. Nein, das ist kein Freikommen, sondern ein immer heftigeres Sichverstricken – es geht in Bogengänge hinein, geheime Einfahrten aus verwittertem Beton, die nur so aussahen, als wären sie die Schleifen einer Unterführung … Gerüste aus rußgeschwärztem Holz sind langsam über ihren Köpfen vorübergezogen, imprägniert vom Geruch uralter Kohle, vom Geruch nach Naphthalinwintern, nach Sonntagen, an denen hier kein Verkehr durchkam, nach dem korallenartigen, geheimnisvoll lebendigen Wachstum um blinde Kurven herum, entlang einsamer Nebenstrecken, ein säuerlicher Geruch nach verschwundenen Wagen, nach wucherndem Rost, der durch die immer leereren Tage wächst, leuchtend und tief, vor allem zur Stunde der Dämmerung, wenn blaue Schatten seinen Weg versiegeln, um die Ereignisse auf Absolut Null zu bringen … und es wird ärmlicher, je tiefer sie vordringen … geheime Ruinenstädte der Armen, Orte, deren Namen er niemals gehört hat … Mauern brechen ein, Dächer werden seltener, die Hoffnung auf Licht schwindet. Die Straße, statt in eine breite Verkehrsader einzumünden, ist immer enger geworden, immer winkliger, hat sich immer stärker gekrümmt, bis sie alle plötzlich, viel zu früh, unter dem letzten Viaduktbogen angelangt sind: Bremsen greifen, der Wagen bockt und schüttelt heftig. Das ist der endgültige Urteilsspruch: keine Berufung.
Die Karawane hat angehalten. Endstation. Alle Evakuierten müssen aussteigen. Sie bewegen sich langsam, doch ohne Widerstand. Die Ordnungskräfte tragen bleifarbene Kokarden und sprechen nicht. Es ist irgendein riesiges, sehr altes und düsteres Hotel, eine eiserne Fortsetzung all der Schienen und Weichen, die sie hierhergelenkt haben … Kugellampen hängen, dunkelgrün gestrichen, von verzierten, schmiedeeisernen Trägern, seit Jahrhunderten unangezündet … ohne zu murren oder zu husten, bewegt sich die Menge durch Korridore, die schnurgerade verlaufen, funktionell wie die Galerien in einem Warenhaus … samtschwarze Wände fassen den Strom: Es riecht nach altem Holz, nach entlegenen Zimmerfluchten, verwaist und nur geöffnet, um diesen Ansturm verlorener Seelen aufzunehmen, nach feuchtem Stuck, wo alle Ratten verendet und nur ihre Geister, lautlos wie Höhlenmalerei, starrsinnig und erleuchtet in die Mauern gebannt sind … gruppenweise werden die Evakuierten nach oben transportiert, in einem Lift, einem Holzgerüst, das nach allen Seiten offen ist und an alten, teerigen Seilen mit gußeisernen Flaschenzügen läuft, deren Radspeichen S-förmig gekrümmt sind. In jedem braunen Stockwerk steigen Fahrgäste ein und aus … Tausende solcher schweigenden Räume ohne Licht …
Manche warten allein, andere teilen ihre unsichtbaren Zimmer mit anderen. Unsichtbar, ja, was macht denn Mobiliar noch aus in diesem Stadium der Dinge? Unter den Füßen knirscht uralter Straßendreck, letzte Kristallisationen all dessen, was die Stadt zurückgewiesen hat, womit sie ihre Kinder bedroht und belogen hat. Jeder hat eine Stimme gehört, von der er glaubte, daß sie nur zu ihm alleine spräche: Du hast doch nicht im Ernst gedacht, daß du gerettet werden würdest. Komm, komm, wir alle wissen mittlerweile schließlich, wer wir sind. Kein Mensch würde sich jemals die Mühe machen, ausgerechnet dich zu retten, alter Knabe …
Es gibt keinen Ausweg. Leg dich hin und warte, lieg still da und sei ruhig. Das Heulen hält sich am Himmel. Wird es, wenn es kommt, in Dunkelheit kommen, oder wird es sein eigenes Licht mitbringen? Wird das Licht vorher oder nachher kommen?
Aber da ist schon Licht. Wie lange ist da schon Licht? Die ganze Zeit über ist Helligkeit hereingesickert, gemeinsam mit der kalten Luft des Morgens, die jetzt über seine Brustwarzen streicht. Das Licht hat begonnen, eine Rotte besoffener Figuren aus der Dunkelheit herauszuschälen, einige von ihnen tragen Uniform, andere nicht, sie umklammern leere oder beinahe leere Flaschen. Hier hängt einer in einem Sessel, dort liegen andere zusammengedrängt in einem erloschenen Kamin oder fläzen sich auf diversen Diwans, auf nicht gesaugten Teppichen und Chaiselongues über alle Ebenen eines riesigen Raumes. Sie schnarchen und schnaufen in den verschiedensten Rhythmen, die immer wieder mal zu einem Chor zusammenfinden, während das Londoner Licht, ein winterliches, elastisches Licht, zwischen den Fenstersprossen hereinwächst und sich inmitten der verblassenden Rauchschwaden ausbreitet, die noch von letzter Nacht vor den gewachsten Balken der Decke hängen. All diese Hingestreckten hier, diese Waffenbrüder, sehen so rosig aus wie ein Haufen holländischer Bauern, die gerade von ihrer garantierten Auferstehung in den nächsten paar Minuten träumen.
Er heißt Capt. Geoffrey («Pirat») Prentice. Er ist in eine dicke Decke mit einem orange-, rost- und scharlachfarbenen Schottenmuster gewickelt. Sein Schädel fühlt sich an wie aus Metall.
Schräg über ihm, vier Meter über seinem Kopf, wird Teddy Bloat jeden Augenblick von der Galerie herunterfallen, hat er sich doch zum Hinsacken ausgerechnet den Platz ausgesucht, wo irgend jemand vor ein paar Wochen den grandiosen Einfall gehabt hat, zwei der Ebenholzpfosten aus dem Geländer herauszutreten. Nun ist Bloat in seinem Suff natürlich prompt durch die Öffnung gerutscht, sein Kopf, seine Arme und der Rumpf hängen schon über der Tiefe, und alles, was ihn oben noch festhält, ist eine leere Champagner-Pikkolo in seiner Hosentasche, die sich irgendwo verhakt hat.
Inzwischen hat’s Pirat geschafft, sich in seinem engen Junggesellenbett hochzurappeln und die Lage zu sondieren. Was für ’n Scheiß. Was für ’n verdammter Scheiß. Schon kommt von oben das Geräusch zerreißenden Stoffs. Blitzartige Reflexe hat man ihm bei der Special Operations Executive beigebracht. Er hechtet aus seinem Bett und versetzt ihm rücklings einen Tritt, so daß es auf seinen Rollen in Richtung Bloat rast. Der stürzt ab und schlägt unter vielstimmigem Gedröhn der Bettfedern quer mittschiffs auf. Ein Bein des Bettgestells knickt ab. «Guten Morgen», entbietet Pirat. Bloat grinst ihn kurz an, kuschelt sich in Pirats Decke und schläft gleich wieder ein.
Bloat ist einer der Mitbewohner dieser Wohnung nicht weit vom Chelsea-Embankment, einer Maisonette aus dem vergangenen Jahrhundert, erbaut von Corydon Throsp, einem Freund der Rossettis, der härene Kutten zu tragen und Heilkräuter auf dem Dach zu ziehen pflegte (eine Tradition, die der junge Osbie Feel in jüngster Zeit wiederbelebt hat), von denen wenige winterhart genug waren, Nebel und Fröste zu überstehen, während die meisten, Fragmente merkwürdiger Alkaloide, sich in Dacherde zurückverwandelten, genau wie der Mist eines preisgekrönten Trios von Wessex-Saddleback-Säuen, die von Throsps Nachfolger Kost und Logis erhielten, oder die welken Blätter der zahlreichen Zierbäumchen, die spätere Mieter auf das Dach verpflanzten, oder auch manch eine ungenießbare Mahlzeit, die dieser oder jener sensible Epikuräer hingeschüttet oder ausgekotzt hatte: All das war von den Messern der Jahreszeiten zu einem fußdicken Brei vermengt worden, einem unglaublich schwarzen und reichen Humus, in dem schlechterdings alles gedeihen konnte, darunter nicht zuletzt Bananen. Pirat, von der kriegsbedingten Bananenknappheit zur Verzweiflung getrieben, hatte beschlossen, auf dem Dach ein Treibhaus zu bauen und sich von einem Freund, der die Rio-Ascension-Fort Lamy-Strecke flog, ein oder zwei Bananenschößlinge organisieren zu lassen, im Tausch gegen eine deutsche Kamera, falls Pirat bei einem seiner nächsten Fallschirmeinsätze über eine stolpern würde.
Inzwischen ist Pirat berühmt geworden für seine...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2015 |
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Übersetzer | Elfriede Jelinek, Thomas Piltz |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Buchempfehlungen • Deutschland • Greater London • Kriegsroman • Lesenswerte Klassiker • London • Moderne Klassiker • Must-read Bücher • Popkultur • Postmoderne • Stilprägende Bücher • US-Literatur • V2-Rakete • Weltliteratur • ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur • Zeitgenössische Romane • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-644-54481-6 / 3644544816 |
ISBN-13 | 978-3-644-54481-9 / 9783644544819 |
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